Heute Morgen, als wir in seinem Zimmer saßen und den Tag besprachen, sagte Leo spontan: »Heute ist der Himmel besonders schön!«
Es war wahr. Es freute mich, dass Leo es bemerkte – und auch aussprach.
Dann, draußen, sah ich eine kleine, berührende Szene. An den Recyclingcontainern hatte ein Straßenfeger eine Pause eingelegt. Sein Wagen mit Besen, Schaufel und Tonne stand neben ihm.
Der Straßenkehrer hatte sein Smartphone gezückt und auf den Himmel gerichtet. Er nahm ein Foto des Sonnenaufgangs auf. Mein Herz schmolz ein wenig, und mich erfasste so etwas wie Hoffnung. Ich dachte: Solange Straßenkehrer ein Foto vom Sonnenaufgang nehmen, ist Polen noch nicht verloren. (Letzteres ist übrigens tatsächlich der Beginn der polnischen Nationalhymne: »Jeszcze Polska nie zginęła« – »Noch ist Polen nicht verloren«.)
Das iGebet
Früher haben die Menschen vor dem Essen gebetet. Manche tun es noch immer. Heute nehmen sie ein Foto ihres Essens auf. Eine Motivation dafür ähnelt dem Gebet, so will ich glauben: Dankbarkeit. (Die andere Motivation ist die Möglichkeit, online mit diesem Essen anzugeben. Ob wohl auch das eine Entsprechung beim Gebet hat?)
In dieser Deutung aber passte die Fotopause des Straßenkehrers perfekt zum Thema, über welches ich dieser Tage nachdenke: Wir brauchen ein neues Morgenritual, ein neues Morgengebet.
Wenn praktizierende Juden ein besonders beeindruckendes Naturphänomen erleben, sprechen sie das Gebet »Oseh Maaseh Beresheet«. Sie preisen Gott (seinen Namen umschreibend, klar), der »das Schöpfungswerk vollbringt«.
Der Straßenkehrer heute Morgen tat doch Ähnliches! Er bemerkte die außergewöhnliche Schönheit des Sonnenaufgangs. Er legte eine Pause ein, und er würdigte die Schönheit mit dem für spontane, allgemeine Dankbarkeit üblichen Ritual: einem spontanen Smartphone-Foto.
Ich notierte lächelnd die Szene, um die Freude daran mit euch zu teilen. Hiermit getan. Ich beauftragte die KI mit dem Bild zu diesem Text und wandte mich gedanklich wieder dem Thema »Morgengebet, das eigentlich kein Gebet ist« zu.
Erstes Bemerkenswertes
Gestern, im Essay »Der Anfang des Anfangs«, stellte ich fest, dass ein neues Morgengebet beginnen sollte, noch während die Augen geschlossen sind: »Gleich, wenn ich die Augen öffne …«
Ich habe darüber nachgedacht. Und mir fiel auf: Eigentlich ist das Öffnen der Augen nicht das erste buchstäblich bemerkenswerte Ereignis des Tages.
Vorher hat eine andere Art des Augenöffnens stattgefunden. Bevor wir die Augen öffnen, kamen wir zunächst zu Bewusstsein.
Ich sollte unser »Ritual ohne Ritual« erweitern: um Dankbarkeit! Oder zumindest: Bewusstwerdung.
Des Bewusstseins bewusst
Dankbarkeit dafür, dass ich wieder zu Bewusstsein gekommen bin. Und weil »Dankbarkeit« ein zu großes Wort ist, zu früh am Tag, dann wollen wir es doch zumindest zur Kenntnis nehmen. Oder poetischer: Ich will mir des Bewusstseins bewusst werden.
Ich will dem neuen Ritual voranstellen: »Ich bin heute wieder zu Bewusstsein gekommen«.
»Wieder« impliziert, dass es auch an den meisten Tagen zuvor passierte. Und natürlich, dass der Tag kommen wird, an dem es nicht passieren wird.
Das sollen die ersten beiden Zeilen meines neuen Rituals sein: »Ich bin heute wieder zu Bewusstsein gekommen. Gleich, wenn ich die Augen öffne …«
Ich bin zufrieden soweit. Und ganz im Geist von Gebeten und Dankbarkeit und allgemeinem Wohlsein: Ich bin dankbar für den Straßenkehrer, der heute Morgen seine Arbeit unterbrach, um ein Foto vom Sonnenaufgang zu nehmen.