20.12.2020

Silvester in den Zeiten der Corona

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Mike Enerio
In Köln sollen die Bürger statt zu böllern ihre Wohnzimmerlampe an- und ausknipsen. Kein Scherz. – Statt den Sekt zu köpfen, sollen sie vermutlich Wasser trinken und mit dem Finger in der Backe »Plopp!« machen.
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Wir, die Wegners, gehen seit einiger Zeit schon mit dem einen oder anderen Hund der Nachbarn spazieren, doch in Corona-Zeiten sind wir selbst von uns überrascht, wie begeistert wir es tun! (Die Hunde spüren die Begeisterung und geben sie schwanzwedelnd und freudig hüpfend zurück!)

Mehrere unserer Freunde haben sich aktuell Hunde zugelegt, einer erhält dieser Tage seinen zu Jahresbeginn reservierten Welpen. Das örtliche Tierheim hält nur noch verlassene Kampfhunde und wirklich schwierig zu vermittelnde Tiere parat, alle anderen wurden adoptiert. Auch in den Medien werden Tierzüchter zitiert: »Wir bekommen die Welpen aus der Hand gerissen« (welt.de, 19.12.2020, inzwischen hinter Bezahlstacheldraht)

Eine weitere Meldung ist weniger »niedlich«, sie ist eher »peinlich« – oder »cringy« wie die Amerikaner sagen würden. Man »fremdschämt« sich – es ist eine Meldung aus Köln.

In Köln wird aufgerufen, auf Feuerwerk zu verzichten. Ich selbst habe ja über Jahrzehnte hinweg Jahr um Jahr auf den Kölner Brücken das Neue Jahr begrüßt (damals, als man auf der Severinsbrücke noch feiern durfte, weil die Welt nicht ganz so tolerant und also weit weniger gefährlich war) – jedes Wort der Silvesterhymne »Erster Erster« von Erdmöbel (siehe YouTube) lässt Saiten in mir schwingen, beschreibt Momente, an die ich mich sentimental erinnere: »Auf den Brücken stehn, rauf bis zero von zehn, kann ich euch zählen sehn…« – Und ich kann sogar verstehen, dass öffentliches Silvesterfeiern auch ein Fest für böse Viren sein könnte (außer natürlich man erklärt die Silvesterfeier zur Demonstration gegen Rassismus, dann macht das Virus bekanntlich einen Bogen drum herum).

Ja, es ergibt gewissen Sinn, dass die Stadt darauf drängt, öffentliches, zuverlässig angeheitertes Feiern, wozu eben auch das Böllern gehört, zu unterlassen. Ich hege Zweifel, ob den Bitten gefolgt wird, gerade dort, wo es am sinnvollsten wäre. Extra bemerkenswert ist aber, was die Stadt Köln als Alternative zum privaten Feuerwerk vorschlägt.

Wir kennen aus Köln die klugen Ratschläge, wie frau eine Vergewaltigung durch »junge Männer« vermeidet (eine »Armlänge Abstand«). Wir kennen die magischen Armband-Amulette, die gegen sexuelle Gewalt schützen sollen (siehe mein Essay vom 13.12.2017: »Magische Amulette gegen Vergewaltigung«). Nun erfahren wir aus Köln kluge Ratschläge, wie man die traurige Einsamkeit zum Jahreswechsel umgeht.

Das Feuerwerk zu Silvester soll ja symbolisch die Geister und Dämonen des alten Jahres vertreiben. Die alten, bösen Geister werden mit Lärm vertrieben, also auch mit Rasseln oder Trommeln, wie später etwa im Karneval, doch Schwarzpulver und Explosionen sind nun mal lauter und spektakulärer als die lauteste Ratsche.

In Köln schlägt man vor, und das ist keine »Fake News«, statt Feuerwerk in den Himmel zu schießen doch bitte die Lichter in den Wohnungen schnell an und aus zu schalten.

Auf stadt-koeln.de wird in sachlichem Bürokratendeutsch erklärt, man solle bitte die »Fenster bunt bekleben/bemalen/behängen/beleuchten« und dann um »0 Uhr Licht anschalten. Rausschauen und das Fenster immer mal wieder aufleuchten lassen.«

Es folgen Tipps zum Bemalen der Fenster mit »Fingerfarbe«, zum Behängen der Fenster mit Verpackungsmüll vom Weihnachtsfest (»Wichtig: vorher testen, ob auch genügend Licht hindurchscheint.«). Optional lassen sich die Fenster mit Backpapier behängen, das zuvor mit Wachsmalstiften verschönert wurde. Ja, das ist alles ernst gemeint. Nein, das ist kein Archivdokument aus Krieg oder Sozialismus. (Ungeklärt bleibt lediglich die Frage, ob man zumindest den Sekt köpfen darf, oder ob es ratsamer wäre, stilles Wasser zu trinken und mit dem Finger in der Backe laut »Plopp!« zu machen.)

Die Nachfrage nach Welpen und die kuriosen Feuerwerk-Tipps hängen natürlich zusammen, und sie haben beide mit Corona zu tun.

Psychologen und Philosophen, ob hauptberuflich oder hobbyistisch, werden ihre jeweils eigenen Theorien vorlegen, mit welchen sie den Welpenboom begründen, jeder in seiner eigenen Sprache und Begriffswelt – und meine Sprache und Begriffswelt kennen Sie als die der Relevanten Strukturen!

Es ist dem Menschen angeboren, sich um Strukturen kümmern zu wollen, die ihm relevant sind. Außerdem braucht der Mensch ein beseeltes Gegenüber, er braucht das gewisse Gefühl, geliebt zu werden, und er braucht eine sinnvolle Routine, eine sinngebende, nicht-beliebige Struktur des Tages – all das soll (und kann ja oft auch) ein Hund leisten.

In diesen Zeiten der Unsicherheit und Lockdowns fühlen sich viele Menschen einsam und leer, doch da ist noch etwas mehr. Strukturen, die uns eben noch maximal relevant waren – oder relevant schienen – brechen weg. Die »Ordnung unserer Kreise« ist das, was wir »Glück« nennen. Nein, vor Lockdowns und dem Herunterfahren der Welt waren wir nicht alle glücklich, doch wir hatten genug Möglichkeiten, uns vom Unglücklichsein abzulenken. Jetzt stellt mancher (neu) fest, dass die »Ordnung der Kreise« eben die »Kreise« braucht, die man ordnet.

Silvester wiederum ist ein Marker in unserem Leben, der uns gemeinsam spüren lässt, dass eben dieses Leben vorangeht. Der Geburtstag markiert das Voranschreiten des einzelnen Lebens, Silvester aber markiert unser gemeinsames Leben. Sogar die Bürokraten der Stadt Köln scheinen zu ahnen, was es bedeutet, wenn Silvester ausfällt – das gemeinsame Leben wird verboten! – also versuchen sie, hilflos und kindisch, die Bürger mit Wachsmalfarben und Lichtschalterknipsen vom Durchdrehen abzuhalten.

Das Problem der Kölner Bürokraten ist nicht einmal der böse Wille! Es ist ja nicht prinzipiell falsch, wenn die Politik hier und da Ratschläge gibt. Die skurrile Hilflosigkeit der Kölner Ratschläge liegt am Zeitpunkt, an welchem man begann, sich halbwegs realistische Gedanken über das Innenleben des Bürgers zu machen – Jahre und Jahrzehnte zu spät.

Entgegen der Annahme in linksgrünen Parallelgesellschaften ist die Welt weder ein Kindergarten für verhaltensauffällige Kinder noch ein Parteitag der Grünen. Eine politische Klasse, die bereits vor der Krise eine Vertrauensebene zum Bürger hergestellt hat, kann in der Krise ehrlich und tatsächlich »von Mensch zu Mensch« kommunizieren. Eine Politik allerdings, die sich in Berlin durch einen tiefen Burggraben vom Bürger abschotten will und in Köln weit mehr als eine geistige »Armlänge« Abstand zum nicht-linksgrünen Teil des Volks hält, die blamiert sich in der Krise eben mit lächerlichen, weltfremden Bastelideen. Erwarten die wirklich, dass der Arbeiter in Nippes oder Kalk nach einem harten, unfairen, irgendwie doch überlebten Jahr sich zu Silvester mit Lichtknipsen begnügt?!

Wer einen Freund sucht, so heißt es, sollte nicht in die Politik gehen, sondern sich einen Hund besorgen. Die Bürger adaptieren diese Weisheit für sich: Erwartet keine Freundschaft (oder gar realistische Empfehlungen zur Glückssuche) von »denen da oben« – holt euch lieber einen Hund!

Also, liebe Bürger: Silvester naht! Seid brave Deutsche und testet vorab eure Lichtschalter (und wenn sie kaputt sein sollten, versucht noch schnell einen Baumarkt zu finden, der trotz Corona-Lockdown geöffnet hat, vielleicht gibt es ja etwas auf dem Schwarzmarkt).

Ich selbst mache mich mal auf den Weg, mit dem Hund der Nachbarn spazieren zu gehen. Ich habe sogar »Leckerli« besorgt! Das Tier freut sich immer so über mich, ganz als wäre ich ihm eine »relevante Struktur«, und das will ich doch belohnen.

Weiterschreiben, Dushan!

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