Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als ich zum ersten Mal meinen Großvater beim Wettlauf überholte. Ich kann mich sogar noch an den Ort erinnern – es war auf einer Anhöhe im bayerischen Bad Aibling an einem Sonntag im Herbst. Es war ein Schock für den kleinen Dushan.
Ähnlich wie der Moment, als mein Vater zum ersten Mal nicht mehr mich und meine Schwester gleichzeitig hochheben konnte (siehe dazu »Wie Lahme, angeführt von Blinden«), war es schockierend, zu merken, dass ich stärker sein kann als »die Großen«, dass diejenigen, von deren Unbesiegbarkeit meine Existenz als Kind abhing, eben nicht unbesiegbar sind. – Jenes Wettrennen im bayerischen Herbstlaub war natürlich nicht das einzige prägende Erlebnis mit Opa, da gabe es noch mehr!
Mein Großvater hörte schwer, und er mochte sein Hörgerät nicht. Manchmal saßen wir als Familie am Tisch, und er klinkte sich aus, weil er »sowieso nicht hörte«. Doch dann, mitten im Gespräch, konnte es passieren, dass er sich plötzlich wieder einschaltete, als hätte er die ganze Zeit über alles gehört. Mir kam der Verdacht, dass Opa mal hörte und mal nicht-hörte, je nachdem, was zu hören oder nicht zu hören ihm weise erschien.
Ich begriff bald, dass man auch mit einzelnen Brocken den Kontext des Gesprächs grob verfolgen konnte, und meine Großmutter hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, alle paar Sätze ihm laut ins Ohr zusammenzufassen, worüber gerade gesprochen wurde. Und doch gefällt mir die Vorstellung eines alten Weisen, der mal hört und mal nicht-hört, je nachdem, was ihm zu dem Zeitpunkt klug und geboten erscheint.
Das Verwaltungsgericht hat beschlossen
In Italien hat das Schiff »Open Arms« nun erreicht, was sie erreichen wollten – sie haben in Lampedusa angelegt. An Bord befanden sich 83 Migranten. Bei welt.de, 22.8.2019 sehen wir das Bild jubelnder junger Männer und das Bild einer modisch gekleideten jungen Dame mit Handtasche – der Text berichtet von schlimmen Zuständen an Bord. »Deutschland« (gemeint: die Regierung Merkel) hat sich bereiterklärt, einen Teil (welchen?) der migrierenden Damen und Herren aufzunehmen.
Immer mehr Zeitungen machen sich nicht einmal mehr die Mühe, »Flüchtlinge« zu sagen, es glaubt wohl sowieso niemand mehr.
Es gibt noch mehr Meldungen, es gibt immer noch mehr Meldungen.
In Aachen hat ein 35-jähriger Syrer gegen sein Ausreiseverbot geklagt (ja, Sie lesen richtig). Wir lesen:
Firas D., seit 2001 in Deutschland, war 2012 und 2013 immer wieder nach Syrien und in die Türkei gereist. Aufgrund von Hinweisen des Verfassungsschutzes bestand bei der Städteregion Aachen der Verdacht, der Mann unterstütze islamistische Terrorgruppen, nehme dort an Kämpfen teil. Daraufhin wurde ihm die Ausreise verboten. (bild.de, 21.8.2019: »Flüchtling klagt Reisefreiheit ein«)
Die Geschichte hat aber ein gutes Ende: Das Verwaltungsgericht sieht die Dinge inzwischen anders als die damaligen Entscheider es sahen, und es hat beschlossen, dass Firas D. (dessen Aufenthaltsrecht übrigens abgelaufen ist) wieder frei reisen darf – unter anderem nach Syrien.
Leider haben heute nicht alle Meldungen ein so beruhigendes Happy End! – Rentner Detlef J., der von einem somalischen Flüchtling halb tot geschlagen wurde (siehe etwa »Sicherheit gegen Klimamaßnahmen – wäre das ein Deal?«), ist auf einem Auge blind und sein Schluckmuskel ist beschädigt. Ihm wurde eine Magensonde eingepflanzt. Seine Söhne sollen nun eine Pflegeeinrichtung suchen – seine Pflege wird tausende Euro kosten, deutlich mehr als die Pflegeversicherung zahlt (siehe bild.de, 22.8.2019). Mir ist nicht bekannt, dass ein Staatsfunker schon zu Spendenaktionen aufgerufen hätte.
Selbstschutz zuerst
Wer im Rettungsdienst arbeitet, der lernt, dass er sich immer auch selbst schützen muss. Früher hieß das etwa, die Unfallstelle dagegen abzusichern, dass ein weiteres Auto reinfährt. Heute bedeutet Selbstschutz für Rettungskräfte, automatisch die Polizei zu rufen, damit die einen davor schützt, selbst zum Opfer zu werden, wenn man in der »falschen Gegend« versucht, Menschenleben zu retten.
Wer heute mit Gerechtigkeitssinn, Vernunft und Empathie ausgestattet ist, wer also kein Gutmensch ist, der könnte glatt am Irrsinn irre werden – und deshalb greift gerade hier die Regel vom seelischen Selbstschutz.
Die Drei G
Nein, so ganz werde ich ihn nicht los, den Verdacht, dass mein Großvater dann doch manchmal ganz bewusst schlecht hörte – es ist ein friedlicheres Leben so.
»Wer kämpft, der kann verlieren, und wer nicht kämpft, der hat schon verloren«, so sagt eine neue alte Weisheit, doch ich erlaube mir eine Nachfrage: Was ist mit einem, der kämpft, obgleich er längst verloren hat? Wer weiter kämpft, selbst wenn er längst verloren hat, so einen »verrückt« zu nennen erscheint mir als nicht ganz verrückt.
Wir werden sie lernen müssen, die Kunst der selektiven Taubheit. Die Guten, Gerechten und Globalisten – aber ich wiederhole mich – die »Drei G«, sie üben sich in der Kunst der totalen Taubheit (von ihrem Bankkonto abgesehen, da hören die schlaueren unter den Menschen sehr genau auf die Zeichen der Zeit, fragen Sie mal die zahlreichen Flüchtlingskrisen–Profiteure), und eine totale Taubheit wie diese Leute wollen wir keinesfalls anstreben, aber eine partielle Taubheit, die wäre doch nützlich, schon des Selbstschutzes wegen.
Alles andere als allgütig
Ich habe sie schon hinter mir – und ja, es war schmerzhaft – diese Erkenntnis, dass die da oben weder allmächtig noch allwissend und vor allem alles andere als allgütig sind. Ich fürchte, ich sollte nun auch noch die Kunst erwerben, mich taub zu stellen und zu grinsen, des eigenen Seelenfriedens willen.
Mein Großvater hat es ja verstanden, trotz angeblichen Nichthörens im entscheidenden Moment zu handeln, als ob er doch gehört hätte – es hat etwas von den mythischen asiatischen Meistern, die mit verbundenen Augen kämpfen.
Wir werden uns in der Kunst der partiellen Taubheit üben müssen, um nicht verrückt zu werden. Sollten wir aber, durch die freiwillige Taubheit hindurch, dennoch etwas gehört haben, dann gilt es, im entscheidenen Moment doch das Richtige zu tun – das kann im Wahllokal sein, oder bei großen Lebensentscheidungen.
Lacht, Freunde, lacht! Grübeln können wir morgen noch! Und lauft die Wettrennen mit euren Großeltern, solange sie leben, denn das könnt ihr morgen vielleicht nicht mehr.