Geziemt es sich, Hunde und Menschen zu vergleichen, ihre Vorzüge und Schwächen gegeneinander aufzuwägen? Und, weiter: Wenn man den Vergleich von Hund und Mensch ablehnt, welcher von beiden ist es, dem Unrecht angetan wird?
Nun, Jesus hat die Wertigkeit von beiden verglichen (was mir fern liegt):
Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und es vor die Hunde werfe. (Mt 15:26)
Mark Twain hat das Verhalten von Mensch und Hund verglichen (was mir wiederum durchaus zusagt):
Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und ihn gesund pflegst, wird er dich nicht beißen. Das ist der Hauptunterschied zwischen Hund und Mensch. (Mark Twain, The Tragedy of Pudd’nhead Wilson, Kap. XVI)
Ich will hier und heute und vielleicht später nochmal das Gewissen von Hund und Mensch vergleichen.
Ein wohlerzogener Haushund, der die Vase umwarf, der das Kissen zerriss oder das Schnitzel stahl, er weiß auf seine Weise, dass er Unrecht tat, sein Gewissen ist gequält und er zeigt es in Gesten der schuldbewussten Demut. So mancher Mitmensch aber wird dich belügen und bestehlen, und doch wird sein Gewissen von seiner Tat weniger aufgewühlt sein als ein Parksee bei Windstille; nein; wenig Inneres wird ihn erregen außer vielleicht seinem fetten Abendessen, allerhöchstens du wirst ihn stören, wenn du Recht und Gerechtigkeit von ihm einforderst.
Heute und vielleicht später
Verschiedene Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland standen unter verschiedenen Schlagwörtern. Da war der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, der Kalte Krieg, der RAF-Terror, die Wiedervereinigung – und heute eben die Messergewalt.
Im Text »Rassismus und politische Korrektheit haben dieselbe Motivation« schrieb ich:
Wir hatten als Pfadfinder allesamt lange Messer, und nie wurde ein Mitmensch auch nur angekratzt. Das Ankratzen wurde nicht einmal angedeutet! Es streifte nicht im Entferntesten unsere Gedanken, auch nur als blanke Möglichkeit, unser Fahrtenmesser selbst nur symbolisch gegen einen Menschen zu erheben.
Bis heute habe ich einen »Leatherman«, eine Art von Schweizer Taschenmesser auf Steroiden, welches ich vor 2001 noch problemlos auf Flüge mitnahm. Man weiß nie, wann man einen ausklappbaren Schraubenzieher braucht, um spontan einen PC zu reparieren. Der Leatherman liegt heute auf meinem Schreibtisch, während ich dies schreibe, und er erinnert mich an »normalere« Zeiten.
Auf Flügen sind Messer schon lange verboten, und wenn ich mich richtig erinnere, liegt es an ein paar Druiden, die ihre Religion missverstanden und ins World Trade Center flogen. Jetzt wollen Politiker in Deutschland auch an vielbesuchten Orten alle ernsthaften Messer ebenso ernsthaft verbieten – aus aktuellem und tausendfachem Anlass (siehe etwa welt.de, 15.5.2019). Wenn ich die Nachrichten richtig in Erinnerung habe, gab es da ein paar Messermissverständnisse, die vor allem von älteren Frauen mit zoroasthrischem Hintergrund ausgingen.
Von Niedersachsen ausgehend soll via Bundesrat ein Messerverbot eingeführt werden (siehe zdf.de, 11.5.2019). Man arbeitet an einer »bundesweiten Erfassung von Übergriffen mit Klingen«, doch die »Umsetzung dürfte laut Bundeskriminalamt jedoch mehrere Jahre dauern«. Ich nehme an, die Erfassung zur Klingenkriminalität wird zusammen mit dem BER-Flughafen abgeschlossen sein. Bis dahin haben wir keinerlei Ahnung, ob irgendwas mit irgendwas zu tun haben könnte. Spekulationen verbieten sich. Verstand auch. Gewissen sowieso. Man seufzt.
Erfahrungswerte und Kompetenz
Deutschland könnte sich mit Künstlicher Intelligenz, Wissenschaft und Mathematik beschäftigen, mit Philosophie, Kunst und der Verfeinerung des menschlichen Geistes. Man könnte etwas (mehr) Zeit und Energie in die Straßen und Brücken stecken, die mittlerweile so mies sind, dass die NATO sich darüber beschwert (bild.de, 15.5.2019). Statt dessen beschlossen die Weltenlenker in ihrer großen Klugheit, dass Deutschland sich mit Vielehe, Clans und eben Messergewalt beschäftigen sollte. Deutschland wird von Gestalten regiert, die es mit ihrem Gewissen und ihrem Verstand vereinbaren können, dass Arbeiter mit genau den Leuten auf dem Wohnungsmarkt konkurrieren, deren Unterhalt sie von ihren Steuern zu finanzieren gezwungen sind (siehe etwa jungefreiheit.de, 17.5.2019) – man fühlt sich erinnert an Bürger, die gegen den Staat zu prozessieren versuchen wagen, und via Steuern zugleich den eigenen Anwalt und die teueren Luxus-Anwälte des Staatsapparats finanzieren.
Mein ganzer Respekt gilt den Polizisten, die versuchen, der Messergewalt doch noch Einhalt zu gebieten. Inzwischen werden die Polizisten selbst von Messerprofis angegriffen, doch zusätzlich werden sie noch von Gutmenschen und Suizidalisten angegriffen, in Worten, vor denen eierlose Politiker beider Geschlechter kuschen. Aus den Redaktionsstuben der schreibenden Sesselfurzer wird gefordert, dass die Polizisten handeln, als ob die Welt so wäre, wie vor linker Gesinnung schon schielende Germanistikstudenten (wenn sie es überhaupt an die Uni schafften) sich die Welt eben so vorstellen – und nicht gemäß der Welt, wie sie böserweise ist.
Polizeiarbeit in Toleranz- und Gefahrengebieten wird heute zu gefährlicher Artistik auf dem Hochseil politischer Korrektheit – einem Seiltanz wohlgemerkt, bei dem auf dich gespuckt, geschimpft und mit scharfen Klingen eingestochen wird.
Hier eine Passage aus einem Interview in irgendsoeiner Linksgazette – die Fragen stellt eine adlige Journalistin mit Kreissaal-Hörsaal-Redaktionssaal-Hintergrund (und vermutlich viel Haltung), es antwortet Niedersachsens Innenminister:
Frage: Was begründet denn den Verdacht, dass jemand ein gefährliches Messer bei sich tragen könnte?
Antwort: Da verlasse ich mich auf polizeiliche Erfahrungswerte und Kompetenz.
Frage: Klingt eher vage. Kritiker warnen bereits vor anlasslosen Kontrollen.
Antwort: Das ist nicht vage. Und niemand wird unter Generalverdacht gestellt. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es gute Gründe gibt, solche Messer an stark belebten Orten nicht mit sich führen zu dürfen. (sueddeutsche.de, 16.5.2019)
Der Politiker tanzt kunstvoll um eine gedachte und mitschwingende Formulierung, die er nicht sagen darf (»wir kennen doch unsere Pappenheimer«); die Journalistin sucht und bohrt nach einem Anlass, sich zu empören, dass ein Politiker (einer von der SPD noch dazu!) es wagen könnte, die Welt zu beschreiben, wie sie ist, und nicht, wie sie sein »soll«.
Im späteren Verlauf des Interviews versichert der Politiker, irgendwelche Zusammenhänge zwischen Messergewalt und gewissen Kulturmoden gebe die Statistik nicht her. Ach ja.
Ich kenne das Spiel, doch ich mag die Regeln nicht. Wir ahnen, wir befürchten: Die Polizei und einige der Politiker verfügen über Verstand und über Gewissen, doch sie müssen tun, als fehlten ihnen weite Teile davon.
Eine Antwort auf die Frage, ob »denen da oben« der Verstand und/oder das Gewissen fehlt, könnte lauten: Manche haben Verstand und Gewissen, doch sie müssen tun, als fehlten sie, um nicht von Gutmenschen ausgestoßen zu werden und dann gar nichts mehr wirklich Gutes bewirken zu können.
Trefflich schimpfen
Die Toten und Verletzten durch Messergewalt, so tragisch jeder dieser Fälle ist, sie sind nur die Minderheit der Opfer; deutlich größer ist wohl die Zahl der Bürger, die verängstigt die Straßenseite wechseln oder hektisch in ein Geschäft einkehren, wenn sie auf Gruppen junger Leute mit gnostischem Hintergrund treffen, wenn Bürger die Parks und Plätze meiden – oder wenn sie sich zweimal überlegen, ob sie abends aus ihrer eigenen Wohnung heraustreten, weil davor jetzt Kanaaniter-Gruppen abhängen.
Man muss nicht im Krankenhaus oder im Sarg liegen, um ein Opfer von Messergewalt zu sein – schon die Angst, dem Falschen im falschen Moment in die Augen zu blicken, damit dieser nicht sein Messer zückt, auch diese Angst ist erlebte Messergewalt.
Die Dummheit und Gewissenlosigkeit der Propagandisten, deren Aufgabe es einst war, als »vierte Gewalt« den ersten drei Gewalten auf die klebrigen Finger zu schauen – und die jetzt den Klippenkurs eher antreiben, als dass sie ihn bremsen – die machen mich, wenn ich es bedenke, tatsächlich noch wütender als der Zynismus der Politiker, die das alles zuließen. (Der Verstandesmangel der höheren Tiere ist nun seit Jahrhunderten und Jahrtausenden ein bekanntes Phänomen, in großen Höhen ist der Sauerstoff eben dünner, und das hat Folgen, doch die erstaunliche Gewissensabwesenheit weiter Teile der leitmedial Wirkenden, die wirkt auf mich dann doch wie ein relativ neues Phänomen.)
Der Mangel an Gewissen und der Mangel an Verstand ähneln sich im inneren Wesen, von außen betrachtet sind sie oft kaum zu unterscheiden – von innen betrachtet vermutlich auch nicht. (Siehe auch den Text »Sind die dumm oder böse? Macht es überhaupt einen Unterschied?«.) Über beide lässt sich trefflich schimpfen; und doch gilt: Der Narr, der die Dummheit des Königs bloßstellt, ist dadurch nicht selbst schon weise. Wer sich dem »2+2=5« verweigert, der sollte auch selbst angeben können, was die Gleichung denn richtigerweise ergibt.
Der wohlerzogene Hund
Es genügt mir nicht, mit der Faust gen Himmel über den-und-die-da-oben zu schimpfen wie Opa Simpson im TV-Cartoon (»Old Man Yells At Cloud«). Was sollte es nützen? Kann man »denen da oben« ein Gewissen einreden? Frau Merkel brauchte ein Jahr, bis sie den Breitscheidplatz besuchte (siehe etwa morgenpost.de, 12.12.2017), und dann guckte sie dort Bratwürste an und grinste für Selfies – sie definiert »Gewissen« anders als ich.
Zum einen – und dabei bleibt es – haben die Überlebenswilligen und Zukunftsbedachten auch weiterhin wenig andere Wahl, als sich den äußerlichen, materiellen und doch privaten »Innenhof« einzurichten; einen Ort, der schön ist und der doch geschützt ist, wo man das Böse der Guten fernhalten kann – solange man es darf.
Zum anderen aber scheint es mir dringend und täglich neu notwendig, auch den immateriellen, den geistigen »Innenhof« auszubauen, und dazu gehört eben auch die Gewissensbildung.
So berechtigt und sachlich richtig es sein mag, über den Mangel von Verstand und Gewissen bei Politikern und Journalisten zu schimpfen, so ungenügend schiene es mir, es beim Schimpfen zu belassen – ist mein eigenes Gewissen denn feiner?
Der wohlerzogene Hund kennt sein Herrchen, und er weiß, wem er verantwortlich ist (er kennt seine »relevanten Strukturen«). Der freie Mensch aber – und Freie wollen wir sein! – ist zuerst seinem Verstand und seinem Gewissen verantwortlich, doch wer ist Herr unseres Gewissens, wer pflegt unseren Verstand?
Wenn der Verstand nach Halt sucht und das Gewissen nach Unterkunft, dann kann die Pflege dieser so wichtigen inneren Instanzen den An-sich-Arbeitenden in nicht zu unterschätzende Einsamkeit führen.
Ein wohlerzogener Hund weiß, wo sein Zuhause ist. Er weiß, wer sein Herrchen ist – der freie Mensch aber sollte sein eigenes Herrchen sein – bin ich das? Gleichen wir nicht allzu oft dem hungernden Streuner, durch die Straßen der Werte und Wahrheiten irrend, uns tapfer einredend, unser Verlorensein sei Freiheit und die innere Einsamkeit eine Notwendigkeit der Zeit?
Wäre ich nur so sicher in meinen privatesten Angelegenheiten wie ein wohlerzogener Hund sich seiner Moral sicher ist, ich wäre schon fast mit mir zufrieden.
»Hunde werden auch krank und Hundekrankheiten versteht doch eigentlich niemand«, schreibt Kafka im Blumfeld. – Nur das tote Gewissen ist ganz ruhig und nur der abgestorbene Verstand ist ganz mit sich zufrieden, doch wer versteht das?
Wer an der Gewissenlosigkeit und Verstandesferne der Mächtigen und Möchtegerns leidet, und wer es unternimmt, sein eigenes Gewissen bedachter zu möblieren und seinen Verstand um ein oder zwei Zimmer zu erweitern, und wer dabei wiederum auf neue Unannehmlichkeiten stößt, so wie ich jeden Tag, auf leidvolle Grübelei, auf inneres Zerrissensein und auf ganz neue Arten von Seelenpein – meine Brüderschaft sei ihm gewiss, diesem Hund.