Dushan-Wegner

14.07.2020

Wahrheit und Ächtung

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Davide Cantelli
»Es herrscht Meinungsfreiheit«, sagen sie, »du kannst doch schreiben, was du willst!« – Auch das ist eine linke Lüge. Die Leute, die heute öffentlich die Wahrheit sagen, bilden einen Stand der Geächteten, wie einst im Mittelalter die »ehrlosen« Berufe.
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»Der Türmer, der schaut zumitten der Nacht, hinab auf die Gräber in Lage; der Mond, der hat alles ins Helle gebracht: Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.« – Wir haben es erkannt (und wenn nicht, dann tun wir so als ob): Es ist der Anfang des Totentanzes von von Goethe (Link: das ganze Gedicht via zeno.org).

Titel und Handlung jener Ballade erzählen vom Tanz der Untoten, die sich zu Mitternacht aus ihren Gräbern erheben – und weiter: »Da regt sich ein Grab und ein anderes dann: Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann, in weißen und schleppenden Hemden.«

Jedoch, die Story von den Zombies (was hätte Goethe wohl mit dem Medium Film angestellt?), dieses Gruseln könnte uns vom Rahmen ablenken: Es ist ein Türmer, der – an unserer Stelle! – das Geschehen beobachtet.

Türmer, das waren im Mittelalter die Leute, die auf einem hohen Turm saßen und den Horizont wie auch die Stadt nach Gefahren absuchten. Wenn eine räuberische Bande nahte oder wenn sie ein Feuer in der Stadt erblickten, dann hatten die Türmer die Stadtbevölkerung zu warnen – und ansonsten gaben sie einmal die Stunde das Fortlaufen der Zeit bekannt.

»Yet another national newspaper column«

Manche Nachrichten und Streitmuster sind fürwahr international und jenes übergreifend, was noch an Grenzen existieren darf. Ich erlaube mir, eine mediale Begebenheit aus dem Vereinigten Königreich vorzustellen – doch sie ist zweifellos paradigmatisch, wir haben solches auch im besten Deutschland aller Zeiten gehört.

Akt 1 von 2: The Times

In der Londoner Zeitung »The Times« erschien dieser Tage eine Kolumne, welche auf geradezu skandalöse Weise das Offenkundige aussprach. Die Überschriften lauteten:

The woke left is the new Ministry of Truth – Good people are silenced in an Orwellian nightmare where a tyrannical minority decide what we’re allowed to say (Janice Turner, thetimes.co.uk, 11.7.2020)

Frei übertragen:

Die »woke« (unübersetzbar, etwa: »emotional und sozial bewegte«) Linke ist das neue Ministerium der Wahrheit – gute Leute werden zum Schweigen gebracht in einem orwellschen Albtraum, in dem eine tyrannische Minderheit entscheidet, was wir sagen dürfen.

Es ist keine vollständig neue Feststellung, dass heutige »Wahrheitssysteme« (siehe auch Essay vom 17.9.2018) an Orwells 1984 erinnern. (Ich erwähnte es etwa in meinem Essay vom 19.12.2016.) – Globalisten und die ihnen nahen Politiker und Linksaktivisten scheinen sich einig zu sein, dass es eine »offizielle Wahrheit« geben soll, die auch mal auf ausgedachten, aber ins Narrativ passenden »Fakten« bauen kann, und dann umso aggressiver durchgesetzt wird (siehe etwa die »Chemnitzlüge«).

Akt 2 von 2: The Guardian

Die obige Kolumne fand eine markante Antwort von einem Journalisten jener britischen Zeitung, die heute zuerst für ihre links-abgedrehten Crazy-Kolumnen bekannt ist – The Guardian.

Der selbsterklärte Sozialist und Guardian-Kolumnist (was passt, das passt) Owen Jones kommentierte bemüht süffisant:

The cry of „I am being silenced!“, from yet another national newspaper column, for holding views which most of the British press loudly champions, is becoming deafening. (@OwenJones84, 11.7.2020)

Frei übertragen:

Der Schrei »Ich werde zum Verstummen gebracht!«, von wieder einer nationalen Nachrichten-Kolumne, für Ansichten, welche die Mehrheit der britischen Presse laut präsentiert, wird ohrenbetäubend. (@OwenJones84, 11.7.2020, meine freie Übertragung)

Über 1.300 Leute schienen seine Wertung und Meinung zu teilen.

So-oder-anders

Wir hören diese Argumentations-Simulation immer wieder. Ein Mensch klagt, dass die Freiheit öffentlicher Meinungsäußerung eingeschränkt ist. Ein Linker, dessen Meinung als Angehöriger einer »geschützten Gruppe« (Sozialist, Journalist, Angehöriger einer mit Demokratie nicht immer erfolgreich in Übereinklang zu bringenden Religion) tatsächlich frei und meist auch über dem Recht zu stehen scheint, ein solcher »Bessermensch« erhebt (meist im sarkastischen Tonfall des Unantastbaren) den Vorwurf, man begehe einen performativen Widerspruch.

Inhalte-Umstände-Rahmen

Ein »performativer Widerspruch« ist ein Widerspruch, dessen Widersprüchlichkeit sich aus der Schere des Inhalts und den Rahmenumständen des Sprechaktes ergibt. Man könnte sagen, dass Descartes berühmtes »Cogito ergo sum« darauf basiert, dass das Gegenteil, nämlich: »Ich existierte nicht«, einen performativen Widerspruch bildet.

Eine »Heuchelei« nennen wir performative Widersprüche bei Moralsätzen, wenn der Sprecher eine moralische Regel als allgemeingültig postuliert, in seinem eigenen Verhalten sich aber nicht an diese hält; in den letzten Jahren berühmt geworden etwa durch Forderungen nach »offenen Grenzen« und »Solidarität«, aufgestellt von Leuten, die sich selbst hinter hohen Mauern vor Fremden schützen – und ihr Geld hinter komplizierten Firmengeflechten vor Versteuerung.

Erwischt?

Linke und Globalisten scheinen froh zu sein, endlich einmal auch ihren Gegnern den performativen Widerspruch vorwerfen zu können, wenn diese offensichtlich zu sagen scheinen, sie könnten nicht sagen, was sie gerade sagen.

Doch es ist falsch. Wer heute wirklich die Wahrheit sagt, wer heute vor Gefahren warnt, statt sie durch politisch korrekte Lügen und so-oder-anders motiviertes Wegschauen zu leugnen, der wird heute geächtet wie einst der Türmer.

Eine Zeitung, die immer wieder spannende Kooperationen eingeht, etwa einst mit der Stiftung jener Ex-Stasi, schreibt ohne Ironie über den Beruf des Türmers: »Und auch wenn die Aufgabe wichtig für die Stadt war: Der Beruf war in der Bevölkerung nicht sonderlich hoch angesehen und wurde schlecht entlohnt.« (zeit.de, 8.9.2012)

Wer »verbotene Wahrheiten« ausspricht und sich den »Pflicht-Lügen« der politischen Korrektheit verweigert, muss sich damit abfinden, »unrein« zu sein, was seine Berufs- und Wohnortwahl erheblich einschränkt.

Oder, um es persönlich zu machen: Aus dem Satz »Dushan Wegner sagt X« folgt nicht der Satz, »Jeder kann X sagen, ohne die Vernichtung zu fürchten«.

In den Straßen herumliegen

Der Beruf des Türmers im Mittelalter war buchstäblich überlebenswichtig für die Städte. Der Türmer war es, der die Gegner wie die Feuer früh erkannte und die Menschen warnte – und wenn sie denn auf ihn hörten! – konnte er durch seine Warnung ihnen das Leben retten.

Es könnte (nur) auf den ersten Blick erstaunlich wirken, dass gerade der wichtige Beruf des Türmers zu den »unehrlichen Berufen« gehört (»unehrlich« bedeutete damals so viel wie »ehrlos«, siehe Wikipedia). Ein Türmer galt als »nicht ehrenhaft«, zusammen etwa mit den Spielleuten, Lumpensammlern oder Totengräbern.

Es ist durchaus erstaunlich, dass nicht wenige der sogenannten »unehrenhaften« Berufe für das Funktionieren und Überleben der Gesellschaft entscheidend wichtig waren! Ohne Totengräber würden die Leichen in den Straßen herumliegen, ohne Spielleute wäre das mittelalterliche Leben noch trauriger als ohnehin, ohne Bader noch schmutziger und kranker – und ohne die Wolle der Schäfer noch kälter.

Ohne die Türmer stünden die Städter drohenden Gefahren gegenüber noch hilfloser da – und dennoch verachteten sie den Türmer, und verschlossen auch ihm die Teilnahme am feinen Leben der Gesellschaft.

Man kann und darf nicht alle Wahrheiten sagen – und es gibt Pflichtlügen, die man sagen und zu glauben vorgeben muss, um »mitspielen« zu dürfen. Doch selbst unter den Wahrheiten, die man sagen kann, ohne sofort in den Knast geworfen zu werden, garantiert der Widerspruch zur globalistisch-linken Einheitsmeinung die sichere Ächtung als »Ehrloser«.

Wer vor anrückenden Banden am Horizont oder den Feuern in den eigenen Straßen warnt, wer derart die eigene Stadt zu retten versucht, der wird zum Geächteten, im ersten Mittelalter damals wie auch im anbrechenden zweiten Mittelalter heute.

Wer seine Meinung einigermaßen frei aussprechen will, wer vor drohenden Gefahren warnen will, der muss es immer indirekter und verklausulierter tun – und er muss sich damit abfinden, für den Rest seines Lebens ein Geächteter zu sein.

Wir Türmer schreiben mit

»Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins«, so endet Goethes Totentanz, »die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins, und unten zerschellt das Gerippe.«

Es ist noch nicht so weit. Es hat noch nicht Eins geschellt. Die Untoten tanzen noch.

Die Zombies des Sozialismus schleichen um die Häuser, und die Gespenster des Unrechts spuken in Redaktionen, Parlamenten und bald auch in den Gerichten.

Die Türmer sehen die Geister, und sie sprechen es aus, und sie werden dafür geächtet, dass sie sagen, was sie sehen – dass sie hinschauen und sehen, was wirklich geschieht.

Nein, die Menschen sind in ihrer Meinung nicht frei. Vor den nahenden Gefahren zu warnen, das ist einsam und gefährlich, und die, die es noch tun, nehmen das Leben als Geächteter auf sich, wie einst die Türmer einsam auf ihren Türmen.

Der Preis des Warnens ist die Ächtung durch jene Stände, welche sich wöchentlich zu Festen treffen, welche auf unsere Kosten teuren Champagner saufen und einander Preise für die schönste Lüge des Tages verleihen.

Die Untoten sind aus den Gräbern gestiegen, das ist wahr, und wir Türmer schreiben mit, wie die Gerippe klappern.

Weiterschreiben, Wegner!

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