Dushan-Wegner

21.12.2022

Wir nennen es »Hinweisgeber«

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: DW via Stable Diffusion
Der Bundestag beschloss ein Gesetz, das es einfacher macht, seine Kollegen zu verpfeifen, ein Hinweisgebergesetz. Und die Innenministerin will für politisch Beschuldigte die Beweislast umkehren. Noch Fragen?
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Denken Sie bitte einmal an Ihr Lieblingslied! Summen Sie es vor sich hin, oder gerne auch laut, wenn die Umgebung das gestattet und Sie sich frei genug fühlen.

Welcher Refrain fällt Ihnen ein?

»We will, we will rock you«, »New York, New York«, »What a beautiful world« – die großen Refrains preisen immer wieder das Gefühl von Freiheit.

Ich bin Schreiber, und doch setze auch ich Refrains ein. Einige meiner Refrains stammen von mir selbst, etwa: »Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!«

Andere Refrains habe ich geliehen. Und ein Zitat habe ich bereits zweimal verwendet, und ich ahne, dass es zum Refrain werden könnte.

Es ist eigentlich ein Anfangszitat, ein Refrain, der am Anfang einer bekannten Erzählung steht. Ich zitierte diesen Satz im Essay vom 19.7.2019 und im Essay vom 11.12.2022.

Dieser neue Refrain stammt von Kafka, und so klingt er:

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. (Kafka; Der Process)

Der Magen krampft sich mir jedes Mal beim Lesen zusammen. – Das soll ein Refrain sein? Ja, es ist ein Refrain.

Und auch dieser Refrain spricht von Freiheit – indem er das Gegenteil von Freiheit beschreibt.

Unausgesprochen motiviert

Die deutsche Regierung hat kurz vor Weihnachten 2022 einen weiteren Nagel für den Sarg der Freiheit in Deutschland hergestellt.

SPD, Grüne und FDP winkten ein Gesetz durch den Bundestag, das den Titel trägt: »Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden«. (bundestag.de, 19.9.2022)

»Hinweisgebende Person« ist eine bürokratische und gender-neutrale Bezeichnung, doch was bezeichnet sie wirklich?

Nun, laut tagesschau.de, 16.12.2022 handelt es sich um »Whistleblower«.

Bei »Whistleblower« denken wir an Helden wie Edward Snowden und Julian Assange. Der eine darbt im russischen Exil, der andere im Knast – beider »Verbrechen« war es, das verborgene Treiben der ach-so-moralischen USA offenzulegen.

Sind diese Whistleblower wirklich von diesem Gesetz gemeint? Die Tagesschau verheimlicht nicht einmal groß, wohin die Reise geht.

»Das Gesetz regelt Meldungen zu Betrügereien, Korruption und anderen Missständen«, schreibt Tagesschau. Aha, das klingt doch erstmal gut.

Das Leben lehrte mich aber, dass die Wahrheit und wahre Absicht nicht selten in Neben- und Folgesätzen versteckt wird. – Weiter:

Auch Hinweise auf mangelnde Verfassungstreue von Beschäftigten im öffentlichen Dienst könnten dadurch künftig leichter die richtige Adresse erreichen … (tagesschau.de, 16.12.2022)

»Hinweise auf mangelnde Verfassungstreue« – oha! Also gemeint sind geplante Anschläge und so, oder? – Weiter:

… auch wenn es im konkreten Fall nicht um Straftaten geht. (tagesschau.de, 16.12.2022, ähnlich auch bei lto.de, 16.12.2022)

Bitte was?

Es wird extra ein Gesetz erlassen, das Beamte motivieren könnte – und also vermutlich soll – konkurrierenden Kollegen anonym (!) »mangelnde Verfassungstreue« zu unterstellen, explizit mit dem Hinweis, dass diese keine Straftat sein muss?

Im Gesetzesentwurf wird erklärt, dass falsche Verdächtigung und Verleumdung, sowie das Vortäuschen einer Straftat weiterhin selbst strafbar bleiben. Wie diese verfolgt werden soll – selbst wenn man wollte – bleibt unklar, wenn das Beschuldigen der Kollegen doch anonym sein kann. (Ja, das Gesetz verpflichtet Unternehmen, anonyme »Hinweise« zu ermöglichen.)

Zeitnah mit dem Beschluss dieses Gesetzes im Bundestag (Bundesrat steht aus), verschärft der Verfassungsschutz seine Rhetorik gegen die Opposition (tagesschau.de, 21.12.2022). Es gehe »weiter nach rechtsaußen«, es gebe »Anhänger verschiedener Verschwörungserzählungen« (Propaganda-Schibboleth: Umschreibung von »-theorie«) und natürlich jene Fälle, die angeblich erfasst werden vom magischen Zauberwort »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«.

Mit anderen Worten: Ab demnächst ist es legal und wird unausgesprochen motiviert, missliebige Kollegen anonym der »mangelnden Verfassungstreue« zu beschuldigen.

»Ohne dass er etwas Verbotenes gesagt hätte«

Man muss wahrlich kein zynischer Misanthrop sein, um eins und eins zusammenzurechnen, was die praktischen Fälle dieses Gesetzes sein werden!

Noch mehr Bürger, besonders wenn sie beim Staat arbeiten, werden sich davor fürchten, die zur »offiziellen Wahrheit« erklärten Lügen öffentlich anzuzweifeln.

Du planst eine Karriere? Du bist darauf angewiesen, dein Haus abzubezahlen? Du hast eine Familie gegründet und Kinder kosten halt? Schon jetzt gilt, und bald gilt es noch schmerzhafter, dass du lieber die Klappe hältst, die Propaganda-Slogans nachbetest, und dich ansonsten gründlich blind, taub und tolerant stellst.

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet«, so schreibt Kafka, und es könnte zum Refrain werden.

Etwa so: »Jemand muss einen anonymen Hinweis auf Josef K. gegeben haben, denn ohne dass er etwas Verbotenes gesagt hätte, wurde er eines Morgens entlassen.« (Ach, wenn es »nur« beim Entlassen bliebe.)

Nun könnte jemand das Gesetz damit verteidigen, dass auch dem anonym beschuldigten Beamten erst einmal seine Schuld bewiesen werden muss – es wäre falsch. Die Innenministerin plant explizit, seit dem römischen Recht aus gutem Grund bestehende Prinzipien des Rechtsstaats aufzuheben, die Beweislast für denunzierte Beamte umzukehren (siehe Essay vom 11.12.2022).

Das Eisen dieses Nagels

Unterm halb-falschen Etikett »Whistleblower« wird offenbar etwas gefördert, das man, wenn es anderswo passiert, schlicht »Denunziantentum« nennt.

Ist es ein Versehen? Sind die Abnicker im Bundestag selbst etwa darin unfrei?

Nun, das deutsche Gesetz ist »nur« die Umsetzung von Vorgaben der EU, und eigentlich hätte man es schon Ende 2021 umsetzen sollen (so lto.de, 14.12.2022). Das Eisen dieses Nagels im Sarg der Freiheit wurde geschmiedet in den Abgründen von Brüssel.

 

Das einzige, was zählt

Ach ja, mir fällt noch ein Lied aus früherer Zeit an, und auch dieses hat mit Freiheit zu tun, im Text selbst. (Und ich bleibe dabei, das Werk von Künstlern von ihren späten Äußerungen im Propagandastaat zu trennen.)

Jenes Lied wurde von Marius Müller-Westernhagen gesungen, und es heißt »Freiheit«. Das ganze Lied ist ja wie ein großer Refrain.

Es heißt darin: »Freiheit, Freiheit, wurde wieder abbestellt.«

Doch zuletzt, zweimal und wie eine Mahnung: »Freiheit, Freiheit, ist das einzige was zählt.«

Weiterschreiben, Wegner!

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