Dushan-Wegner

11.05.2023

Wer einatmet, muss auch ausatmen

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Um wieviel Uhr geht in Berlin die Sonne auf?
Beim Flüchtlingsgipfel forderten die Länder vom Bund eine »atmende« Finanzierung der Versorgung von »Flüchtlingen«. Ein interessantes Sprachbild, denn wer immer nur einatmet und nie ausatmet, der platzt irgendwann.
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Wir schreiben das Jahr 2023, acht Jahre nach dem Unrechtsjahr 2015. Seit Tagen – und seit Jahren – werden die deutschen Schlagzeilen von zwei Superthemen bestimmt: Flüchtlinge und Klima.

Beide sind ein riesiges Business – auf Kosten des Steuerzahlers. Und es wird zur politischen Daily-Soap. Aktuelle Folge: Wenn ich es richtig verstehe, wurde Herrn Habeck von Herrn Graichen untersagt, diesen zu entlassen (n-tv.de, 10.5.2023).

Zum anderen Megathema: Erst vorgestern schrieb ich über den neuesten Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt.

Dieser »Gipfel« ist nun auch wieder zu Ende gegangen. Man fand die Lösung, die wir erwartet hätten: Der Bund kippt 1 Milliarde Euro über das Problem, und damit soll’s dann auch bitte gut sein (bild.de, 10.5.2023).

Geld her!

Die Kommunen sind wenig begeistert – es ist ihnen zu wenig. Und so rufen sie nach Berlin, sinngemäß: »Ihr wolltet das, ihr habt uns die jungen Männer geschickt, um vor euren Eliten-Freunden gut dazustehen, dann gebt uns auch das notwendige Geld!«

Die weltfremden Berliner Möchtegerns stolzieren auf Bilderberg-Konferenzen und in Davos herum (wenn sie nicht gerade wie die EU-Bosse im Privatflugzeug zu Klimakonferenzen jetten; siehe politico.eu, 28.3.2023).

Diese Figuren mit dem schwungvollen Delta zwischen Qualifikation und Funktion gefielen sich darin, die jungen Männer Nordafrikas nach Deutschland einzuladen – doch während die Eliten in gepanzerten Limousinen zum nächsten Edel-Restaurant schweben, müssen die Kommunen es »schaffen«.

Sonst platzt er

Die Länder fordern also, so wird berichtet, ein »atmendes System«. Es ist eine seltsame und also auffällige Formulierung.

Im Beschluss des neuesten Flüchtlingsgipfels (Original als PDF via focus.de, siehe Seite 4) wird festgehalten, dass es aus Sicht der Länder eines »atmenden Systems« bedarf – und dass aus Sicht des Bundes bereits eines etabliert ist.

Von einer »Dynamisierung« ist die Rede und einer »pro-Kopf-Pauschale« – und uns wird schnell klar, was mit »atmend« gemeint ist: Wenn die Lunge sich mit Luft füllt, dehnt sich auch der Brustkorb aus.

Überhaupt scheint Politik gern das »Atmen« als Euphemismus einzusetzen, wenn sie die absehbare Entwicklung verschleiern will. »Atmen« soll implizieren, dass es sich abwechselnd in beide Richtungen entwickeln kann, sagt dies aber nicht explizit. Das »atmende System« erinnert an den »atmenden Deckel« bei erneuerbarer Energie – siehe bmwi-energiewende.de, 21.2.2017, aber auch aus demselben Jahr den »atmenden Deckel« bei einer »Flüchtlingsobergrenze« – siehe welt.de, 4.1.2017.

Wenn die Berliner Eliten mehr junge Männer aus Nordafrika in die Kommunen schicken, sollen sie doch bitte zumindest auch anteilig mehr Geld mitschicken.

Doch das Sprachbild vom »atmenden System« impliziert noch etwas: Wer einatmet, der sollte auch irgendwann ausatmen – sonst platzt er.

Nicht das Drängendste

Die Milliarde Euro zusätzlich sei »nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, so klagen die Kommunen (tagesspiegel.de, 10.5.2023).

Das reduziert die Debatte allerdings auf Geld. Scholz zeigt sich hier weniger geschickt als Merkel, die sich darauf verstand, Debatten regelmäßig aufs Gefühl zu reduzieren; siehe Essay vom 24.5.2016 und mein Buch »Talking Points«.

Immerhin ist die Debatte um sogenannte Flüchtlinge damit aber etwas rationaler. (Wenn auch noch immer grob unvollständig und damit unehrlich, denn das Leid der Opfer in den Brennpunkten und Schulen vor Ort bleibt ausgeblendet.)

Doch bei aller neuen »Rationalität« hat die Debatte weiterhin eine massive Lücke. Um es mit einer weiteren Metapher zu sagen: Als die Titanic den Eisberg rammte, war die Finanzierung der Reparaturen am Schiff nicht das drängendste Problem.

Woher Berlin?

Ein »atmendes System«, das immer nur einatmet, wird irgendwann platzen. Die Länder bekommen mehr Geld vom Bund, doch woher bekommt Berlin das Geld?

Vor einigen Jahren diskutierten wir in Deutschland den etwas sperrigen PR-Begriff »Industrie 4.0«. (Nebenbei: Der deutsche Wikipedia-Text »Industrie 4.0« führt aktuell den Begriff auf eine Forschungsunion der deutschen Regierung zurück, der englische auf Klaus Schwab; jeweils Stand 11.5.2023.)

Es wirkt bereits wieder veraltet, wie Retro-Futurismus und Berater-Prosa. Doch bei aller (schon damals reichlich vorhandenen) Kritik muss man zugestehen, dass damit immerhin die Entwicklung industrieller Produktion ein Thema der öffentlichen Debatte war! Heute wird das zuständige Ministerium von den Grünen geleitet, und dort ist man mit Klüngeleien und Wärmepumpen vollends ausgelastet.

In den USA präsentieren Unternehmen tägliche Revolutionen bei der Künstlichen Intelligenz (siehe etwa techcrunch.com/category/artificial-intelligence/) – während gleichzeitig Zigtausende von Tech-Arbeitern entlassen werden (techcrunch.com, 9.5.2023), was nicht nur mit KI zusammenhängt, aber doch davon beeinflusst wird: Wer das Unternehmen nicht mit Hilfe von KI voranbringt, ist wirtschaftlich überflüssig. – Warum gibt es keinen KI-Gipfel im Bundeskanzleramt? Sogar der geistig weitgehend abwesende Joe Biden hat sich mit KI-Bossen getroffen, um die Konsequenzen der aktuellen KI-Entwicklungen zu diskutieren (reuters.com, 9.5.2023).

»Die Unternehmen in Deutschland haben ihre Produktion überraschend stark gedrosselt«, so wird aktuell gemeldet (spiegel.de, 8.5.2023). Die deutsche Wirtschaft stagnierte im ersten Quartal, »knapp an der Rezession vorbei« (spiegel.de, 28.4.2023).

Wo bleibt der Krisengipfel zur längst nicht mehr nur schleichenden Deindustrialisierung Deutschlands? Es wirkt ja fast, als sei es so gewollt – ich hoffe sehr, dass ich darin irre.

Nur nebenbei

Natürlich bin ich dafür, den wirklich Bedürftigen zu helfen und die Natur nicht unnötig kaputtzumachen. Doch Deutschland ignoriert, dass beides nur »nebenbei« möglich ist – dann und nur dann, wenn es eine funktionierende Wirtschaft und eine bereitwillige Gesellschaft gibt, die beides finanzieren können und wollen.

Deutschland »atmet« immer neue und immer mehr moralische Verpflichtungen ein – doch irgendwann muss man auch ausatmen, sonst platzt man.

Von Moral allein kann niemand leben – und die, die es zu tun behaupten, entpuppen sich regelmäßig als die unmoralischsten Leute von allen – oder bald die ärmsten.

Nun gibt man also den Kommunen eine Milliarde zusätzlich. Die bislang geplanten Ausgaben allein des Bundes für die »Flüchtlingskrise« beliefen sich in diesem Jahr auf 27 Milliarden Euro (siehe Essay vom 20.4.2023) – und das Geld wird größtenteils weg sein, außer man betrachtet »Moral« als Investition.

Im Essay vom 16.2.2023 paraphrasierte ich eine alte Prophezeiung, und ich will uns diese Mahnung heute aufs Neue mitgeben: Erst wenn die letzte Fabrik geschlossen, der letzte Ingenieur ausgewandert, der letzte Gläubiger erschöpft und der letzte Stadtteil aufgegeben ist, werdet ihr merken, dass man von Moral allein nicht leben kann.

Weiterschreiben, Wegner!

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