Dushan-Wegner

05.11.2022

Über und Sterblichkeit

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Emma Miller
Die Ursachen der aktuellen Übersterblichkeit sind ein Rätsel. In der Palette offiziell möglicher Erklärungen klafft ein großes Loch – ungefähr mit den Umrissen eines Elefanten, wie er schon mal in Räumen herumsteht.
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Über kurz oder lang muss sich der Mensch überwinden, seine Überzeugungen überprüfen, überkommene Überlegungen überdenken, überall Übertreibungen überarbeiten und Überflüssiges dem Vergessen übergeben.

Das Deutsche erfreut uns mit überraschend vielen besonderen, besonders schönen Wörtern. Eine Liste in Essayform legte ich im Text »Geisterfahrerin braucht Gas« vor.

Unsere Kinder entdecken bald die magische Kraft des Wortleins »doch«. (»Du bist doof.« – »Nein.« – »Doch!«)

Wenn Kinder viel Glück haben, überlebt das schöne Wort »doch« das Großwerden, und einige der sympathischsten Menschen, die ich kenne, sagen gern und selbstbewusst: »Doch!«

Ein für Deutschlernende besonders bemerkenswertes Wort ist der »Schlag«. Man gibt einen Ratschlag, man schlägt ganz schön über die Stränge, die Bäume schlagen aus, das Medikament schlägt an. Wir essen Kuchen mit Schlagsahne, hören dabei Schlager und zahlen brav unseren Solidaritätszuschlag, der ja erzwungen und nicht solidarisch ist, und auch kein Zuschlag, sondern ein Abschlag.

Und ein weiteres kraftvolles deutsches Wort ist »über«.

Ja, ja, ich weiß. Das Wort »über« fühlt sich für uns Deutsche manchmal etwas, äh, »schwierig« an. Das hat mit der ersten Strophe im »Lied der Deutschen« zu tun.

Da heißt es bekanntlich »Deutschland über alles«. Das Wort »über« in der Formulierung »Deutschland über alles« kann man aber auf mehr als eine Weise verstehen.

Man könnte es auf die »Nazi-Weise« verstehen, etwa dass Deutschland »über allen« übrigen Nationen stehen sollte.

Oder man könnte es auf die so naheliegende wie vernünftige und auch menschliche Weise verstehen: Deutschland soll, darf und muss den Deutschen besonders am Herzen liegen – so wie jedem anderen Volk auf diesem Planeten sein Land besonders am Herzen liegen soll, darf und muss. (Jene Strophe enthält ja auch eine 1841 relevante geographische Begrenzung).

Es wird zwar gesagt, die erste Strophe zu singen sei tabu, weil die »böse« Deutung von »über« gemeint sein könnte. Die These wäre aber zu prüfen, ob die »gute« Deutung nicht noch mehr gefürchtet ist (das Ausleben der »bösen« Deutung kann die Politik ja verhindern – doch sie muss auch das Einfordern der »guten« Deutung verhindern, um die bekannten Ziele umzusetzen).

(Randnotiz: Gerade jenes politische Lager, das sich extra moralisch an einer möglichen bösen Deutung des Wortes »über« stört, neigt immer wieder dazu, die EU-Osteuropäer zu behandeln, als stünden die dortigen Menschen »unter« den Deutschen, und müssten sich deshalb deutscher Moral beugen.)

Ja, ja, dieses Wortlein »über«, sein Klang ist im Ausland kraftvoller als in Deutschland. (Es ist vorhersehbar, dass eine Showkapelle wie »Rammstein« in ihrem Schlagerversuch »Deutschland« immer wieder aufs »Über« zurückgreift. Im Refrain ist die Formulierung »über allen« eingebaut. »Über« wird dort negativ besetzt, wie es sich für speziell deutschen Mainstream gehört. Man wird wissen, wieso man sich aktuell bei YouTube die Kommentare zum Song verbietet.)

1930 haben zwei amerikanische Juden den »Superman« geschaffen, inspiriert von Nietzsches »Übermensch« – und als Name wörtlich übersetzt. Man war motiviert von der Kraft des Übermensch-Konzeptes selbst – ein jeder Mensch soll den Gedanken in sich ausprobieren, über sich hinauszuwachsen (und, ja, damit über die hinaus wachsen, die das eben nicht tun – und doch auch für deren Wohl und Rechte streiten).

»Uber«, ohne die Umlaute, das ist gerade in der amerikanischen Kultur etwas Erstrebenswertes. (Oder es war erstrebenswert, bis »Wokeness« an die Stelle von Leistung und Selbstüberwindung weinerlich-aggressive Identitätspolitik setzte.)

US-Konzerne setzen sich schon mal über Gesetze oder zumindest bestehende Moralvorstellungen hinweg, und eine Firma hat sich sogar explizit »Uber« genannt.

Das Konzept »Über« ist den Amerikanern so wichtig, dass es einen eigenen Wikipedia-Eintrag dazu gibt.

Wenn der Amerikaner verdeutlichen will, dass eine bestimmte Eigenschaft in besonderem Maße auftritt, dann setzt er »über« davor – oft ohne die Anführungszeichen überm U. (Siehe auch urbandictionary.com.)

Einfach nur »cool« ist ja jeder, aber manche von uns sind »uber-cool«.

Eine besonders informative Website ist »uber-informative«.

»Uber« kann als Vorsilbe positive, wünschenswerte Eigenschaft verstärken – aber auch negative, wenig wünschenswerte.

Wer so richtig gelangweilt ist, der ist »uber-bored«. Und wer so richtig »lame«, also »lahm« im Sinne von »uncool« ist, der ist »uber-lame«.

In Deutschland ist die Idee des »Übermenschen« ein wenig aus der Mode gekommen. Wir lesen noch immer Nietzsche, auch und besonders den Zarathustra (oder wir behaupten, dass wir es tun).

Und wir sind enthusiastisch, dass Henry Cavill nochmal den Superman gibt (wofür er nach dem Abdanken bei Witcher und Netflix ja Zeit hat).

Nur über den Übermenschen, über den reden wir aus den bekannten Gründen nicht mehr. Dafür reden wir in letzter Zeit mehr vom blanken Überleben.

Ein weiteres Phänomen mit »Über« im Namen, über das auffällig wenig geredet wird, ist übrigens die »Übersterblichkeit«: Laut dem Statistischen Bundesamt lagen die Sterbefallzahlen im September 2022 bei 9 % im Vergleich zu den Vorjahren (destatis.de). Im Sprachgebrauch des zuletzt immer modischer werden Sozialismus ließe sich sagen: Immerhin bei den Sterbezahlen hat Deutschland das Plansoll übererfüllt.

Lag es an »Klimawandel«, wie etwa spiegel.de, 13.10.2022 nahelegen könnte? Nein, sagt die Behörde: »Hitzewellen, die in den Vormonaten in zeitlichem Zusammenhang mit den erhöhten Sterbefallzahlen standen, gab es im September nicht.«

Ist das endlich die »Pandemie der Ungeimpften«, vor welcher manche Corona-Scharfmacher warnten? Nein, sagt die Behörde: »Auch die COVID-19-Todesfallzahlen waren geringer als in den vorangegangenen Sommerwochen.«

Hmm.

Und das gibt es nicht nur in Deutschland, es passiert auch in Übersee! (scientificamerican.com, 17.6.2022)

Es ist ein »Rätsel«, schreibt »bild.de, 4.11.2022(€): »Selbst Statistisches Bundesamt tappt im Dunkeln«. – Ein sarkastisch gestimmter Mensch könnte scherzen wollen: »Ja, wenn so ein Dickhäuter im Raum steht, kann es ganz schön dunkel werden!«

Es bräuchte wohl übersinnliche Kräfte, um zu überblicken, was in den letzten Jahren auf übernationaler Ebene passierte, das zuvor so nicht passiert war.

Man könnte zu überraschenden Erkenntnissen kommen, doch man würde sich womöglich mit übergeordneten Mächten überwerfen. Ach, wer will heute schon über Sterblichkeit reden?

Die Ursachen der aktuellen Übersterblichkeit sind ein Rätsel. In der Palette offiziell möglicher Erklärungen klafft ein großes Loch – ungefähr mit den Umrissen eines Elefanten, wie er schon mal in Räumen herumsteht.

Man vergegenwärtige sich den Wahnsinn der aktuellen Lage: Offiziell starben im September neun Prozent mehr Menschen als erwartet, und die Politik samt Journaille haben kaum mehr ein Schulterzucken übrig. (Ich weiß, dass auch noch ganz andere Zahlen kursieren – nicht alle unglaubwürdig.)

Es ist zu hoffen, dass nicht allzu viele Angehörige darüber grübeln und womöglich bei überspannten Überlegungen ankommen. Die Stimmung könnte überkochen.

Wer sich aber dem offiziellen Nichtwissen widersetzt, wer »Doch, das kann man wissen!« ruft, wer ins Lager der »wissenwollenden Bösen« zu überlaufen droht, den wird man bald überzeugen wollen, unzweideutig wie ein Faustschlag ins Gesicht, dass die Frage nach der Übersterblichkeit wirklich, wirklich rätselhaft ist – und ungeklärt bleiben wird, was auch geschieht.

Nein, wir haben überhaupt keine Theorie darüber, woran die Übersterblichkeit liegen könnte.

Es ist einfach ein Über-Rätsel!

Weiterschreiben, Wegner!

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