Lillian »Lily« Phillips ist 23 Jahre alt, und jüngst wurde sie mit 101 Männern intim (metro.co.uk, 02.11.2024).
Frau Phillips und ihr Team bestellten 200 willige Männer ein (um auf, äh, »Ausfälle« vorbereitet zu sein). Man plante 15 Herren pro Stunde ein, von 9 Uhr am Morgen bis 7 Uhr am Abend.
Falls ihr nun die Rechnung im Kopf aufstellt: Das sind 4 Minuten pro Mann. Übrigens ohne Kondom und ohne medizinischen Test der Männer vorab. Durch Verzögerungen im Ablauf wurden es insgesamt 4 Stunden mehr. Einige Männer beschwerten sich dennoch, dass ihnen 5 Minuten versprochen worden waren, sie aber nur zwei »bekamen«.
So wunderbar großzügig
Die Aktion der Frau Phillips ist eine Marketing-Maßnahme für ihren Auftritt bei OnlyFans. Dieses »OnlyFans« ist de facto eine Plattform für digitale Prostitution, wenngleich sich die digitalen Prostituierten auch »Creators« oder »Models« nennen.
OnlyFans ist mehrheitlich im Besitz des Porno-Unternehmers und Milliardärs Leonid Radvinsky, eines ukrainisch-stämmigen Geschäftsmanns (siehe eng. Wikipedia).
Herr Radvinsky ist ein ehrenwerter Mann und spendet viel Geld für ehrenwerte Zwecke. Er spendete beispielsweise 5 Millionen US-Dollar für die Ukraine (businessinsider.com, 23.4.2024). Laut AIPAC-Dokumenten spendete er, wie berichtet wird, stolze 11 Millionen Dollar an dieses American Israel Public Affairs Committee, aber in seiner sympathischen Bescheidenheit bestreitet er das (rollingstone.com, 1.2.2024).
Eine der Damen, die ihren Körper online verkaufen und damit Herrn Radvinsky zum Milliardär machen, auch damit er so wunderbar großzügig sein kann, ist die hier besprochene Lily Phillips.
Von Nero kastriert
Sexuelle Handlungen mit mehr als zwei Beteiligten sind natürlich per se nicht neu.
Aus der römischen Antike berichten Sueton, Tacitus und Petronius von Orgien. (Vielbeachtet ist etwa der Fall des Jüngling Sporus, der von Nero kastriert, als Frau geheiratet und in ausschweifende sexuelle Aktivität einbezogen wurde. Nein, es ist auch nicht neu, dass Böse sich an Kindern vergehen … oder dass sie das Geschlecht der Kinder umoperieren wollen.)
Nein, sexuelle Sonderwege sind nicht neu. Es ist auch nicht neu, dass es uns schon mal schütteln kann, wenn wir von den Details hören.
Am speziellen Fall der Lily Phillips ist nicht der 101fache Akt selbst bemerkenswert – im großen Maßstab –, sondern etwas, was danach geschah.
Das aber, was danach geschah, das hätte es in dieser Form nicht zu Neros Zeiten geben können. Das kann es nur in den Zeiten geben, in denen die Technologie existiert, mit deren Hilfe Gestalten wie Herr Radvinsky zu Milliardären werden: billig gedrehte und weltweit verbreitete Videofilme.
Wie eine Prostituierte zu sein
Lillian Phillips wurde unmittelbar danach interviewt, wie es ihr denn so gehe. (Auszüge aus dem Interview sind bei der Suche nach »Lily Phillips« recht leicht zu finden, wenn man es selbst begutachten will.)
Frau Phillips sagt, frei übersetzt, unter anderem: »Ich denke, es fühlt sich irgendwie roboterhaft an. Beim dreißigsten etwa hatte ich eine Routine. Manchmal will man sich dissoziieren und sich sagen: Das ist nicht wie normaler Sex.«
Und sie sagt auch, wieder frei aus dem Englischen übersetzt: »Es ist nichts für schwache Mädchen, da will ich ehrlich sein.«
Nach diesem Satz folgt eine längere Pause, in welcher Phillips sichtlich um Fassung ringt. Dann sagt sie: »Ich weiß nicht, ob ich es empfehlen würde.«
»Warum nicht?«, wird sie gefragt, und die Kamera zoomt auf ihr Gesicht. Wir sehen, dass ihre Augen gerötet sind, dass ihr Blick hin und her flackert.
Phillips sagt: »Wenn du eine andere Art von Mädchen wärst … es ist sehr wie … es ist auf eine Weise wie eine Prostituierte zu sein, in dem Sinne, es ist einfach ein anderes … Gefühl.«
So stammelt sie noch eine Zeit lang weiter.
Und das ist der Unterschied zu den Bacchanalien der Antike oder den sexuellen Ausschweifungen diverser Democrats-naher US-Promis, der Diddy- und sonstigen Partys: Wir haben ein via Internet verbreitetes Video der Frau, und wir können selbst einschätzen, wie es ihr wirklich geht.
Die »Empfängerin« gab unmittelbar danach ein Interview, und vor allem die nonverbale Ebene dieses Interviews wirkt auf viele von uns schockierend.
Bis zu ihren Assistenten
Ich verlinke das Interview hier nicht direkt, weil praktisch überall, wo das Video online gepostet wird, die Kommentare der Zuschauer sehr dunkle Aspekte formulieren – teils mitleidig, teils denkbar unfreundlich.
Es wird kommentiert, kein respektabler Mann würde diese Frau jemals berühren – was natürlich auch eine deutliche Bewertung jener 101 Männer abgibt.
Andere Leite kommentieren, dass diese Handlung einen Akt der Selbstzerstörung darstellt. Es wurde ja alles gefilmt und die Aufnahmen werden wohl online verkauft.
All diese Videos, inklusive des Interviews, sind die Dokumentation einer selbstzerstörerischen Spirale, und niemand hält diese Dame in ihrer Selbstzerstörung auf – im Gegenteil. Zu viele verdienen zu viel Geld daran, vom Ukraine-Spender Radvinsky bis hin zu ihren Assistenten.
Lily in Tränen
Die vorherrschende Denkweise im Westen versucht, zwei konträr widersprüchliche Denkweisen gleichzeitig zu leben.
Zum einen wird die von körperlichen Freuden erzeugte Lust genossen.
Vom Restaurantbesuch bis zum Urlaub in der Sonne, vom angenehmen Parfum über aufregendes Sexspielzeug bis zum Action-Sport oder dem Besuch im Fitness-Center samt Sauna und Meditation: Die Menschen tun greifbare Dinge, um in ihrer abstrakten Psyche angenehme Gefühle entstehen zu lassen.
Den Menschen ist also praktisch bewusst, dass eine Handlung in der greifbaren, physikalischen Welt eine Folge in der abstrakten, ungreifbaren Welt der Psyche hat.
In anderen Angelegenheiten aber leugnen Menschen dann wieder vehement, dass eine greifbare Handlung am Körper eine psychische Folge haben kann – oder gar haben muss.
Am Ende des Interviews ist Lily in Tränen. Lily Phillips war der Lüge aufgesessen, dass der Mensch frei darüber entscheiden kann, welche Handlungen am Körper eine psychische Folge haben werden und welche nicht.
Dass sie zerbrochen wurde
»Du kannst Sex haben, so viel du willst«, so hatte man ihr wohl gesagt, »es ist nur Spaß, und dazu sogar noch Geldverdienen.«
So aber funktioniert der Mensch nicht. Der »Spaß« am Sex dient zwei Zwecken: Erstens der Vorfreude, damit wir uns überhaupt vermehren. Und zweitens der Bindung: Sexuelle Erregung und Orgasmus »binden« Menschen aneinander (siehe Young & Wang, 2004; Carter 1998).
Wenn ein Mensch allerdings oft genug die von der Evolution einprogrammierte Verbindung von Sex/Orgasmus und sozialer Bindung (sprich: Liebe) zerbricht, bleibt diese Verbindung eben getrennt und zerbrochen. Das heißt: Der Mensch bleibt zerbrochen.
Sicher, jeder Mensch fühlt, wie es in verschiedene Richtungen an ihm zerrt (für Details dazu siehe mein neues Buch »Dazwischenwesen«). In diesem Sinne ist Lily eben kein »Dazwischenwesen« mehr – der Riss ist vollständig, eines der »Pferde« hat gewonnen. Im Sinne des »Dazwischenwesens« ist sie bereits im Abgrund, auch wenn sie noch unter uns weilt und verstörende Interviews gibt.
Die These sei gewagt, dass Lily Phillips im Interview emotional zusammenbrach, als und weil ihr bewusst wurde, dass sie zerbrochen worden war – von 101 Männern, mit ihrer Genehmigung und aktiven Teilnahme.
Und doch lernen
In der Antike wurden ja nicht nur Orgien gefeiert. Es wurde auch philosophiert. Zum Beispiel von Platon, der im Dialog Phaedon »die Trennung der Seele von dem Leibe« verhandelt.
In der Geschichte des systematischen Denkens wurde immer wieder modelliert, dass die abstrakten Qualitäten des Menschen sehr grundsätzlich verschieden von den konkreten Eigenschaften des Menschen seien. Berühmterweise etwa von Descartes, der in der sechsten Meditation »den wirklichen Unterschied der Seele vom Körper« herausarbeiten will.
(Übrigens: Das aus dem Lateinischen stammende Wort »abstrakt« bedeutet wörtlich losgelöst. »Ab« bedeutet weg oder los, und »trahere« bedeutet ziehen. Der Wortstamm ist derselbe wie beim Traktor. – Zu sagen, dass Seele, Wort oder Gedanken »abstrakt« sind, das muss für Poeten wie uns bedeuten, dass diese Abstrakta vom Menschen gewaltsam weggezogen wurden, wie mit dem Traktor.)
Lily Phillips lässt sich öffentlich von 101 verkommenen Drecksäcken zerbrechen. Auf bittere Weise lernt sie, dass das, was wir »Seele« nennen, eine Funktion des Körpers ist (oder von mir aus: derart mit diesem verbunden, dass eine funktionale Loslösung nicht möglich ist, ganz egal, was die moderne »Moral« dazu sagt).
Das Risiko, dass ich mich auf ähnliche Weise prostituiere wie Frau Phillips, ist auf den ersten Blick sehr gering. Und doch können wir aus diesem horrenden Fall lernen.
Der Seele gut
Wir lernen: Keine Handlung der Hände, Füße und sonstiger Teile des Leibes bleibt ohne Konsequenz für die Seele.
Auch wir können uns selbst zerstören – oder uns zerstören und ausnutzen lassen. Mögen die Menschen, die uns ausnutzen und zerstören, noch so skrupellos sein: Wenn wir es waren, die dies zuließen oder es sogar initiierten, dann tragen wir selbst die Verantwortung.
»Go touch grass«, sagen die Jugendlichen heute. Damit empfehlen sie, dass man seine Seele wieder einschwingen lassen sollte. »Geh mal etwas Gras berühren«, und es wird dir an der Seele besser gehen!
Ja, vielleicht sollte ich mich vom Schreibtisch erheben, nach draußen gehen und dort mal wieder etwas Gras berühren.
Einen Hund kraulen. Oder Tanzunterricht nehmen, im Chor anmelden, das Gartenbeet von Hand umgraben und danach ein Bad nehmen … vielleicht mal wieder ein Bild malen.
Oder einfach nur das Gesicht in die Sonne halten.
Es täte gewiss der Seele gut!