Die Diktatur in Nordkorea nennt sich „demokratisch“ und „Volksrepublik“. Zigaretten versprechen „Freiheit“, also das Gegenteil dessen, was sie liefern. Und Der Spiegel hatte mal „sagen, was ist“ zum Motto, wenn ich mich wahrheitsgemäß erinnere, und dann auch „keine Angst vor der Wahrheit“. (Letzteres meinen sie eventuell in dem Sinne, wie man etwa „keine Angst vor schlechtem Wetter“ sagt. Gegen schlechtes Wetter hilft gute Kleidung, gegen Wahrheit hilft Haltung, doch dazu später.)
Zunächst, die Wahrheit
Ernst beiseite! Betrachten wir einmal ganz scherzhaft diesen Begriff, mit dem Der Spiegel so ringt, an dem er augenscheinlich leidet wie ein verliebter Teenager am blühenden Pickel: die „Wahrheit“.
„Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch.“
– Feuerzangenbowle, 1944
Also, wat is en – Pardon – was ist die Wahrheit? Da stellen wir uns ganz dumm. Und dann sagen wir so: Die Wahrheit, das ist eine Behauptung, die nicht unwahr ist.
„Moment, Moment!“, ruft es da von den Rängen der Klugen – diese Logik fährt ja im Kreis, wie der Bär im Zoo! (An dieser Stelle meckert jemand, es sei heute verpönt, Bären oder andere Knuddeltiere im Zirkus vorzuführen, das widerspreche ja auch der Tierschutzverordnung. Diese bewegten Erregten mögen sich also hier lieber osteuropäische Artisten als im Kreis fahrend vorstellen, eine Osteuropäer-Schutzverordnung gibt es ja nicht. Es geht ja auch um die Logik! Zur Logik, Schwestern, zur Wahrheit!)
Der Trick war – es gibt immer einen Trick – der Trick war, dass es nicht wirklich dumm ist, die Wahrheit mit Abwesenheit falscher Annahmen zu erklären, zumindest nicht im ersten Anlauf. Wann stellt sich denn die Frage nach der Wahrheit?
Gut, wer an gewissen Symptomen wie etwa Philosophie leidet, dem stellt sich diese Frage zwischen erstem Kaffee und zweitem Kaffee, und den Rest des Tages ebenso. Für stabilere Menschen stellt sich die Frage nach der Wahrheit ja erst, wenn man ahnt, angeflunkert zu werden.
Wenn der Sohn mir erklärt, er habe in der Küche nur einen Apfel gegessen, ein Äpfelchen, ein Apfelschnitzelein nur, und dabei so viel Schokolade im Gesicht verteilt hat, dass ich mich sorge, die Politische-Korrektheit-Stasi könnte ihn wegen „blackfacing“ in Hohenschönhausen einkerkern, wenn er also schokoladenverschmiert vor mir steht und zuckergeschockt „nur nur Äpfel“ lallt, dann habe ich einen konkreten Anlass, an der Wahrheit seiner Aussage zu zweifeln. Ich prüfe den Wahrheitsgehalt, weil ich konkrete Zweifel habe.
Dem gegenüber, als Spiegelung der kindlichen Lüge, die erwachsene: Als das Fernsehen uns vor allem Flüchtlingsnachwuchs mit großen Kulleraugen zeigte, aber die realen Einwanderer, die in deutschen Städten auftauchten, vor allem junge Männer im wehrfähigen Alter zu sein schienen, wurden Risse in der offiziellen Wahrheit deutlich. Wir prüften den Wahrheitsgehalt, weil wir konkrete Zweifel hatten.
Es gibt mehrere gute Gründe, nicht „Lügenpresse“ zu rufen. Es genügt, dass es ein Kampfschrei der verwirrt-populistischen Linken ist, wie mein Fan Alan Posener es beschreibt, mit der Dresdner Pegida als eine Art Wiedergänger der 68-er. (Siehe auch: Lehming, Fleischhauer)
Ich rede nicht von „Lügenpresse“. Ich habe „der Presse“ sehr wohl die Möglichkeit der Lüge zugestanden, was ja bereits wie eine Ungeheuerlichkeit klingt – zu denken, dass „die Presse“ (gemeint: Journalisten mit „Haltung“) lügen könnte, das gilt als unfein. Der Bürger, dieses „Pack“, der kann lügen, ja. Doch: Auch nur die theoretische Möglichkeit einer Journalistenlüge zu erwägen, das ist, wie wenn man behauptete, auch Mädchen würden manchmal furzen. Sowas zu denken ist unsittlich und unschicklich.
Nein, ich rede wirklich nicht von Lügenpresse. Vor allem aus einem für Theoretiker sehr praktischen Grund: Wer von „Lügenpresse“ spricht, bringt sich in die Schusslinie, gefragt zu werden: Was ist denn die „Wahrheit“?
Was antwortet man denn auf diese Frage, was Wahrheit sei?
Wenn Sie mit „das ist doch offensichtlich“ antworten, dann kann ich Ihnen versichern, dass gerade das Offensichtliche oft am schwierigsten zu erklären ist. – Was ist Liebe? Was ist Bewusstsein? Was kann Lanz?
Die „Gesunder-Menschenverstand-Antwort“ auf die Frage nach der Wahrheit nennt sich in der Philosophie „Korrespondenztheorie“: Was gesagt wird, muss mit der Realität korrespondieren.
Es gibt weitere Aspekte der Wahrheit (etwa Kohärenz, wonach was wahr ist, mit allem anderen Wahren zusammenpassen sollte), doch die Korrespondenztheorie ist am ehesten das, was Sie und ich meinen, wenn wir „yep, das stimmt“ sagen. (Zwischenfrage: Wäre „Unkorrespondenzpresse“ akzeptabel? Und wäre ein solcher Nachrichtensprecher dann ein „Unkorrespondent“?)
Was weiß ich!
Die (mehr oder weniger) praktische Anwendung der Wahrheitsfrage findet sich in der Frage nach dem Wissen: Was bedeutet es, etwas zu wissen? Was können wir wissen? Wissen wir überhaupt etwas? Was weiß der von Natur aus Nichtwissende? Wer ist der Maßstab für die zu wissende Wahrheit?
Die traditionelle Erklärung für „Wissen“ ist (und mit „traditionell“ meinen wir zurückreichend bis zu den alten Griechen, also jenen, die philosophierten, am Peloponnes kämpften, και τα λοιπά): gerechtfertigte, wahre Ansicht (manche sagen statt „Ansicht“ auch „Meinung“ oder „Überzeugung“, alles drei im Englischen als „belief“ zusammengefasst).
Wissen enthält demnach drei Komponenten:
- Es ist eine Ansicht, also ein Zustand in meinem Denken, der beinhaltet, dass ich etwas annehme, dass ich denke, dass die Welt so und nicht anders ist.
- Es ist wahr, was ich angenommen habe (siehe oben).
- Ich habe gute Gründe, das anzunehmen, was ich annehme.
ad 1: Eine automatische Handlung, etwa im Auto den Gang umzuschalten, ist nicht „wahr“, eine Präferenz wie eine Lieblingsfarbe auch nicht, und können damit kein Wissen darstellen. (Die Aussage „Gold ist Trumps Lieblingsfarbe“ wiederum ist sicherlich wahr. Etwas zu mögen ist kein Wissen. Aber zu wissen, dass man es mag, das kann natürlich Wissen sein.) Es muss schon mindestens eine zur Aussage umformulierbare Überzeugung in meinem Kopf vorhanden sein, nicht nur ein Gefühl oder ein Automatismus.
ad 2: Wenn ich einen guten Grund habe, etwas zu glauben, das Geglaubte aber nicht stimmt, dann ist es kein Wissen. Wenn ich etwa meine, ich hätte 2 Euro in der Hosentasche, weil ich sie vorhin hineingetan habe, aber die Hosentasche hatte ein Loch und die 2 Euro sind auf die Straße gefallen, dann ist meine Annahme eben kein Wissen.
ad 3: Wenn ich mir einbilde, mit hellseherischer Kraft in eine Kiste hineinsehen und die Zahl der schwarzen und weißen Kugeln darin zählen zu können, und ich liege tatsächlich mit meiner Annahme richtig, dann war meine Annahme dennoch kein Wissen, denn nach allgemeiner Übereinkunft ist Hellseherei keine gute Begründung.
Tipp: Wenn Sie Ihren Kopf zum Spaß verknoten möchten, können Sie sich ja mit den Gettier-Fällen beschäftigen! Eine vereinfachte Variante davon: Sie haben bei Hose A gestern 3 Münzen in die Tasche gesteckt. Am Morgen ziehen Sie aus Versehen Hose B an, in welche Ihr Partner über Nacht ebenfalls 3 Münzen hineingetan hat, was Sie nicht wussten. Es stellen sich 2 Fragen: Handelt es sich bei Ihrer gerechtfertigten, wahren Annahme, 3 Münzen in der Tasche zu haben, auch dann um „Wissen“, wenn sie nur zufällig wahr ist? Und: Warum bitte tut Ihr Partner nachts Münzen in Ihre Hosentaschen?
„Gute“ Gründe
In der deutschen, aber auch amerikanischen (Medien-) Debatte fand in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine bemerkenswerte Verschiebung der Wahrheits- und Wissensbegriffe statt. Sie wurde und wird ganz wesentlich betrieben von den erwähnten 68-ern (und ihren politisch-kulturellen Nachfolgern, wie Merkel, Obama oder Trudeau), die es verstanden, angeborene Schwächen des menschlichen Verstandes zu instrumentalisieren und auf prä-rationalen Emotionen einer willigen Wählerschaft politische Macht aufzubauen.
Damit ich etwas „weiß“, sollten wir (trotz Gettier) noch immer die Faustregel anwenden, dass es 1. wahr sein muss, und ich 2. für die Annahme gute Gründe haben sollte.
In der neuen Debatte werden „wahr“ und „zu wissen“ immer mehr zur Interpretationssache. Zur Ikone des Postfaktischen wurden etwa die Aufnahmen von der Teilnahme führender europäischer Politiker an jener Demonstration, welche sich als theatralisch inszenierter Fake herausstellte.
Der Spiegel und andere schienen die Fake-Demo so zu verteidigen:
Dieses Arrangement ist durchaus sinnvoll, wenn man die Sicherheitsvorkehrungen bedenkt, die angesichts der politischen Weltelite vonnöten sind.
– spiegel.de, 12.01.2015
Lesen Sie gern den ganzen Artikel, diese „Begründungen“ gehen noch weiter.
Der wütende Herr Gniffke von der Tagesschau schreibt zum selben Thema:
Halten wir es doch einfach mal aus, dass es eine große Geste von Millionen von Menschen und zahlreichen Politikern gab, an der nichts auszusetzen ist. Versuchen wir nicht, solche Gesten gleich als Inszenierung zu diffamieren.
– tagesschau.de, 13.1.2015, via archive.is
Das Folgende mag zunächst wie ein Wortspiel klingen, doch wenn man eine Sekunde darüber nachdenkt, wird mir zumindest etwas flau im Magen.
Wir haben für wahr zu halten, wofür wir gute Gründe haben – doch mit „gut“ meinen wir nicht mehr rational tragfähig und faktenadäquat, sondern moralisch gut. Dieses verdrehte Verständnis von Wahrheit und Wissen nennen wir „Haltung“.
Haltung, das neue Wissen
Das wissenschaftliche Denken versucht, zu wissen was wahr ist, und sichert sein Wissen mit guten, rationalen Gründen ab.
Das neomittelalterliche Denken, wie es heute den müden Bürgern als „Haltung“ eingetrichtert wird, verdreht und pervertiert die alten Wissens- und Wahrheitsbegriffe.
Ich weiß und nehme als Wahrheit an, sagt der Bürger mit Haltung, wofür ich moralische Gründe habe, es anzunehmen.
Einige Beispiele:
- Ich weiß, dass Frauen und Männer im Kopf gleich verkabelt sind, denn ich habe moralische (also: dogmatische) Gründe es anzunehmen.
- Ich weiß, dass die Sonne sich um die Erde dreht, denn ich habe dogmatische (also: moralische) Gründe es anzunehmen.
- Ich weiß, dass alle Kulturen nur Gutes wollen, denn ich habe moralische (also: dogmatische) Gründe es anzunehmen.
- Ich weiß, dass Menschen und Affen nicht gemeinsame Vorfahren haben und dass die Erde nur 6.000 Jahre alt ist, denn ich habe dogmatische (also: moralische) Gründe es anzunehmen.
- Ich weiß, dass unter unkontrollierten Einwanderern keine Terroristen sind, denn ich habe moralische (also: dogmatische) Gründe es anzunehmen.
Manche Menschen fürchten fundamentalistischen Terror, weil sie darin die Wiederkehr des Mittelalters sehen, mit den Waffen und Möglichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ich kann sie verstehen.
Ich warne vor der Neu-Definition der Wahrheits- und Wissensbegriffe durch die Öffentlich Rechtlichen und ihre Kooperationspartner, weil ich darin Elemente und Argumentationsmuster mittelalterlicher Dogmatik erkenne, mit GEZ-Milliarden, psychologischem Know-How und allen Mitteln moderner Medien.
Wenn mein Sohn mit Schokolade im Gesicht behauptet, er habe nur ein Äpfelchen gegessen, widerspreche ich ihm, lachend.
Wenn sie im Fernsehen die Moral zum Maßstab der Wahrheit erklären, dann widerspreche ich, mit vollem Ernst.
Früher war die Strafe für den Widerspruch, Ketzer genannt zu werden und manchmal auch die Flammen der Inquisition. Heute ist die Strafe für den Widerspruch, Hetzer genannt zu werden und manchmal auch die Flammen der Antifa.
Nicht jeder kann und will es sich leisten, seinen Job zu verlieren. Wer Familie hat, wird es sich zwei mal überlegen, ob er Brandsätze in seiner Hauseinfahrt oder auch nur Schmierereien an seiner Hauswand riskiert.
Widerstand gegen die Verdummung, gegen die Verdrehung von Wahrheit und Wissen, beginnt im Privatesten, im eigenen Kopf. Ich kann nur das wissen, was wahr ist und wofür ich gute Gründe habe – und mit „guter Grund“ meine ich vernünftige, nicht moralische Gründe!
Was ist ein „guter Grund“? Nun, es gibt viele, etwa naturwissenschaftliche Erkenntnis, die eigene Erfahrung als Wissensquelle und, mit Vorsicht, die Geschichtsschreibung. Wissen ist nie fertig, die Arbeit, die Wissen schafft, heißt tatsächlich Wissenschaft.
Dass aber jemand im Fernsehen etwas gesagt hat, treudoof durch den Teleprompter ins kaltschwarze Auge der Kamera starrend, das wäre zweifellos die schlechtest mögliche Begründung von Wissen. – Da hätte selbst die Begründung, es sei mir im Traum erschienen, noch deutlich mehr Gewicht.