Dushan-Wegner

14.03.2021

Sein geheimes Leben

von Dushan Wegner, Lesezeit 2 Minuten, Foto von Annie Spratt
»Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu«, so lässt Ödön von Horváth. – Wenn wir jetzt und heute nicht »dazu kommen«, wann dann?!
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Ein Gutes hat das alles ja (und mit »das alles« meine ich sowohl mein eigenes rasches Zugehen auf den Abschluss der persönlichen Jahrhunderthälfte, als auch »diese Zeiten«, die ich mit Ihnen teile): Die Liste der Sätze wird länger, die ich als Kind las oder hörte, und die in mir damals eine Saite anschlugen, doch erst jetzt höre ich gewissermaßen den Ton, sprich: Damals verstand ich die Aussage, heute spüre ich ihre Wahrheit.

Ein solcher Satz – ich las ihn zum ersten Mal an einer Wand im Wartebereich der Kölner Philharmonie – ist jenes Ödön-von-Horváth-Zitat: »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.«

Die Figur Ada Freifrau von Stetten, die solches im Dritten Akt (siehe Projekt Gutenberg) der Komödie »Zur schönen Aussicht« sagt, die formuliert dort weitere charmant spitze Sätze, etwa: »Man sollte jung sterben. Mit der Zeit wird alles zwecklos.«

Nun, wenn man es täte, wie Freifrau Ada es empfiehlt, vergäbe man die Gelegenheit, Jahrzehnte nachdem man sie zuerst hörte, die Wahrheit der Worte vom Anderssein-zu-dem-man-zu-selten-kommt wirklich bis in die Knochen zu spüren.

Im Text »Funkenschlag, Motten und Rost« sprach ich von den Funken, die in der Luft schwirren. Das Gefährliche an Funken ist ja, dass sie, selbst aus einem Feuer geboren, ein weiteres anzünden können (und wohl wollen, so man ihnen einen Willen zuschreiben mag).

Man darf dazu feststellen: Einen trocknen Haufen Stroh kann schon ein kleiner Funken schnell entzünden, einen Haufen nasser Lumpen zu entzünden, da tut sich aber selbst eine lodernde Fackel schwer.

Einzig mit der Wortgleichheit als Themenbrücklein, ein Spruch aus Karl Krausens Fackel vom 15. Februar 1909: »Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott.«

Ob wir nun die Sicherheit und Zukunft unsres eignen Hauses dem lieben Gott, der Feuerwehr oder dem Heiligen Florian anvertrauen, so wird es (und hier gesellt sich zum Clash of Cultures der Clash of Metaphors) für den Bewohner unseres eigenen Hauses brandeilig, sich darüber klar zu werden, wer man denn eigentlich ist – und dass es brandgefährlich ist, auch weiterhin nicht dazu zu kommen, zu sein (oder zuerst: festzustellen und/oder festzulegen ), wer man wirklich ist (oder: sein will/sollte/kann).

Ich will die These wagen: So-gut-wie-jeder – Sie, ich, der Besitzer des Hundes des Nachbarn – wirklich ein jedes Menschheitsmitglied hat ein geheimes Leben, ein eigentliches Leben; man kann auch sagen: sein eigenes wahres Leben, zu welchem »er zu selten kommt«.

Es könnte heute die Zeit sein, sein geheimes Leben herauszuholen – und mit »die Zeit« meine ich: die letzte relevante Chance, die letzte Gelegenheit, zu der es noch einen Unterschied ausmacht.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,028 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Sein geheimes Leben

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)