Dushan-Wegner

26.01.2021

Regeln und Grenzen der Heimgymnastik

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Riccardo Mion
»Wenn es weh tut, dann machst du es wahrscheinlich falsch« – wohl eine gute Regel beim Bodenturnen. Wie ist es aber bei der Politik? Kann eine Politik, die immerzu Schmerzen bereitet, richtig sein?
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»Wenn es weh tut, dann machst du es wahrscheinlich falsch!« – wäre dies eine gute Lebensregel? Sollte man einem Menschen raten, eine Tätigkeit fortzuführen, die ihm weh tut? Oder wäre er besser beraten, lieber schnell aufzuhören, wenn er Schmerzen spürt?

Ich hatte mir ja vorgenommen, keine guten Vorhaben fürs neue Jahr aufzustellen – seine Sinne beisammen zu halten ist heute ja Vorhaben genug – doch die Kinder hatten wohl irgendwelche guten Vorhaben von der Schule nach Hause eingeschleppt.

Plötzlich standen die Kinder im sportlichen Wettbewerb zueinander! Wer schafft mehr Liegestützen? Wer bekommt mehr Situps hin? Wer »plankt« länger?

Natürlich musste ich gemäß meiner väterlichen Pflicht auch meinen Ratschlag dazugeben – und als Profi-Theoretiker hat man ja zu allem einen klugen Gedanken parat – und dieser Ratschlag lautete: »Wenn es wehtut, dann lieber aufhören!«

Die Logik meiner Mahnung war: Bei einer einfachen Übung, bei welcher das Gewicht des eigenen Körpers und die eigene Beweglichkeit den zu überwindenden Widerstand darstellen, sagt der Körper uns ganz natürlicherweise, wann wir riskieren, ihn und damit uns selbst zu verletzen. (Anders als etwa beim Fußball, wo kein natürliches inneres Signal uns warnt, wenn wir kurz davor sind, das Schienbein eingetreten zu bekommen.)

Meine Kinder aber sind, wie wohl alle Kinder, ganz natürliche Meister in der Kunst des Ausredenfindens. Selbst für Tätigkeiten, die sie eigentlich tun wollen und auch freiwillig tun, finden sie reflexhaft Ausreden! Und also wurde schnell die Argumentation gefunden: Ist denn nicht alle Anstrengung schmerzhaft? Sollen wir wirklich aufhören, wenn es unangenehm wird? Wenn sie jenen alten Spruch kennen würden, dann hätten sie wohl erklärt: »Sport ist Mord!«

Wie legt man es fest?

Wir wissen aus der Erfahrung, dass einige der simpelsten und scheinbar offensichtlichsten Fakten unseres Lebens erstaunlich in Worten auszubuchstabieren sind.

Zu den bis heute ungeknackten Selbstverständlichkeiten gehören bekanntlich die Frage nach Wesen des Bewusstseins (»Was unterscheidet einen Menschen mit Bewusstsein von einem Zombie?«) oder die Frage nach dem Ich (»Wovon reden Sie genau, wenn Sie ›ich‹ sagen?«). (Immerhin der Frage nach dem Wesen der Moral meine ich mit den »Relevanten Strukturen« auf nützliche Weise nähergekommen zu sein.)

Wie legt man also fest, was ein nützlicher Schmerz ist und was ein unnützer? Wie legt man es fest, wie erklärt man es den Kindern – und sich selbst?

Wir kennen Kants (durchaus hinterfragbaren) kategorischen Imperativ, wonach man sich jederzeit so verhalten soll, dass daraus eine allgemeine Maxime abgeleitet werden könnte. In ähnlichem Geiste ließe sich ad hoc ein elterlicher Imperativ aufstellen: Stell deinen Kindern nur solche Regeln auf, die du auch im Detail begründen könntest. (Und zwar vor dir selbst begründen, theoretisch – nicht tatsächlich vor den Kindern! Eltern sollten sich nicht vor den Kindern rechtfertigen – aber umso mehr vor sich selbst!)

Die Frage nach dem Schmerz, einfachstmöglich formuliert, klänge so: Was ist guter Schmerz und was schlechter?

An diesem Punkt teilt sich die Leserschaft dieses Essays in zwei Teile.

Der eine Teil wird lange grübeln.

Der andere Teil sieht, dass die Worte »gut« und »schlecht« sehr nach den ethischen Begriffen »gut« und »böse« klingen, und also wenden wir praktisch automatisch zur Probe die Relevante-Strukturen-Begriffe an, und dann klänge die Antwort etwa so:

Ein »guter« Schmerz ist einer, der eine oder mehrere uns relevante Strukturen stärkt (und keine in vergleichbarem Maße und/oder auf nachhaltige Weise schädigt).

Und, im Gegenzug: Ein »schlechter« Schmerz ist einer, der eine oder mehrere uns relevante Strukturen schwächt (und keine in vergleichbarem Maße und/oder auf nachhaltige Weise stärkt).

Felsbrocken und Geburt

Wirklich stimmige Erklärungen (wie auch Regeln) müssen sich auch in Extremsituationen bewähren, also lassen Sie unsere Erklärung des »guten« wie des »schlechten« Schmerzes an den Extremen testen!

Der Bergsteiger Aron Ralston (siehe Wikipedia) ist heute einem weiten Publikum jenseits der Bergsteiger-Szene dafür bekannt, dass er sich selbst den Arm abtrennte, welcher von einem Felsbrocken eingeklemmt war. Indem er sich diesen für uns kaum vorstellbaren Schmerz zufügte, und seinen Arm maximal nachhaltig beschädigte, rettete Ralston sein Leben, was ja eine klar relevantere Struktur als der Arm allein ist.

Zu den stärksten Schmerzen, die Menschen kennen, gehört zweifelsohne die Geburt des Kindes – und doch nehmen Frauen es wissentlich auf sich, denn in diesem Schmerz stärken sie eine Struktur, die uns von Natur aus super-relevant ist, nämlich die eigenen Kinder.

Unsere erste Frage, also die nach dem guten und dem schlechten Schmerz beim Sport, ließe sich vielleicht so beantworten: Ein guter Schmerz beim Sport ist einer, der die Muskeln und den Körper nachhaltig stärkt, selbst wenn er das aktuelle Bedürfnis die Masse träge sein zu lassen, massiv stört, solange keine nachhaltigen Schäden entstehen. Und wenn wir genau darauf achten, wie sich die Muskeln anfühlen, und wenn wir ehrlich zu uns sind, dann spüren wir (hoffentlich) den Unterschied.

Vor der nächsten Yoga-Stunde

Es wäre nun vielleicht ein charmantes Leben, wenn die einzigen Schmerzen, die wir kennen, von der gesunden Arbeit unserer Muskeln bei gymnastischen Übungen stammten. Und es wäre vielleicht nett, wenn wir als einzige Angst – es wäre ja kaum »Angst« zu nennen – die Furcht vor der nächsten Yoga-Stunde angeben könnten. (Gegenargument: Wer sich jemals mit Menschen unterhält, die tatsächlich keine Schmerzen und Sorgen außer solchen Luxus-Sorgen kennen, könnte womöglich schnell seinen Wunsch wieder kassieren – oder beschließen, dass er der erste Mensch wäre, der nicht an völliger Sorglosigkeit innerlich ganz verdreht wird.)

Wir schreiben das Jahr »2021« (und zu diesem Jahreswechsel ging die Umstellung erstaunlich einfach – früher verschrieb ich mich noch bis weit in den Februar hinein). Dies ist das Jahr, für welches 2020 der Auftakt war. Es ist uns auferlegt, manchen Schmerz zu ertragen. Was gestern noch als Tugend galt, etwa das fleißige Kleinunternehmertum, das kann heute den Menschen in den Bankrott und an die Grenzen seiner Freude am Leben führen (siehe auch den Essay vom 25.1.2021: »Sieh dich um!«).

Mein größter Zwist mit den Maßnahmen und Schmerzen, welche uns auferlegt werden, ist durchaus nicht, dass sie uns überhaupt auferlegt werden.

Mein Zweifel ist ein anderer: Ich frage mich, ob diese Schmerzen auch gute Schmerzen sind.

Ich sollte ergänzen

Schon lange vor der Corona-Krise klangen die deutsche Politik und ihre monatlich realitätsfremderen Richtungsvorgaben wie die willkürlichen Lehren einer lächerlichen, aber gefährlichen Sekte. Jetzt, durch das chinesische Virus, wurden uns neue Schmerzen auferlegt. Schon jetzt ist klar, dass wenn diese Schmerzen durchgestanden sind, wir naht- und ansatzlos zu den anderen Schmerzen übergehen werden – dass die Spekulanten, Auftrags-Ideologen und ihre Kinder-Soldaten diese sogar verschärfen wollen (sie nennen es: »die Krise als Chance begreifen«).

Nein, so makaber es beim ersten Hören klingen mag: Ich wünsche Ihnen und mir nicht ein Leben ohne Schmerz! Geradezu im Gegenteil: Schmerz ist gewiss kein Selbstzweck, doch wenn Sie überhaupt keinen Schmerz kennen, ob im Sport oder im Leben, dann sind Sie wahrscheinlich unter Ihren Möglichkeiten geblieben, dann haben Sie wahrscheinlich großartige Chancen ungenutzt verkümmern lassen.

»Wenn es weh tut«, so erklärte ich zur Bodengymnastik, »dann machst du etwas falsch!« – doch ich sollte ergänzen: Doch wenn es gar nicht schmerzt, dann machen Sie es womöglich ebenso falsch!

Nein, ich wünsche uns nicht die Abwesenheit aller Schmerzen – das klänge mir zu sehr nach Tod.

Ich wünsche uns, dass jeder Schmerz einen Sinn ergibt. Ich bin nicht gegen alle Schmerzen. Ich bin gegen Schmerzen, die keine Hoffnung in sich tragen.

Weiterschreiben, Wegner!

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