12.12.2024

Warum demonstrieren Syrer auf dem Weihnachtsmarkt?

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: »Frohe Weihnacht Allerseits«
In Essen marschieren Syrer über den Weihnachtsmarkt, rufen »Allahu Akbar«. Die einheimischen Besucher müssen ausweichen. Eine Demo ist die Forderung nach einer Veränderung. Simple Frage: Welche politische Veränderung wird hier gefordert?
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

In Essen marschieren Syrer über den Weihnachtsmarkt (tichyseinblick.de, 11.12.2024). Eine Demonstration – und statt »Demonstration« möchte mancher Beobachter sagen: Machtdemonstration.

Die Männer im wehrfähigen Alter rufen »Allahu Akbar« und bahnen sich einen Weg durch die Menge. Es wirkt einschüchternd – und Leuten, die dort waren, fällt auch der Begriff »Vorgeschmack« ein.

Sondern etwas anderes

Im Essay »Wogegen demonstrieren eigentlich Politiker?« führte ich aus, dass es offen anti-demokratisch gedeutet werden kann, wenn gewählte Politiker demonstrieren. Eine Demonstration ist die Erklärung eines politischen Willens, der an aktuell etablierten Möglichkeiten demokratischer Willensäußerung vorbei geäußert werden soll.

Eine Demonstration äußert ein Stück weit konkretes Misstrauen in die bestehenden politischen Prozesse. Nicht »dennoch«, sondern gerade deshalb sind Demonstrationen in Demokratien so wichtig: als eingeplantes Ventil. Demonstrierende Politiker aber – die womöglich sogar einer Regierungspartei angehören! – bekunden mit der Teilnahme an Demonstration ihr Misstrauen in die demokratischen Wege, sie ge- und missbrauchen ein definitiv nicht für sie bestimmtes »Ventil«.

Eine Demonstration fordert politische Veränderung, an den üblichen Entscheidungswegen vorbei. Welche politische Veränderung fordern aber die Syrer, welche die Einheimischen auf dem Weihnachtsmarkt in Essen »demonstrativ« verdrängen?

Die ehrliche und realistische Antwort könnte, frei nach einem deutschen Innenminister, einen Teil der Bevölkerung verunsichern.

Aber auch nicht nicht

Der größere Kontext des Syrer-Marsches über den Essener Weihnachtsmarkt ist der Coup gegen den syrischen Machthaber Bashar al-Assad, welcher abgesetzt wurde und nach Moskau floh (reuters.com, 9.12.2024).

An Assads Stelle wurde Muhammad al-Bashir eingesetzt, als Chef einer Übergangsregierung (news.sky.com, 12.12.2024). (Von wem genau wurde er eigentlich eingesetzt?)

Muhammad al-Bashir war Chef des zivilen Flügels der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), welche vom syrischen Ableger von Al-Qaida abstammt.

Es ist bekannt, dass die amerikanische CIA die Mudschahid in Afghanistan unterstützte. Aus diesen ging dann später Al-Qaida hervor (brookings.edu, 5.9.2011). Es ist davon auszugehen, dass auch heute CIA & Co. mindestens Informanten innerhalb von Al-Qaida betreibt. Man geht wohl nach jenem pragmatischen Prinzip vor, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. (Bis er es nicht mehr ist … und dann später doch wieder, wenn man ihn braucht).

Ach ja … die Frage, die ich mir hier heute stelle, die ist ohnehin viel lokaler: »Was ist die Absicht der Syrer in Essen, die über den Weihnachtsmarkt marschieren?«

Dringende Empfehlung

tichyseinblick.de kommentiert den Marsch der Syrer über den Essener Weihnachtsmarkt: »Von Zurückhaltung angesichts des vorweihnachtlichen Idylls keine Spur: Die Syrer sangen, pfiffen, trommelten und skandierten ›Allahu Akbar‹ und zwangen somit die Anwesenden, Zeugen ihrer gelebten Landnahme zu werden.«

Im Staatsfunk wird man vermutlich vergeblich darauf warten, aber im Staatsfunk finden sich Video-Aufnahmen der einschüchternden Szenen (etwa bei @ainyrockstar, 10.12.2024.)

Wenn man die Bilder sieht, wird deutlich: Der Marsch der Syrer über den Weihnachtsmarkt nimmt zwar die Absetzung des Herrn Assad zum Anlass, doch das wahre politische Anliegen ist womöglich ein anderes – und das wäre auch dann begriffslogisch möglich, wenn kein einzelner der Anwesenden das bewusst formulieren kann.

Wenn diese Herren sich wirklich nur so freuen, dass Assad nun fort ist und ihre Heimat frei, würden sie ein jeder Flugtickets (nur Hinflug) nach Syrien kaufen? Wir wissen, wie realistisch das ist.

Diese Demonstration fühlt sich wie eine Machtdemonstration an. Die Syrer hätten ihre Freude über die »Befreiung« ihrer Heimat durch die Al-Qaida-Nachfolger überall in der Stadt zum Ausdruck bringen können, doch sie taten es symbolstark auf dem Weihnachtsmarkt.

Es fühlt an wie die praktische und greifbare Verdrängung der Einheimischen, demonstriert durch die Verdrängung der Einheimischen bei Ausübung einer traditionellen Handlung. Wir fürchten uns so sehr vor jedem Gedanken »wir gegen die«, dass wir blind wurden, wenn es »die gegen uns« geht.

Wir sind … »kolonisiert«

Anabel Schunke formuliert: »Was soll man hier noch machen? Es ist vorbei. Wir sind islamisch kolonialisiert und dieses wehrlose Land und seine wehrlose, überalterte, wohlstandsverwahrloste Gesellschaft hat dem nichts entgegenzusetzen.«

Ich sage: Starrt nicht bloß wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange!

Ihr seid doch freie Menschen – so sagen zumindest die Optimisten unter den Philosophen –, also handelt auch wie freie Menschen!

Ich empfehle einem jeden von uns dringend, wenn nicht bereits geschehen und längst umgesetzt, persönliche Konsequenzen aus dem Absehbaren zu planen.

Ihr seid keine Kaninchen, und entgegen der Manipulationen von Propaganda und Staatsfunk gilt doch: Es gibt keine moralische Pflicht zum Stillhalten und Sichfressenlassen.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Texte (inzwischen 2,269 Essays) und Angebote wie Freie Denker sind nur mit Ihrer regelmäßigen Unterstützung möglich.

Jahresbeitrag(entspr. 1,50 € pro Woche) 78€

Neu: Dazwischenwesen

Es gibt ein neues philosophisches Buch von eurem liebsten Essayisten, eine Meditation über unseren Abgrund.

»Dazwischenwesen« ist genau die richtige Lektüre zur Aufmunterung an nassgrauen Winterabenden!

mehr Info →

Zufälliger Essay

Auf /liste/ finden Sie alle bisherigen Essays – oder klicken Sie hier, um einen zufälligen Essay zu lesen.

E-Mail-Abo

Erfahren Sie gratis, wenn es ein neues Video und/oder einen neuen Essay gibt – hier klicken für E–Mail-Abo.

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)