Präsident Selenskij führt das postsowjetische Herrschaftssystem einfach fort und verliert dramatisch an Zustimmung im Land, so hieß es am 25. Februar nicht bei »Russia Today«, sondern bei der Süddeutschen Zeitung – allerdings heute vor fast genau einem Jahr: sueddeutsche.de, 25.2.2021/archiviert. Der Titel jenes Textes lautete: »Korrupt wie eh und je«.
Eine von vielen saftigen Passagen jenes Meinungsstücks:
Der Hauptgrund für Selenskijs Absturz aber ist sein Unwille zu echten Reformen. Selenskij führt das postsowjetische Herrschaftssystem fort und akzeptiert Korruption und Rechtlosigkeit im Austausch dafür, dass er und sein Apparat weitgehend die Kontrolle behalten. (sueddeutsche.de, 25.2.2021/archiviert)
Wenn ich alle Stellen jenes Textes zitieren wollte, die moralisch fragwürdiges Verhalten des neuen Helden Selenskij beschreiben, würde ich bald den ganzen Text zitieren, also hier nur noch ein vorletztes, kurzes Zitat:
2020 unterstellte er sich faktisch die zuvor halbwegs unabhängige Zentralbank und die Generalstaatsanwaltschaft; so gut wie alle angesehenen Reformer wurden gefeuert. Der Geheimdienst SBU, die atemberaubend korrupten Gerichte, die Gremien zur Richterauswahl und -entlassung: Sie alle bleiben unangetastet. (sueddeutsche.de, 25.2.2021/archiviert)
Ein Jahr später aber lesen wir in derselben Süddeutschen Zeitung unter der Dachzeile »Heldenfigur« und dem Titel »Was Selenskiy lehrt«:
Wolodimir Selenskij spricht wie einer, den man beim Elternabend treffen könnte. […] Der ukrainische Präsident ist zur moralischen Instanz für die Welt geworden. (sueddeutsche.de, 28.2.2022 (€)).
Aha.
Der Artikel wurde offenbar umbenannt, im Google Cache klingt der Titel am 1.3.2022 sogar noch jubelnder: »Ukraine: Wolodimir Selenskij war schon lange ein Held«.
Ach, man fühlt sich bald wöchentlich an die Geschichtsschreibung in George Orwells »1984« erinnert: Eben war Selenskij noch die Personifikation der Korruption – jetzt ist er die Personifikation des Heldentums.
In mir lebt ein kleiner Querulant, der queruliert immerzu. Mal lässt er mich den anderen Leuten widersprechen – mal widerspricht er sogar mir, seinem Wirt!
Ich habe wohl den alten Rat der weisen Männer verinnerlicht, wonach man der Masse stets misstrauen soll – noch mehr, wenn sie sich einig ist – und noch noch mehr, wenn man selbst mit ihr übereinstimmt.
In diesen Tagen finde ich mich in der Lage wieder, mit dem Beschluss der Masse übereinzustimmen, den Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine betreffend – doch dafür vom inneren Querulanten getriezt zu werden.
Auch ich habe die herzzerreißenden Kurznachrichten gelesen, die ein russischer Soldat kurz vor seinem Tod mit seiner Mutter ausgetauscht haben soll (siehe etwa @VeraMBergen, 28.2.2022).
Ich sage »soll«, denn streng nach der Begrifflichkeit ist ihre Verbreitung etwa durch den Botschafter der Ukraine in der UN (siehe etwa businessinsider.com, 1.3.2022) ein Propaganda-Akt. Oh, hat der Wegner da wirklich »Propaganda« gesagt? Für etwas, das die Ukraine tut? – Ja, hat er: Laut Duden ist Propaganda die »systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen« – passt schon.
Ja, auf sprachlich-formeller Ebene gilt, dass wenn die Ukraine sagt, dass der Krieg gegen sie schlecht ist, auch diese Aussage ein Akt der Propaganda nach Wörterbuch-Definition ist, denn: Propaganda ist auch dann Propaganda, wenn ihre Aussagen wahr sind, ihr Anlass uns das Herz bricht und wenn sie verzweifelt versucht, weiteres Blutvergießen zu vermeiden.
Wenn aber die Propaganda und die öffentliche Meinung und meine eigene Einschätzung von Fakten und moralischer Bewertung zu demselben Ergebnis kommen, piesackt mich mein innerer Querulant, und er fragt mich: »Bist du dir da sicher? Bedenkst du die (laut deutschem Staatsfunk gar nicht gegebenen) Zusagen zur östlichen Zurückhaltung der NATO, die im Kontext der deutschen Einheit gegeben worden sein sollen? Hast du von der Arroganz westlicher Diplomaten gegenüber Russland gehört? Was ist mit der anti-russischen Einmischung eines George Soros in der Ukraine? (opensocietyfoundations.org, 2014: ›my foundation is working with experts in Ukraine to create a strategy for keeping the spirit of the Maidan alive‹)« – Ich aber antworte meinem inneren Querulanten: »Ja, ja, das alles weiß ich, und noch einiges mehr, und ich bedenke es wohl. Und doch ist das alles irrelevant, wenn Putin »junge Männer mit altem Gerät« in die Ukraine schickt, um Unschuldige zu töten, Kinder ihrer Väter und Mütter zu berauben, um selbst schließlich sinnlos zu sterben und ihren eigenen russischen Müttern das Herz zu brechen.«
Ich wurde schon mal »Prinzipienreiter« genannt – und ich kenne wahrlich ärgere Schimpfwörter – und diesem Ehrentitel treu will ich aus Prinzip meine Prinzipien immer auch gegen mich selbst anwenden.
Das bedeutet eben in Konsequenz: Meine Prinzipien bringen mich schon mal zu Erkenntnissen, die mir selbst nicht angenehm sind. Da unterscheide ich mich von den Linken und ihren Dresseuren in den Redaktionen: Gerade die unangenehme Erkenntnis ist interessant und im Wortsinn bemerkenswert.
Alle Seiten betreiben Propaganda, und alle Seiten betreiben wohl auch Zensur. Die BILD-Zeitung hat etwa gezeigt, wie schlecht informiert viele russische Bürger sind (bild.de, 1.3.2022).
Am 27. Februar 2022 erklärte die Telekom, dass sie den russischen Staatssender »Russia Today« in ihrem IP-TV-Netz zensieren wird (@magentatelekom, 27.2.2022).
Einen Tag später bestätigte mir die Telekom, dass auch auf EU-Ebene geplant wird, die russische Sichtweise auf den Krieg in der Ukraine zu zensieren (@magentatelekom, 28.2.2022). Hat man gar Angst, dass die Russen wiederholen, was vor einem Jahr in Deutschland in der Zeitung stand?
Um es so schlicht wie treffend mit dem Twitterer Robert Stiehler zu sagen:
So sehr ich den #UkraineKrieg ablehne den #Putin angefangen hat, Zensur ist und bleibt falsch! (@DeveRoSt, 1.3.2022)
Wer eine Botschaft verbietet, statt sie zu widerlegen, weckt in allen, die noch nicht am Geist ganz erlahmt sind, erst recht die Neugier! Ich habe der »offiziellen Wahrheit« ja ganz glauben wollen – bis sie anfingen, abweichende Meinungen (»Desinformation«) zu zensieren. Es ist mir schlicht nicht möglich, eine Wahrheit ganz zu glauben, wenn eine andere Wahrheit gar nicht gesagt werden darf.
Mir liegen aktuell keine Informationen vor, die der offiziellen Wahrheit grundlegend widersprechen, wenn auch gewisse aktuelle Lücken durchaus aufgefüllt werden können, doch seit sie den russischen Staatsfunk zensieren, achte ich in unserem Staatsfunk und unseren Konzernmedien extra aufmerksam auf die Nuancen und Widersprüche.
Die Berliner Zeitung (die mit dem Ex-Stasi-Spitzel als Verleger) schreibt, dass Großbritannien und die USA nun Spezialeinheiten in die Ukraine schicken (berliner-zeitung.de, 28.2.2022), um »»für die Demokratie«« zu kämpfen (die doppelten Anführungszeichen sind hier der Tatsache geschuldet, dass auch die Berliner Zeitung das in Anführungsstrichen zitiert). Überhaupt fürchtet der Westen einen »Regime Change« in der Ukraine, und ein Zyniker würde sagen: »So etwas darf bekanntlich nur der Westen machen.« – Frage am Rand: Wird die Ukraine womöglich nach dem Vorbild des geteilten Berlins in West- und Ost-Ukraine geteilt sein?
Beim privaten Blog »Nachdenkseiten« merkt Jens Berger lakonisch an, dass in Berlin hunderttausend bewegte Bürger für Frieden protestieren, während Deutschland spontan mal eben 100 Milliarden Euro für Waffenkäufe freigibt (nachdenkseiten.de, 28.2.2022). Als Donald Trump – explizit vor dem Szenario russischer Bedrohung! – einen höheren Wehretat von Deutschland forderte (businessinsider.de, 3.4.2019), mokierte sich dieselbe deutsche Intelligenzija, die jetzt über die Ukraine ihre schwielenfreien Händlein ringt: Weiß denn der doofe Trump nicht, dass die Zeit der Kriege in Europa und auch anderswo vorbei ist?
In ausländischen Publikationen (wie etwa dem aus jüdischer und israelischer Perspektive schreibenden Tablet Magazin, siehe tabletmag.com, 28.1.2022) können wir, falls notwendig, unser Hintergrundwissen zur jüngeren Ukraine-Geschichte auffrischen. Wir erfahren dort, unter anderem, etwas zum »Soft-Coup« der USA in der Ukraine während der Obama-Zeit, und wir könnten ins Grübeln geraten (und nein, niemand rechtfertigt einen unmenschlichen Krieg damit).
Ach ja, manche Widersprüchlichkeiten der »Guten« wirken derart ironisch, dass man nicht ums bittere Schmunzeln herumkommt. Fifa und Uefa haben aktuell die russische Nationalmannschaft suspendiert (bild.de, 1.3.2022), aus moralischen Gründen. Das führt dazu, dass die Russen nicht bei der diesjährigen Weltmeisterschaft mitspielen werden. Die findet übrigens in Katar statt, also einem Land, in dem Arbeiter als Quasi-Sklaven gehalten werden (etwa um Fußballstadien zu bauen, vergleiche amnesty.org), wo nach einer Vergewaltigung schon mal auch die Frau verurteilt wird (wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs, zeit.de, 13.6.2016), kritische Blogger einfach so »verschwinden« (theguardian.com, 14.5.2021), wo das Internet zensiert wird, und wo auf Homosexualität wie auch Austritt aus dem Islam theoretisch die Todesstrafe steht. Wäre »selektiv« das richtige Wort für die Moral der Fußballfunktionäre?
Jenes Meinungsstück in der Süddeutschen Zeitung von vor einem Jahr schließt so:
Es spricht viel dafür, dass die Selenskij-Jahre für die Ukraine ebenso verlorene Jahre sein werden wie jene unter Amtsvorgänger Poroschenko. (sueddeutsche.de, 25.2.2021/archiviert)
Man könnte es auch so formulieren: Es spricht viel dafür, dass Journalisten mal so und mal ganz anders schreiben, immer aber das, wofür sie Ihren Schreiberlohn erhalten. Man fragt sich aber dann doch: Hat sich Saulus zum Paulus gewandelt? Lag der brave deutsche Journalist komplett falsch? Was ist da los?
Spätestens als sie bei uns begannen, die Medien des Feindes zu zensieren, schlug der Querulant in mir Alarm, das ist wahr. Heute aber will ich zuerst mit den Müttern, Vätern, Frauen und Kindern der Soldaten auf beiden Seiten trauern, und natürlich nicht weniger mit den zivilen Opfern, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren – dieser »falsche Ort« war wohlgemerkt ihre Heimat.
Ich habe im Leben naturgemäß viele Russen und manchen Ukrainer getroffen, und niemand, kein einziger von ihnen, wollte oder will irgendwas mit den Kriegen der alten Herren in ihren Palästen und Bunkern zu tun haben. Es ist eine Schande für die gesamte Menschheit, dass wir solche grausame Idiotie noch nicht überwunden haben. Mögen die Ukrainer bald zum Frieden finden und die Ukraine zur Freiheit – und möge jedem Täter sein gerechter Lohn zukommen, in diesem Leben oder im nächsten.
Ich verbinde heute zwei meiner alten Aufrufe zu einem: Weint mit den Weinenden und trauert mit den Trauernden, und dann prüft alles, glaubt wenig – und denkt selbst!