Straßenverkehr braucht Regeln. Menschliches Miteinander braucht Regeln. Spiele wie das Schachspiel bestehen sogar aus nichts als Regeln. (Die Figuren sind optional und dienen dazu, den Spielstand zu dokumentieren.) Selbst eine Schifffahrt auf Parkseen braucht Regeln, wie die Experten wissen!
Sollte also das Denken ohne Regeln auskommen? Nein. Das Denken braucht ebenfalls Regeln, gute, zuverlässige Regeln.
Es ist ein Problem, wenn die Regeln fürs Denken von außen und draußen kommen. Es ist der Denkqualität abträglich, sich das Denken von Dritten bestimmen zu lassen, umso mehr aber vom Ersten oder vom Zweiten!
Eine Regel des Denkens (hier konkret gemeint: des pragmatischen Schließens), die ich mir selbst gegeben habe, geht so: Bosheit und Dummheit sind von außen nicht zu unterscheiden; sie führen zum gleichen Ergebnis und sollten gleich bewertet werden.
Zwei mal drei Wörter tragen in sich wie ein Hologramm die ganze Merkelkatastrophe, und diese drei Wörter sind einmal »wir schaffen das«, und einmal »ist mir egal«. Der ganze Satz lautet: »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da.« (welt.de, 27.9.2015)
Vergessen wir – so das Gewissen eines Demokraten solches erlaubt – für einen Augenblick, dass dieser flapsige Satz fast schon zugibt, gegen den Amtseid verstoßen zu haben. (Sie wissen schon: Schaden abzuwenden von denen, die schon länger da sind – solche »populistischen« Gedanken halt.) Aktuell wird eine Ermittlung gegen die Chefin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle Bremen, geprüft, wegen des Verdachts der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt (faz.net, 23.5.2018) – vergessen wir für einen Moment die Frage, ob ein ähnlicher Vorwurf nicht zuerst einer anderen, weiter oben sitzenden Dame gemacht werden könnte. Ignorieren wir für einen Augenblick, was es bedeutet, dass und wie die Regierung und ihre Helfer das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und ihre Organe beschädigen.
Betrachten wir für den Moment nur diesen einen Gedanken: Die böse Absicht und die blanke Dummheit sehen von außen betrachtet gleich aus; sie haben die gleichen Folgen – und sollten folglich auch gleich bewertet werden.
Dass Dummheit und Bosheit in Mechanismus und in den Folgen nicht zu unterscheiden sind, das wird in den letzten Jahren wieder und wieder vorgeführt. Berliner Stadtpolitik, dieses selbstbesoffene Staatsversagen: Bosheit oder Dummheit? Die Blauäugigkeit politischer Dünnbrettbohrer vis à vis präaufklärerischer Ideologie: Bosheit oder Dummheit? Das Aufgeben von Bildungsstandards (außer für die eigenen, privat beschulten Kinder, so man denn welche hat) im Angesicht einer globalen Know-How-Explosion; andere Länder investieren in IT-Unterricht ab der ersten Klasse und die vierte Sprache ab der fünften, in Deutschland ist man schon froh, wenn Schüler nicht fertiggemacht werden, wenn und weil sie »Ungläubige« sind – ist das von der verantwortlichen Politik nun Dummheit oder Bosheit? Es macht, von außen betrachtet und in der Konsequenz keinen Unterschied.
»Ich habe es nicht so gewollt!«, verteidigt sich der Bully auf dem Schulhof, wenn er dem Erstklässler einen Zahn ausgeschlagen hat. Wie hätte er wissen können, dass eine Schaukel, die man einem Mitmenschen mit ganzer Kraft ins Gesicht schleudert, einen Zahn ausschlagen kann?
Das Recht unterscheidet, ob eine Tat mit Absicht geschah oder nicht. Wenn der Richter dir glaubt, dass du gar nicht die Absicht hattest, dein Gegenüber zu töten, als du ihm ein Messer in den Bauch gerammt hast, dann kann das den Unterschied zwischen Freispruch und langen Jahren im Gefängnis bedeuten.
Ich habe bei mancher Schulhof-Prügelei den Verdacht, dass die Unterscheidung zwischen Bosheit und Dummheit der Sache nicht wirklich hilft, dem Frieden kaum, den Opfern noch weniger und der Gerechtigkeit erst recht nicht. Spätestens beim zweiten Mal weiß der Prügelnde doch, was passiert, wenn er die Fäuste dem Mitschüler ins Gesicht schwingt – und er lernt schnell, dass er sich immer wieder mit »keine Absicht« vor dem Lehrer – oder später dem Richter – herausreden kann. Ich habe bei mancher Bewährungsstrafe den zarten Verdacht, dass die Täter mit der Bereitschaft der Richter, keine böse Absicht anzunehmen, planvoll gespielt haben könnten. (Ich hoffe deshalb, das höflich genug gesagt zu haben. Richterschelte ist stets problematisch, ich weiß.)
Ich weigere mich aber vollständig, Politik zu entschuldigen, die aktiv gegen ihren Amtseid zu verstoßen scheint – und dann tut, als habe sie all das nicht gewusst, es gäbe »keine Verbindung« et cetera. Wenn der Bürger seine Heimat verliert, ist ihm reichlich egal, ob die politische Handlung, die dazu führte, »dumm« oder »böse« war.
»Wenn das der Kaiser wüsste!«, so rief man einst, nicht nur in Wien. Der Hörer aber fragte und fragt sich: Ja, was wäre dann, bitteschön?
»Wenn das die Kanzlerin wüsste«, mag man heute ausrufen, »und wenn sie außerdem wüsste, dass sie an den Zuständen ein gerüttelt Maß an Schuld trägt!«
Der Hörer antwortet: Sie weiß es. (»Ist mir egal«, sagt sie dazu.)
Dummheit und Bosheit sind von außen nicht zu unterscheiden; sie haben die gleichen Folgen und wir sollten sie gleich bewerten.