Ich habe letztens einen Journalisten etwas sagen hören, das war rundheraus gelogen, und mir stockte für eine Sekunde der Atem. Ich musste – wie so unangenehm häufig dieser Tage – an jenes Zitat denken, was bisweilen Alexander Solschenizyn zugeschrieben wird, das aber im Original von Elena Gorokhova stammt: »Sie belügen uns, wir wissen, dass sie lügen, sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen, aber trotzdem lügen sie weiter, und wir tun weiter so, als würden wir ihnen glauben.«
Mich schockierte an dieser Journalistenlüge nicht »nur« die Tatsache, dass ein Mensch vermutlich wissentlich und im Dienst des Propagandastaates eine böse Unwahrheit sagte – mich schockierte die Selbstverständlichkeit und damit Schamlosigkeit.
Es waren bessere Zeiten
Kommt das Schamgefühl den Journalisten solchen Schlages im Laufe ihrer journalistischen Karriere abhanden, oder ist der Mangel an Scham bereits die Einstellungsvoraussetzung? Ich weiß es nicht.
Ich weiß aber: Es waren bessere Zeiten, als Menschen sich noch schämten. Es ließe sich auch sagen: Es waren bessere Zeiten, als Menschen sich noch sicher waren, was gut ist und was böse.
Es waren bessere Zeiten, als Journalisten noch nicht schamlos logen, als sie noch Gegner und nicht Ausputzer der Politik waren, als sie noch nicht ganz so öffentlich für politisch nützliche Schamlosigkeit mit Orden behängt wurden.
Es waren auch bessere Zeiten, als öffentliche Schamlosigkeit sexueller Spezialinteressen noch nicht vom Staat gefördert wurde, ganz offensichtlich, um das öffentliche Schamgefühl zu brechen.
Es waren bessere Zeiten, als Schüler sich für ihr Versagen bei Klassenarbeiten schämten und dann umso härter lernten, statt dass Eltern und Schulen daraufhin die Lehrer angingen.
Es waren gesündere Zeiten, als Menschen sich für ihr Übergewicht schämten, woraufhin sie Sport machten und ihre Portionen begrenzten. Heute wird dir tatsächlich, wenn du einem Dicken zu mehr Bewegung rätst, »fatshaming« vorgeworfen – doch dafür ist die Scham ja da, nämlich eine Besserung zu erzielen!
Es waren bessere Zeiten, als bei Schweinereien erwischte Politiker sich noch schamvoll zerknirscht gaben und dann zurücktraten – heute sind selbst die beschämendsten Skandale kein Hindernis für hohe und höchste Ämter.
Ich will also nach dem verlorenen Schamgefühl suchen, und ich will hierfür bei Adam und Eva beginnen!
Und sie waren beide nackt
Die Bibel beschreibt den Anfang des Schamgefühls, der sich recht präzise mit einer evolutionären Logik der Scham in Einklang bringen lässt, aber solch kalte Logik doch um wichtige Deutungsebenen erweitert.
Bevor sie sich zu schämen lernten, lebten Adam und Eva im Garten Eden. Sie arbeiteten dort als Taxonomen, »denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen« (1. Mose 2:19f).
Adam und Eva waren beide nackt«, so lernen wir in 1. Mose 2:25, doch sie »schämten sich nicht.«
Als Adam und Eva aber die einzige Regel brachen, die ihnen gegeben worden war, nämlich von einem bestimmten Baum nicht zu essen, da wurden sie aus dem Paradies verbannt – ab da mussten sie so wirklich arbeiten. Nicht mehr bloß nackig herumlaufen und Tierarten klassifizieren, sondern den Acker pflügen, Kinder gebären – und alles im Schweiße ihres Angesichts.
Wer hat dich Scham gelehrt?
Mit dem Sündenfall entdeckten Adam und Eva auch das Schamgefühl. Den beiden wurden »die Augen aufgetan«, und sie stellten fest, dass sie nackt waren. Und sie flochten sich notwürdige Schurze aus den heute sprichwörtlichen Feigenblättern.
»Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?«, so fragt Gott den Menschen. Wir könnten auch formulieren: »Wer hat dich Scham gelehrt?«
Spottet der himmlische Vater über seine eigenen Geschöpfe? Lacht er über deren Leiden und Versagen an Umständen, die er doch selbst schuf? Nein, das wäre ja grausam.
Gott scheint hier vielmehr auf Gesetzmäßigkeiten hinzudeuten, denen die Geschöpfe genauso wie er selbst unterworfen sind. Selbst wenn man wie ich ein Atheist ist, aber – anders als ich – nicht aus der Atheisten starrer Begriffswelt höherer Erkenntnis halber auch mal entfliehen kann oder will, so dürfte man »Gott« hier etwa mit »die Gesamtrealität einschließlich ihrer immanenten Regeln« definieren. Und dann könnte man sagen: Die Realität besteht aus ihren Regeln, und also ist die Realität ihren Regeln unterworfen, und das macht sie nicht weniger, sondern unendlich mehr real (elevatum: »göttlich«).
Nicht wie Steine oder Engel
Die Nacktheit Adams und Evas steht für den vollständigen Einklang des Menschen mit Gott – oder: mit den Regeln der Realität. Am Augenblick aber, da er gegen die Regeln verstößt, steht dieselbe Nacktheit plötzlich für das Gegenteil, nämlich die Trennung und den Verstoß – in der Bibel dargestellt als Vertreibung aus dem Paradies.
Der Mensch ist befähigt, gegen Gottes Regeln – oder: die Regeln der Realität – zu verstoßen. Diese Fähigkeit ist Teil seines freien Willens. Der freie Wille unterscheidet den Menschen von den Steinen, die den Berg hinabkullern, wie auch von den Engeln.
Doch der Mensch wäre ohne Chance, die Regeln allein Kraft seines Geistes zu erkennen und dann Kraft desselben Geistes auch noch in seinem Handeln umzusetzen. Auch wenn der Mensch sich von Gott / den Regeln der Realität trennte, wenn er sich von der göttlichen Nabelschnur losrisse, so bliebe doch ein blutender Bauchnabel, der ihn erinnern soll – und dieser ist das Schamgefühl.
Im Deutschen kennen wir die Redeweise: »Wer nicht hören will, muss fühlen.«
Diese Redeweise beschreibt den Zweck des Schamgefühls: Der Mensch im Stamm, der gerade nicht über die Muße zur intellektuellen Einsicht in die Regeln der Gruppe verfügt, soll die Missachtung der Regeln fühlen, soll sich für Übertritte schämen und soll zum Wohl des Stamms und damit der gemeinsamen DNA handeln, schon um das Schamgefühl zu vermeiden.
An dem Tage
Der Baum, von welchem Adam und Eva nicht essen durften, hieß der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, so 1. Mose 2:17.
Wenn sie aber doch von diesem Baum essen würden, so warnte Gott sie, würden sie danach der Sterblichkeit des Menschen unterworfen werden. Es war aber die Schlange, die Adam und Eva zusätzlich auf die Implikation des Namens dieses Baums hinwies: »Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: An dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« (1. Mose 3:4-5)
Die Schlange log auf gleich doppelte Weise nicht. Die Sterblichkeit der Menschen war zwar besiegelt, als sie vom Baum der Erkenntnis aßen, doch nicht sofort – zunächst wurden dem Menschen die Augen aufgetan.
Der Mensch wusste von da an, was gut ist und was böse … und er schämte sich seiner Nacktheit, und seine Nacktheit vor Gott war eine seelische Nacktheit, ein Ausgeliefertsein. Indem er gegen eine Regel verstieß, war er von da an für alle Regelverstöße verantwortlich. Die Scham von Adam und Eva war eine stellvertretende Scham für alle folgenden Verstöße der Menschen – und ihre Feigenblätter auch für alle unsere »Feigenblätter«, hinter denen wir unsere Vergehen verstecken möchten.
Wo es kein Gut und Böse gibt
Im Buch »Relevante Strukturen« beschreibe ich die Abhängigkeit unserer ethischen Begriffe von der unterschiedlich empfundenen Relevanz von Strukturen, in die wir eingebunden sind (wie Familie, Stamm oder Ideologie). Der ideale Zustand aber, den man schon mal mit Glück beschreibt, ist erreicht, wenn diese Strukturen wie konzentrische Kreise angeordnet sind.
In einem wirklich paradiesischen Zustand, in einem Zustand echter Ordnung und vollkommenen Glücks, da existiert schlicht keine Notwendigkeit für ethische Begriffe wie Gut und Böse.
Im Paradies existiert kein Böses, und damit keine Scham. (Es ist kein Zufall, dass zwei Liebende in ihren glücklichsten Momenten keine Scham voreinander empfinden, weder körperlich noch seelisch.)
Doch das Paradies ist nicht der einzige Ort ohne Schamgefühl – der andere schamlose Ort ist die Hölle.
Es hat seinen Grund und es ist auf metaphorische Weise richtig, dass die Symbolgemälde alter Meister die Insassen der Hölle nackt malten.
Das Schamgefühl ist die Warnung unserer Seele, dass wir uns gerade auf gefährliche Art außerhalb höherer Regeln und Gesetzmäßigkeiten bewegen. Etwas tief in uns will doch zurückkehren, und wir sind zerrissen. Im Paradies wie auch in der Hölle aber, da kennen die Menschen kein Schamgefühl, weil an beiden Orten nicht um Gut und Böse gerungen wird.
Ohne Scham sind nur das Paradies und die Hölle; alles dazwischen braucht ein Schamgefühl. Genau so aber erklärt es sich, dass sich heute derselbe Zustand für die einen Menschen wie der Vorhof zur Hölle anfühlt, während andere sich mit geradezu paradiesischem Wohlgefühl der großen Schamlosigkeit suhlen.
Was Journalisten, Politikern und Lügnern wie das Paradies vorkommen mag, das kann einem, den die Lüge schmerzt, der sein Volk liebt und der seinen Kindern echtes Glück wünscht, geradezu höllische Schmerzen bereiten.
Bin ich die Ausnahme
Man kann einem Menschen die Augen ausstechen, dann ist er blind. Eine Explosion kann dem Menschen das Trommelfell und die Gehörknöchelchen zerstören, dann ist er taub. Ähnlich kann einem Menschen alles Mitgefühl verloren gehen, dann ist er ein Psychopath. Oder alle Moral, dann ist er ein Soziopath.
Manche dieser Behinderungen verschließen den Betroffenen bestimmte Berufswege, für andere Berufswege scheinen bestimmte Behinderungen zwingende Voraussetzung zu sein.
Ähnlich also, wie Menschen ohne Gewissen oder ohne eine natürliche Liebe zur Wahrheit »leben« können, so wurde und wird in bestimmten »modernen« westlichen Ländern der Gesellschaft und damit den Bürgern (oder: Untertanen) das Schamgefühl abtrainiert.
Wenn ich wieder einmal einen Journalisten sehe, der ohne Scham lügt, dann bin ich wohl eine Ausnahme darin, dass ich mich fremdschäme, dass ich Scham empfinde, wo der Mensch, dessen Name auf dem Presseausweis steht, sie empfinden sollte.
Paradies oder Hölle
Die Scham lässt den Menschen fühlen, dass, selbst wenn er gegen höhere Regeln und ewige Ethik verstößt, diese Regeln eben doch noch für ihn gelten. Wessen Schamgefühl noch nicht ganz verödet ist, der versucht zumindest, sich »keine Blöße zu geben«, der verheimlicht sein Vergehen »verschämt«, und das Schamgefühl soll ihn dazu anleiten, es beim nächsten Mal besser zu tun.
Wo Schamgefühl herrscht, da besteht noch Hoffnung, dass es besser wird.
Wo aber kein Schamgefühl herrscht, da ist entweder bereits das Paradies eingetreten oder schon die Hölle in Sichtweite.
Ich bemühe mich redlich, doch ich vermag in lügenden Journalisten wenig paradiesisch Engelhaftes zu entdecken. So mancher politiknahe und also reich mit Preisen behangene Journalist gleicht weniger einem himmlischen Engel als vielmehr einem Dämon, einem Vorboten der Hölle – und als solcher ist er dann entsprechend schamlos.