Dushan-Wegner

25.04.2019

Macht es Sie nervös, daran zu denken, wie die Welt in dreißig Jahren aussehen wird?

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Merve Aydın
Ich werde heute 45 Jahre alt. Ich kann mich noch erinnern, als mein Vater ähnlich jung war. In was für einer Welt werden meine Kinder leben, wenn sie so alt sind, wie ich es heute bin? Mir wird bange, wenn ich darüber nachdenke.
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»So, dann bin ich jetzt also vierzig Jahre alt«, sagte mein Vater. Ich erinnere mich noch Jahrzehnte später an den Moment.

Wir lebten in der Kaulardstraße in Hürth-Efferen, einem Vorort von Köln. Es war eine kleine, sehr einfache und damit günstige Wohnung, doch sie barg einen charmanten Bonus: Es gab eine Terrasse samt Garten, und die Vorgänger hatten dort ausgiebig Erdbeeren gepflanzt. Wenn Erdbeersaison war, kauften wir uns günstige Tortenböden und Tortenguss, den man damals noch »Tortenguß« schrieb, und wir hatten einen schier unerschöpflichen Vorrat an leckerem Erdbeerkuchen, den wir in der Konditorei kaum hätten bezahlen können – zumindest nicht in dieser Menge!

Der Geburtstag meines Vaters liegt im Winter und die Erdbeersaison fällt auf den frühen Sommer, doch das sind die zwei Erinnerungen, die ich mit jener Zeit in der Kaulardstraße verbinde: Erdbeerkuchen, so viel man wollte, und mein Vater, der an seinem Geburtstag verwundert seufzt, dass er nun also vierzig sei.

Es ist der 25. April 2019. Ich bin am Tag der portugiesischen Nelkenrevolution geboren, die ist nun 45 Jahre her, und damit werde ich heute 45 Jahre alt. Ich beginne, glaube ich, den Seufzer meines Vaters von damals zu verstehen. Ähnlich wie mein Vater damals seufze ich, nicht trauernd oder panisch, sondern vor allem verwundert: »So, dann bin ich jetzt also 45 Jahre alt.«

Meine Kinder sind heute fast so alt wie meine Schwester und ich damals waren, doch die Welt ist eine andere, eine sehr andere.

Revolution von oben

Eine Evolution ist eine Weiterentwicklung, eine Revolution dagegen ist ein Umsturz, eine so radikale Veränderung, dass das Neue kaum noch als konsequente Fortentwicklung des Bisherigen angesehen werden kann.

Der Westen erlebt in diesen Jahrzehnten etwas, das man eine »stille Revolution« nennen könnte. Grundfesten westlicher Zivilisation werden ausgetauscht oder ganz entsorgt, und heute, wo immer mehr Menschen es zu merken beginnen, ist es fast schon zu spät.

In Europa ist derzeit Wahlkampf, und Mainstream-Politiker scheinen einander übertrumpfen zu wollen im Wettbewerb darum, wer Deutschland inniger verabscheut und zugunsten übergeordneter Mächte schwächen oder gleich ganz abschaffen will (siehe »Das EU-Wahlprogramm von CDU/CSU und die Sehnsucht nach dem Europa-Staat«, aber auch welt.de, 24.4.2019: »Manfred Weber: »Die Nationalisten sind die Feinde««). In den letzten Jahrzehnten sind wir in eine umgekehrte Gaga-Welt hineingerutscht, wo jener Politiker als »gut« betrachtet wird, der den Amtseid am konsequentesten ins Gegenteil verkehrt.

Etwas ist passiert, eine von oben angetriebene Revolution, welche Werte und Wahrheiten ins Gegenteil verkehrt. Worte und Ideen bedeuten ihr Gegenteil. »Linke« von heute kämpfen für die Interessen von Globalisten, Spekulanten und Demokratiefeinden – und wer für Demokratie, Rechtsstaat und kleine Leute eintritt, wird als »Rechter« oder gar »Faschist« beschimpft.

Einst schickte man Kinder zur Schule, auf dass sie klüger werden und beschützt sind – heute muss man fürchten, dass Kinder in der Schule dümmer werden, dass sie indoktriniert werden, auf Parteilinie gedrillt und regelmäßig zu Demonstrationen und Willensbekundungen für die »offizielle Wahrheit« abkommandiert werden. Eltern fühlen sich hilflos angesichts der bildungspolitischen »Revolution von oben« – doch was sollen sie tun? Soll man Kinder etwa nicht zur Schule schicken? Das wäre illegal. Nicht jeder kann sich wie Politiker und Meinungsbonzen (wenn die denn Kinder haben) eine teure Privatschule leisten.

Einst waren Zeitungen und Medien eine vierte Macht, welche Politiker kontrollierte – heute kontrollieren Staats- und Leitmedien die Meinung des Volkes, und sie prügeln hemmungslos auf Abweichler ein.

Ein gefährlich großer Teil der Deutschen – genug, um Wahlen zu entscheiden – lebt heute geistig in einem Propaganda-Kokon, in einer hermetisch abgeriegelten Hülle aus Halbwahrheiten, Moralwahrheiten und politisch korrekten Lügen, deren Fürwahrhalten von oben via Moralkeule angeordnet wird. Öffentliche Debatte besteht weitgehend im Abfeuern von Triggerwörtern (»Rassist!« »Toleranz!« »Wir sind mehr!«), und was meiner Generation noch als die edle Kunst des besseren Arguments vermittelt wurde, gilt heute als schmutzig und des »Populismus« verdächtig.

Deutschland und Teile des Westens erleben eine stille Revolution von oben, welche unsere Fundamente und Grundwerte angreift, wie Freiheit (NetzDG, Uploadfilter), Rechtsstaat (offene Grenzen, Sharia-Toleranz), Bildung (politische Korrektheit), Wohlstand (De-Industrialisierung, Energiewendewende, Technikfeindlichkeit) und die Demokratie selbst (Dämonisierung der Opposition, Ideologisierung vom Kindergarten an).

So seufze ich heute: »So, dann bin ich also 45, und das ist die Welt, die meine Kinder erben sollen – was nun?»

 

Einerseits, Andererseits

Auch ich habe mich verändert – und das ist gut und normal so (hoffe ich).

Einerseits bin ich zufrieden. Ich habe eine schöne und kluge Frau, und dazu zwei wunderbare Kinder, die mehr Sprachen sprechen als ich und besser in der Schule sind als ich es je zu träumen hätte wagen können. (Zum Glück lesen die Kinder meine Essays nicht – ich versuche, Politik aus dem Familienleben herauszuhalten – also darf ich es Ihnen sagen: Die Kinder sind auch weit braver, als ihr Vater es war, aber wehe, die erfahren das!!)

Andererseits, ich sorge mich, ich bin besorgt: Wir gleiten in eine Welt hinein, in der sich der einzelne Denkende vor der boshaften Dummheit der sogenannten »Guten« schützen muss. Wie wird eine Welt aussehen, in welcher der Mensch, der »einfach nur leben« will, sich immerzu gegen die zombiehafte Dummheit der sogenannten »Guten« zur Wehr setzen muss? (Und: Haben wir das in Europa nicht schonmal probiert?)

Ist 45 eine Halbzeit? Sagen wir es so: Ich kenne nicht allzu viele Neunzigjährige.

Nun bin ich also 45. Als mein Vater damals seufzte, er sei 40, drehte sich meine Welt zuerst um mich – ich plante und träumte, was ich mit meinem Leben anstellen würde. Ich wollte diverse Sportarten rollender Art ausprobieren und mich an Computern versuchen, ich träumte von Marken-Turnschuhen und dem neuesten Lamy-Füller. Für Jugendliche ist das gut und richtig so.

Heute bin ich mir selbst längst nicht mehr so wichtig, wie meine Kinder sich selbst wichtig sind – und sein dürfen. Sicher, man genießt die kleinen Freuden des Lebens, doch während eines üblichen Tages denke ich weit, weit mehr an meine Leser und an meine Kinder als an mich.

Wittgenstein gab sich und damit der Philosophie einst die Aufgabe, der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zu weisen (siehe auch: »Es gilt, am Irrsinn nicht irre zu werden«), ich bin heute weit bescheidener: Ich bin im selben Fliegenglas gefangen wie jeder andere, der nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, zwei plus zwei für fünf zu halten. Am Irrsinn nicht irre zu werden, das ist fast schon alles, was ich heute anstrebe, und das wäre nicht wenig.

Etwas Erdbeerkuchen

Liebe Leser, trauen Sie sich, daran zu denken, wie die Welt in dreißig Jahren aussehen wird? Ich will ganz offen sein: es lässt mich bange werden. Ich versuche, mit Skizzen wie dem »Lied der Innenhöfe« im Nebel mögliche (Flucht-) Wege zu ertasten, doch die Zukunft betreffende Vorhersagen bleiben weiterhin schwierig.

Irgendwann werden – hoffentlich – meine Kinder zurückblicken, und sich daran erinnern, als ihr Vater vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt war. Was werden sie denken? Werden sie froh oder besorgt sein? Froh oder ängstlich? Werden sie hoffen?

Die Welt unserer Kinder wird anders sein; sie wird teils geprägt sein von Ereignissen und Technologien, die wir heute höchstens erahnen können (siehe auch: »Künstliche Intelligenz und Mäusespeck«), doch sie wird auch geprägt sein von den Folgen der zur Staatsräson gewordenen Dummheit, welche mit der »stillen Revolution« einherging.

Was werden meine Kinder dereinst sagen, wenn sie auf mich zurückblicken? Ich hoffe, ich arbeite daran, dass sie sagen können: Unser Vater hat uns ermutigt, zu finden, was uns wirklich wichtig ist, es dann zu schützen, es zu bewahren, und es, wenn notwendig, auch zu verteidigen. Ich hoffe, sie werden glücklich.

Und dann, vielleicht, bringen meine Kinder ihrem alten Vater etwas Erdbeerkuchen vorbei.

Weiterschreiben, Wegner!

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