Ikarus, der der Sonne zu nahe kam, der ist mein Bruder und meine Schwester, und wer nicht Ikarus ist, wer sich keine Flügel anklebt und gegen alle vermeintliche Vernunft doch zu fliegen versucht, der ist es nicht. – Lasst mich erklären!
Zur Erinnerung: Daidalos und Ikarus, Vater und Sohn, gefangen im Labyrinth auf Kreta. Flucht: Flügel aus Federn und Wachs. Warnung: Sonne schmilzt Wachs, Meer macht Federn nass. Ikarus ignoriert Warnung, fliegt zu hoch. Sonne schmilzt Wachs. Ikarus stürzt ins Meer. Ertrunken.
Die Themen
Lassen Sie mich heute von den vielen Themen zwei auswählen und in Kontrast setzen – ein schreckliches und ein, äh, spannendes. (Es soll zur Illustration der Sache mit Bruder Ikarus dienen.)
Zuerst, das Schreckliche: Mehrmals die Woche, bald täglich, hören wir von brutaler, oft tödlicher Gewalt an Kindern. Mal begangen von anderen Kindern, mal von Erwachsenen. Zuletzt aus Baden-Württemberg, Hockenheim. Es scheint (so focus.de, 11.4.2023), dass eine Mutter ihre beiden Söhne, sieben und neun Jahre alt, getötet hat.
Und gleich danach, das Spannende, eine Meldung von vielen: Elon Musk hat Tausende Grafikprozessoren gekauft, um die Arbeit an Künstlicher Intelligenz voranzutreiben (businessinsider.de, 11.4.2023). Vor einem Jahr schrieb ich, dass Musk sich mit dem Twitter-Kauf eine »Privatarmee im Meinungskrieg« zulegt. Und jetzt stattet er diese Armee eben mit Robotersoldaten aus.
Das Beispiel
Das Schreckliche an der Nachricht um die toten Kinder verstehen wir »intuitiv« (ich werde aber gleich auch über die Bedeutung reden). Lassen Sie mich aber bitte einige erklärende Worte zur KI vorlegen!
Es gibt mehrere Gründe, aus welchen die meisten Menschen das Thema Künstliche Intelligenz noch immer tödlich unterschätzen. Einer davon ist: Zu viele Bürger meinen, das sei halt eine weitere Ankündigung – und sie verstehen nicht, dass der Boden unter ihren Füßen bereits weggezogen wird.
Ein konkretes Beispiel: Ich versende Newsletter, in denen ich auf den Essay des Tages hinweise. Das passiert via »Mailchimp«. Es reißt mich allerdings heraus, sich extra dafür bei deren Plattform einzuloggen. Es würde mir Arbeit sparen, wenn ich es in WordPress editieren könnte. Ich bräuchte, so dachte ich, einen Programmierer, der mir ein spezielles Plugin für WordPress schreibt, sodass ich bei jedem Beitrag eigene Datenfelder für den Newsletter editieren kann, welche dann vom System aufbereitet und an den Versender weitergeleitet werden.
Ich könnte dieses Plugin selbst schreiben. Allerdings bin ich etwas aus der WordPress-Übung, und ich würde dafür locker einen Tag brauchen, wenn nicht sogar zwei Tage. Ich könnte einen Programmierer beauftragen, und der würde mich einige Hundert Euro kosten (oder Hunderttausende, wenn ich Politiker bin und den Auftrag an die Agentur des Jugendfreundes vergebe).
Ich tat jedoch etwas anderes.
Ich fragte die künstliche Intelligenz »ChatGPT«, ob sie die relevanten Technologien kennt. Nicht nur kannte sie die Schnittstellen, sondern sie gab mir auch eine Übersicht über die Funktionsweise.
Dann schilderte ich der Künstlichen Intelligenz meine technischen Anforderungen. Innerhalb von 30 Sekunden gab die Software mir die Inhalte der notwendigen Plugin-Dateien aus, inklusive Dokumentation der Funktionen und Erklärung der »Denkarbeit« dahinter, begleitet von einer leicht verständlichen Anleitung, wie ich die Lösung einbauen kann.
Ich baute das Plugin ein, und es funktionierte auf Anhieb. Als jemand, der es gewohnt ist, dass Softwareprojekte mit Nächten an Debugging einhergehen, war das ein merkwürdiges Erlebnis.
Die Maschine hatte mich nicht so gut verstanden wie ein Mensch – sondern besser, nämlich sofort und präzise. Der Code funktioniert nicht nur perfekt, sondern ist auch »menschlicher« dokumentiert als irgendein Code, den ich je von einem Menschen gesehen habe.
Dass Maschinen den Menschen ersetzen, das ist keine »Zukunftsmusik«. Um ein relevantes Meme zu zitieren: Die Zukunft ist jetzt, alter Mann. (Wörtlich: »The future’s now old man«, siehe knowyourmeme.com.)
Die Zusammensicht
Ja, ich sehe diese beiden Themen, »tote Kinder« und »Künstliche Intelligenz«, zusammen.
Die ermordeten Kinder sind »nur« die krasseste Ausbuchtung einer Zeit, die ihre Kinder so gründlich kaputt macht, wie wohl keine Zeit seit den Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs – mitlesende Eltern sind wahrscheinlich nicht gemeint. Die Eltern, die ich meine, lesen nicht. Auf der anderen Seite kann auch die Lesekultur der Eltern nur wenig ausrichten gegen kaputte Schulen, Smartphone-Abhängigkeit, Lockdowns, Propaganda, Gehirnwäsche und antideutschen Rassismus in der Schule.
Doch schon auf basalster Ebene ist ein Angriff auf Kinder ein Angriff aufs Menschsein selbst. Es ist nicht nur ein hübscher Moralspruch, dass Kinder »unsere Zukunft« seien, es ist biologische Realität. Und wenn Kinder unter Attacke stehen, bis hin eben zu täglichen Morden, die das Volk weit weniger kümmern als etwa die Sparzinsen oder neueste TV-Castingshow-Meldungen, dann steht eben die Menschheit selbst unter Attacke.
Dazu natürlich die andere Flanke: Menschen werden bereits heute von Künstlicher Intelligenz ersetzt (siehe dazu auch mein Essay vom 1.4.2023). Insofern wir unsere Arbeitsleistung und damit realiter unsere Nützlichkeit in der Gesellschaft als Teil unserer eigenen »Menschlichkeit« ansehen, steht die Menschheit auch in dieser Hinsicht unter Attacke, und zwar durch die Formeln, also Früchte ihres eigenen Geistes (ehrlicherweise: von den Früchten einiger der klügsten Vertreter der Menschheit).
Das Wachs
Die alten Griechen gaben den Menschen zur ewigen Aufgabe: »Erkenne dich selbst!«
Verstehe die Bedingungen und Mechanismen des eigenen Denkens. Gib Rechenschaft, warum du zu diesem Schluss gekommen bist und nicht zu einem anderen.
Doch dieses Unterfangen, sich selbst zu erkennen, kann einem Ikarus-Flug gleichen.
Der Mensch, der losfliegt, um kraft seines Geistes ebendiesen zu erforschen, spürt bald das Wachs seiner selbstgezimmerten Flügel weich werden. Ist die Gödelsche Unvollständigkeit (siehe Wikipedia) der mythischen Sonne verwandt, die das Wachs unserer geistigen Ikarusflügel schmelzen lässt, wenn wir uns allzu »hoch« aufschwingen? Zumindest ist es dieser analog. Wie oben, so beim Sturz nach unten.
Die Betrachtung
Betrachten wir doch die großen Nachrichtenthemen! Im Glutherd der Krisen finden wir zuverlässig den Unwillen, sich selbst zu betrachten, als individueller Mensch wie auch als Menschenkollektiv.
In der Covidpanik scheiterten gefährlich viele Funktionäre und Menschen an der Aufgabe, auffrischend zu reflektieren, was wir aus der Geschichte gelernt haben oder eben nicht. In der Migrationskrise scheitern wir an ehrlicher Selbsterkenntnis in der Frage, ob der Erfolg von Gesellschaften und Individuen mit den Lebensphilosophien zu tun haben könnte – was bedeuten würde, dass das Verteilen von destruktiven Lebensphilosophien auf dem Globus auch die Konsequenzen verteilt (siehe Berlin / Essay vom 11.4.2023). Wir blenden aus, was heute mit Kindern passiert, vom Alltag bis hin zu Morden, als ob wir schlicht vergessen hätten, dass die kleinen Menschen das zukünftige Wir sind – oder als ob es uns egal wäre. Und wir ignorieren, dass vieles von dem, was wir bislang für originär menschlich hielten, wie etwa Kreativität und komplexes Denken, bereits von Maschinen erledigt wird, und zwar besser.
Es ist heute nicht mehr bloß »intellektuell interessant«, in sich zu gehen und zu erforschen, was uns als Gruppe und als Individuen ausmacht – es ist heute überlebenswichtig.
Die Ehrlichkeit
Ich mache mir keine Illusionen: Die ehrliche Introspektion, die Suche nach dem Menschlichen im Menschen, diese Mühe ähnelt schnell dem Flug gefährlich nah an der Sonne, und das Wachs unserer Flügel kann schmelzen. Und doch erscheint mir heute jede andere Mühe als Zeitverschwendung.
Es steht jedem offen, die Ereignisse dieser Zeit zu nutzen, um »in sich zu gehen«, um die Bedingungen des eigenen Denkens und logischen Schließens zu untersuchen – und um neu nachzuziehen, was Menschlichkeit für ihn bedeutet.
Der Schluss
Denken darf jeder – warum tun es nur so wenige?! Ach, Denken ist anstrengend. Denken kann zu schmerzhaften Erkenntnissen führen. Und sehr mächtige Player haben ein sehr aktives Interesse daran, dass wir das Denken unterlassen.
Es ist durch Anekdoten wie auch durch wissenschaftliche Psychologie belegt, dass das Nachdenken übers Menschliche den Menschen »abstürzen« lassen kann (siehe die Geschichten zahlreicher Künstler, aber auch Artikel wie scientificamerican.com, 5.12.2017).
Doch will man wirklich, nur weil man abstürzen könnte, gar nicht erst den Boden verlassen?
Die, die gegen alle kurzsichtige »Vernunft« eben doch denken und sich erkennen, die können gefährlich nahe an die »Sonne« fliegen, können zu Einsichten über »die Menschen« gelangen, die sie »abstürzen« lassen.
Jedoch: Nicht immer ist der Boden, auf dem du bleibst, auch ein Boden der Tatsachen. Wenn der Boden zu Lava wird, ist in der Luft zu sein deine beste Chance, überhaupt zu überleben.
Die Menschen sind frei, auch frei darin, nicht zu ergründen, was Menschsein heute bedeutet.
Die Menschen, die sich heute gegen alle Schwere und Trägheit eben doch aufschwingen und über ihr »Menschsein« nachdenken, sie sind ein jeder ein »Ikarus« – und sie sind meine Brüder. Und Schwestern. Und sympathische Leute sowieso.