21.04.2018

Weckt mich auf, wenn alles vorbei ist

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Connor Ellsworth
»Ich weiß nicht, wo die Reise enden wird, aber ich weiß, wo ich beginnen will« heißt es im Lied »Wake me up« von Avicii. Das trifft meinen aktuellen Seelenzustand sehr gut.
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Wir hatten einen Tisch auf der Terrasse reserviert. Er war gedeckt und vorbereitet, als wir ankamen. Man begrüßte uns und kaum saßen wir, stellte die Kellnerin ganz automatisch jedem von uns ein Glas mit italienischem Prosecco hin. Wir lachten! Meine Tochter ist noch lange nicht im Alter, in dem sie so etwas trinken dürfte. (An meine hier mitlesenden Eltern: Nein, sie trank es natürlich nicht, sie bekam Orangensaft, keine Angst!)

Tempus fugit, die Zeit eilt! Ich habe noch immer nicht so ganz den Moment verdaut, als ich erfuhr, dass ich Vater werden würde. Ich erinnere mich noch an ihre Geburt und an ihre Einschulung. Und jetzt bekommt Madame im Restaurant ganz selbstverständlich einen Prosecco auf den Tisch. Ich würde ja ausrufen »wo sind sie geblieben, die Jahre?«, wie man es so tut, aber ich weiß, wo sie geblieben sind.

Im Laufe des Abends habe ich eine interessante Entdeckung gemacht, die ich unbedingt mit Ihnen, meinen Lesern, teilen will: Meine Tochter ist ein Mensch! Sie hat Meinungen, die nicht doof sind; sie hat Wünsche, die valide sind. Sie kommuniziert mit Erwachsenen auf höflicher Augenhöhe und sie kann den Fisch besser zerlegen als ich – wow!

In der Hektik des Alltags, zwischen Schule, Klavierspielen und Nein-du-bekommst-kein-Handy, könnte man glatt übersehen, dass diese Windelpupser irgendwann zu richtigen Menschen werden. In meinem Kopf werden sie immer Windelpupser bleiben, aber in echt, in echt da werden sie so tatsächlich richtige Menschen!

Es war überhaupt ein schöner Abend. Von anderen Personen erfuhr ich anderes. Eine Italienerin erzählte von ihrer Heimat auf Sardinien und vom Wasser, das so blau ist wie das Wasser in der Karibik. Eine Engländerin erzählte davon, wie sie in Deutschland Deutsch gelernt habe. (Ich glaube, dass es das ist, was Sie sagen wollte, denn was sie für Deutsch hielt, war eher eine Mischung aus Holländisch, Hollywood-Schurken-Deutsch und zufällig eingestreuten Infinitiven.)

Später in der Nacht kam ich glücklich und zufrieden heim. Wie man es so tut, schaute ich noch nach, was auf Twitter so passiert war. Die digitalen Beziehungen sind ja von anderer Natur als die Beziehungen im anfassbaren Leben, aber sie sind doch Beziehungen.

Twitter zeigte mir den aktuellen Tweet des Bild-Chefs Julian Reichelt an. Er zitierte einen Liedvers, den wir alle kennen, selbst wenn unsere Disco-Zeit inzwischen Jahrzehnte zurückliegen mag. Ich erlaube mir, Ihnen die Zeilen ins Deutsche zu übersetzen: »Weck mich auf, wenn es alles vorbei ist, wenn ich weiser und älter bin. All diese Zeit wollte ich mich finden, und ich wusste nicht, dass ich verloren bin.«

Darunter schrieb Reichelt noch: »RIP Avicii. RIP Chris Hondros, forever in our hearts.«

Der Dance-DJ, der sich »Avicii« nannte (er hat sich, warum auch immer, nach der tiefsten buddhistischen Hölle benannt), wurde gestern tot aufgefunden. Avicii war 28 Jahre alt, als er gestern starb. Mit bürgerlichem Namen hieß er Tim Bergling. (Der Chris Hondros, den Reichelt ebenfalls würdigt, war ein Fotojournalist, der am selben Datum im Jahr 2011 bei einem Gefecht in Libyen starb. Hondros wurde 41 Jahre alt.)

Es ist noch unklar, woran Avicii genau starb (er kämpfte seit einiger Zeit mit gesundheitlichen Problemen), es spielt keine Rolle. Mir geht es um den Moment, mir geht es um diesen Vers.

Der zitierte Megahit »Wake me up« war ein schnell geschriebenes Dancefloorstück. Es war nicht Ergebnis monatelanger Wortklauberei wie die Lieder Leonard Cohens, es war nicht das Ergebnis eines Lebens mit Folkmusik und Büchern, wie die Lieder Bob Dylans. Der Text stammt nicht einmal von Avicii selbst, sondern wurde über Nacht von Aloe Blacc geschrieben. Der aber ist bekannt für einfühlsame Lieder wie »I Need a Dollar«.

»Wake me up« war der große Tanz-Sommerhit von 2012, doch als ich gestern Nacht nach Hause kam, von einem schönen Freitag-Abend mit lieben Menschen, und dann aus dem Nichts vom Tod des jungen Künstlers erfuhr, da berührte mich der Refrain des Liedes aufs Neue.

Wenn Sie es gestatten, möchte ich hier mit Ihnen über die Zeilen nachdenken.

»Wake me up, when it’s all over« – hat das nicht jeder von uns schon mal geseufzt? – »Jeder ist seines Glückes Schmied«, sagt die alte Redensart, doch ganz so einfach ist es nicht. Wie Aloe Blacc in »I Need a Dollar« singt: »Es kommen schlechte Zeiten, und ich ernte, was ich nicht gesät habe.«

Und dann: »When I’m wiser and I’m older« – eine nette Ironie, im Angesicht seines Todes aber wird es bitter.

»Denn ein Mensch kann das Tun nicht ergründen, das unter der Sonne geschieht«, heißt es in Prediger 8:17. Ein Weiser weiß um die schmerzhafte Begrenztheit seines Wissens – jedes Wissens. Das Eingeständnis des Mangels an Weisheit ist der Beginn der Weisheit. Und dann der herbe zweite Teil: »when I’m older« – das wird der Künstler nicht mehr erleben. Mit 28 Jahren war für ihn Schluss.

Weisheit bedeutet, die Zusammenhänge zu sehen und aus Ihnen heraus zu denken und so das Wesentliche zu sehen. (Das Gegenteil von Weisheit ist, eine zufällige Perspektive für die Wahrheit zu halten, und von Affekten und Zusammenhangsblindheit getrieben zu handeln.) In klügeren, aber weniger effektiven Zeiten war es noch das Ziel der Intellektuellen, selbst Weisheit zu erwerben und zugleich die allgemeine Weisheit zu teilen. Was sind heute ihre Ziele? Ich weiß es nicht, das zumindest teile ich mit denen.

»All this time I was finding myself, and I didn’t know I was lost« – »to be lost«, ein Topos westlicher Kultur, nicht erst seit Steins und Hemingways »lost generation«. Man könnte vergessen, wie dramatisch wichtig die Anerkenntnis des Verlorenseins nicht nur für die Identität, sondern für das Funktionieren des Westens insgesamt ist.

Das Recht auf Verlorensein steht unter Beschuss. Merkel hat viel Dummes gesagt und einiges davon in die Praxis umgesetzt, was die bekannten ungerechten und teils blutigen Folgen hat.

Auf die ernstgemeinte und wichtige Frage einer Bürgerin, wie sie der offensichtlichen Islamisierung zu begegnen gedenke, pampt die Kanzlerin zurück: »Haben wir dann aber auch bitte schön die Tradition, mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein!« (welt.de, 9.9.2015)

Welt.de nennt Merkels Aufforderung zur Entsäkularisierung des Westens eine »deutliche Botschaft«, die Huffington Post nennt die Aufforderungen, selbst bibelfester zu werden eine »großartige Botschaft«, Stern.de preist es als »Klartext«, doch solche Einschätzungen sind nur ein weiterer Beleg für die innere Leere und geistige Wurzellosigkeit der politisch-medialen Klasse. Manche Leute schlittern auf dem Eis herum, auch wenn es nirgends gefroren ist; manche Leute sind ihr eigenes Glatteis.

Das Recht auf Verloren-Sein ist eine aufklärerische Errungenschaft des Westens. Auf Deutschlands Schulhöfen und anderen dunklen Ecken finden einsame Seelen wieder und immer mehr die ganz einfachen Antworten auf die quälenden menschlichen Fragen. Das ist ein Problem, doch das spiegelbildliche Gegenteil zu tun, das ist auch keine Lösung. Die Antwort auf militantes »Gehorche diesem Gott!« ist doch nicht »Gehorche jenem Gott!« – um des leeren Himmels willen!

Dass solche Dumm-Aussagen gefeiert werden von Journalisten mit der geistigen Spannweite einer Glasmurmel, auch das ist nur Zeichen einer Nennt-uns-nicht-Elite, die nicht versteht, wie sie dahin gekullert ist, wo sie ist, und also bald wieder weg- und weiterkullern wird, wieder nicht wissend, wieso ihr geschieht, was sie selbst in ihrer Blindheit tut.

»I didn’t know I was lost« impliziert, dass der Sänger es zumindest jetzt, in dem Moment weiß, dass er verloren ist. Immerhin das, das ist mehr als viele andere.

Es ist okay, verloren zu sein. Zu wissen, dass man verloren ist, das ist doch besser als kurz vor Hannover falsch abgebogen zu sein, im Kurpark von Boltenhagen zu stehen, und steif und fest zu behaupten, dies sei der Große Tiergarten.

Ich habe das Recht, zu sagen »Ich weiß es nicht, was das hier alles soll, und ich will lieber mit dem Nichtwissen leben, als mit Geistern oder unsichtbaren Autoritäten im Himmel zu reden«. Es gibt ein Recht auf Verlorensein und Nicht-Religion, ja, Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht, und zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit von der Religion – auch wenn Herr Islamist und Frau Merkel das anders sehen mögen.

Im Lied »Wake me up« finden wir noch diese schönen Zeilen: »I can’t tell where the journey will end, but I know where to start« – übersetzt: Ich weiß nicht, wo die Reise enden wird, aber ich weiß, wo ich beginnen will.

Ja, ich weiß, dass es Pop-Standard-Ware ist. Doch, ist ein Satz falsch, nur weil er immer wieder gesagt wird? Nein, ich gehöre nicht zu jenen Möchtegerns, denen 1+1=2 langweilig wird, und die dann spekulieren, ob 1+1 nicht auch Eins-Komma-Neun-Neun-Neun… ergeben könnte. Das Leben ist zu kurz, um aus Langeweile von den Schultern jener, die vor uns kamen, wieder herunter zu springen.

Ich weiß nicht, wo diese Reise enden wird. Niemand kann es wirklich wissen, denn viele Mächte zerren derzeit am Lenkrad. Nur dass es kaum wieder werden wird wie früher, dass scheint klar. Du bekommst den Geist nicht zurück in die Flasche, wenn er nicht will, und dieser Geist will wahrscheinlich nicht wieder hinein.

Aber ich weiß, wo ich beginnen will!

Im Privaten, etwa dies: Neu entdecken, wer diese Leute sind, die mit mir unter einem Dach leben. Man stellt immer wieder Überraschendes fest, wie etwa dass aus den Windelpupsern plötzlich richtige Menschen werden.

Im Öffentlichen, da weiß ich noch weniger, wo die Reise enden wird, doch ich habe eine Idee dazu, wo Sie und ich täglich neu beginnen können: Unsere Argumente schärfen, jeden Tag aufs Neue. Wahrheiten benennen, auch wenn man uns dafür hasst. Mir und den Mitmenschen immer wieder neu den Mut zureden, Ross und Reiter zu nennen. Wir werden mehr und sind doch noch immer zu wenige.

Vor allem aber: Niemals akzeptieren, dass Zwei plus Zwei gleich Fünf sein soll. Wenn sie vier Finger hochhalten, immer nur »vier« sagen, selbst wenn sie den Strom hochdrehen. – Yep, I know where to start.

Weiterschreiben, Dushan!

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