Es ist eine jener Wahrheiten, die uns ein Leben lang begleiten. Sich an diese eine Wahrheit zu erinnern, und zwar genau dann, wenn es drauf ankommt, kann uns in Krisen weiterhelfen. Diese Wahrheit lautet: Unsere jeweils größten Probleme fühlen sich wie die absolut größten an. Ein Kind, das in die Rolle eines Kindersoldaten in Liberia oder Myanmar hineingeboren wird, betrachtet seine größten Probleme als ähnlich schlimm, wie ein verwöhntes Kind reicher Leute, das zu Weihnachten aus diesem oder jenen Grund das »falsche« iPhone-Modell geschenkt bekommt.
Apropos »reiche Leute« und »Probleme reicher Leute«: In den USA hat eine junge Dame einen Country Club in New Jersey verklagt (so berichtet foxnews.com, 31.10.2019), weil deren Kellner eine volle Flasche Wein auf sie und in die nach ihren Angaben stolze 30.000 US-Dollar teure Handtasche gekippt hatte. Seit nun einem vollen Jahr, so liest man, streitet sie mit dem Country Club, und auch ihre Versicherung soll sich schwer tun, zu glauben, dass eine Tasche so viel Geld kosten kann – dabei können Taschen von Hermès sogar sechsstellige Preise erzielen! (Siehe bbc.com, 13.6.2018) Nun, spätestens jetzt ist die Annahme widerlegt – so man sie denn je hegte – dass reiche Leute nicht wissen, was richtige Probleme sind.
Der böse Herr Gesangsverein
Doch, so tragisch das Schicksal der Dame mit der zerstörten Handtasche ist, so sehr wir mitfühlen und mitleiden, es gibt auch andere Nachrichten heute.
»Illegale Migration nimmt über neue Balkanroute wieder zu« lesen wir (welt.de, 10.11.2019). 2015 dürfe sich »nicht wiederholen«, hörte man in den letzten Jahren, doch inzwischen fragen sich Experten: »Und wenn sich der Flüchtlingsherbst doch wiederholt?« (welt.de, 11.11.2019) – Öffnen sich Europas Grenzen wieder? Nun, einige meinen: »Die Balkanroute war nie dicht.« (tichyseinblick.de, 17.10.2019)
Was ist eigentlich die »wichtigere« Meldung heute? Die von der in Wein ertränkten Luxus-Handtasche – oder die von der offenen »Balkanroute«?
Das Haus Europa kracht und kriselt von seinen Ecken her mit Deutschland als Fluchtpunkt und Fluchtziel zugleich. Was diskutieren derweil die feinen Leute in Berlin? Man diskutiert Männer, die Hafermilch trinken zur Bewältigung ihrer Midlifecrisis (zeit.de, 6.11.2019, nur für Abonnenten: »Die Hafermilchmänner«). Man diskutiert, wo und auf welchen Regalen von Frauen geschriebene Bücher stehen sollen (spiegel.de, 9.11.2019). Und auch die Politik wird nicht müde, sich um das zu sorgen, was ihr wirklich wichtig ist. Die Regierung (konkret der SPD-Finanzminister Olaf »Sorry wegen G20« Scholz) will Vereinen, die nur Männer aufnehmen, die potentielle Gemeinnützigkeit nehmen (taz.de, 10.11.2019); wir dürfen uns auf die Klagen ob der Gleichberechtigung einstellen, denn entsprechend auch Frauenvereine steuerlich schlechter als bislang zu stellen, dazu wird Herr Scholz wohl »nicht Mann genug« sein. Einst kämpfte die SPD für die Rechte der Arbeiter, heute kämpft sie gegen Männergesangsvereine. (Ob das auch für Kirchen gilt, wo nur Männer zum Geistlichen geweiht werden können? Spannend und mutig – oder ein weiterter undurchdachter Populismus-Versuch einer Zombie-Partei.)
Glücklich, selig und zufrieden?
Die Meldung von der reichen Dame, die klagt, der Kellner im Country Club habe ihr die Handtasche ruiniert, ist eine ganz vorzügliche Metapher für den Zustand der politisch-medialen Klasse.
Beispiel: Während etwa in mancher kriselnden Schule die deutsche Minderheit rassistisch beschimpft und bedrängt wird, während jüdische Kinder aus Angst die Schulen verlassen und auf dem Schulhof nicht nur zugeschlagen wird, sondern man das auch gleich via Smartphone filmt (siehe etwa morgenpost.de, 4.9.2019), drängen die Guten und Gerechten auf »Gender-Klos« und »Unisex-Toiletten«, wo teilweise sogar alle Lehrer und Schüler gemeinsam pupsen und pipimachen gehen (in Köln, express.de, 20.2.2019; ähnliche Initiativen gibt es auch in Göttingen, München, Berlin…). Das eigene jeweils größte Problem erscheint einem – wenn man nicht darüber reflektiert – auch als das absolut größte Problem.
Es ist wesentlicher Teil der Definition und des Wesens von Gutmenschen (und Haltungsjournalisten, linksgrünen »Aktivisten« etc.), die tatsächlichen Probleme auszublenden – doch anschließend sind die Guten und Gerechten keineswegs glücklich, selig und zufrieden! Jedem Menschen ist es angeboren, Probleme zu suchen und anschließend lösen zu wollen (auch darum ist Homo Sapiens so erfolgreich), und wer sich selbst dazu bewegt, geradezu fanatisch alle echten Probleme auszublenden, der denkt sich oft neue, eigene Probleme aus.
Stellen wir uns vor, ein Haus brennt, und der Familienvorstand löscht nicht das Feuer und bringt die Bewohner in Sicherheit, sondern beginnt minütlich mit neuen Debatten über die Farbe der Tapeten, über die Position des Sofas, über die Schulnoten der Kinder, all das mit dem Ziel, vom Feuer abzulenken – so in etwa ist die Lage heute in Deutschland. Die Wirtschaftsdaten flauen ab, Arbeitsplätze schmelzen weg, Hunderttausende weitere niedrig- und gar-nicht-qualifizierte Menschen planen den Weg nach Deutschland und in seine Sozialsysteme – derweil beschäftigen sich die Schönredner und Beschwichtiger mit politisch korrektem Gendering und dem Rückbau der Industrie im Namen der Moral.
Gönnen können
Ich gönne den Reichen ihre Handtaschen für Tausende von Euro. Ich gönne den Gelangweilten ihre Country Clubs mit den sicher hervorragenden Kellnern. Ich gönne Journalisten ihre feinporig geschäumten Kaffees, ihre Wohnungen in den sicheren und teuren Gegenden Berlins, fernab von sozialen Problemen außer gelegentlicher Staus der 1000-Euro-Kinderbuggies vorm Rhabarberkuchen-Café. Ich gönne den Haltungsprofis ihre exquisiten Redaktionen im nervös schlagenden Herzen Berlins. Von mir aus sollen sie ihr Weltbild so abgehoben gestalten wie ein Britischer Adliger vierter Generation, der schon im Mutterleib den kleinen Finger abspreizte, dessen Haut in der exquisiten Transparenz nur noch vom Porzellan seiner Teetassen übertroffen wird. Von mir aus sollen sich diese Leute mit Hafermilch, Frauenregalen und anderen Kuriositäten beschäftigen, von mir aus sollen sie dem lieben Gott und dessen Stellvertretern im Regierungskabinnet täglich neu danken, von mir aus sollen sie sich hundert neue Burggräben buddeln, damit sie uns, den Pöbel, auf Abstand halten (vergleiche »Angst für die Bürger, Burggraben für die Elite«) – wenn ihre schlingernde Abgedrehtheit nur die manikürten Finger von der Realität ließe!
Es ist uns Menschen eigen, das jeweils relativ größte Problem als das absolut größte Problem zu empfinden, sei es eine allzu weinselige Handtasche oder das »falsche« Gendern. (Sagt man »Müllfrau« oder »Müllmännin«? Was ist mit nicht-binären Müllentsorgungs-Fachkräften?) Die relativ größten Probleme linksgrüner Moralmacher sind nur noch lächerlich im Vergleich zu den Problemen, die seit 2015 auf die Bewohner der einfachen Wohngegenden in Deutschland zukommen.
Experten warnen, dass sich der »Herbst 2015« wiederholen könnte, wenn die Balkanroute wieder ganz offen wäre, doch das ist nicht ganz richtig. Deutschland knabbert noch immer an den Folgen von 2015 – die Menschen, die jetzt auf dem Weg nach Deutschland sind, kommen zusätzlich. Eine Wiederholung von 2015 bedeutet eine Verdopplung von 2015 – gegen das, was auf Deutschland zukommen könnte, waren die bisherigen Ereignisse relativ klein – wir dürfen gespannt sein, welche moralischen Krisen die diversen NGOs und Redaktionen schüren werden, um die neuen, doppelten Probleme zu übertönen.
Selbst zu lernen
Europa und Deutschland fahren mit Merkel (und diversen rätselhaften NGOs) einen schleudernden Slalomkurs. Solange Staatsfunk und diverse NGOs die Mehrheit der Meinungen bewegen können, gegen ihre Interessen zu wählen, gibt es wenig Anlass, zu denken, dass es ruhiger werden wird.
Es war seit nun schon Jahrzehnten selten so wichtig, als Individuum, als Familie und als Unternehmen selbst zu lernen, was Politik und Journalisten nicht lernen wollen (oder können?), nämlich erstens den Problemen ins Auge zu sehen, und dann zweitens realistisch sich dessen bewusst zu werden, wie groß die Probleme tatsächlich sind.
Unsere jeweils größten Probleme fühlen sich wie die absolut größten an. Es kann passieren, dass du es für notwendig erachtest, deine Mitmenschen zu manipulieren, diese oder jene Probleme als die jeweils größten zu betrachten. Es kann sogar passieren, dass du versucht bist, eine kleine Lüge zu erzählen. Ich habe weder das Recht oder die Autorität, dir dieses oder jenes zu verbieten.
Zwei Dinge wage ich aber zu sagen, mit aller Kraft, welche Worte wie diese überhaupt haben können!
Zuerst: Prüfe immer, wie groß das Problem, das dir am größten erscheint, wirklich ist – vielleicht ist dein größtes Problem gar nicht so groß, vielleicht ist aber auch ein anderes Problem, das du gar nicht so richtig beachtest, wesentlich größer.
Und dann: Niemals, wirklich niemals, belüge dich selbst. Um es mit den unsterblichen Worten des William Shakespeare zu sagen (Hamlet, 1. Akt, 3. Szene): »This above all: to thine own self be true« – »dies über allem: zu dir selbst sei wahrhaftig«, oder auch: »dir selbst bleibe treu«.