22.10.2024

Die Baerbockifizierung des politischen Diskurses

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, "Die surreale Reise der KI entlang Baerbockifizierung"
Regierung kündigt an, Deutschland solle führend bei Künstlicher Intelligenz werden. Es ist zum Schreien: KI braucht VIEL Strom, Deutschland kappt seine Stromversorgung. EU reguliert derweil KI tot. Deutschland soll überholen, ohne einholen zu dürfen.
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Wer bist du, wie wurdest du, wer du bist, was hoffst du noch zu werden, und was ist deine Entschuldigung?

Es wird täglich wichtiger, Fragen dieser Art zu beantworten. Nicht »beantworten zu können«, sondern »zu beantworten«. Nicht obwohl, sondern weil wir die Baerbockisierung unserer Gesellschaft erleben. – Lasst mich erklären, ein Argument nach dem anderen!

Im fernen Jahr 2021 schrieb ich »Merkel sucht den Nachfolgeroboter«.  Damals stand die wilde These im Raum, dass womöglich Baerbock von Merkel zur Nachfolgerin aufgebaut wurde:

Stellen wir uns dem simplen Faktum: Mit Baerbock würde Deutschland endgültig zum unfreiwilligen Clown unter den Industrienationen. (Essay vom 04.06.2021)

»Mit Baerbock« meinte ich Baerbock als Bundeskanzlerin. Aus heutiger Sicht muss man natürlich feststellen, dass derselbe Satz aus denselben Gründen auch mit Baerbock als Bundesministerin wahr wäre.

Jener Text war prophetisch, doch aus anderen als den offensichtlichen Gründen. Dass Baerbock mit einer höheren Funktion im Staat zu belasten das Land zum »Clown unter den Industrienationen« machen würde, konnte wirklich jeder vorhersehen. Dafür musste man nicht Prophet sein, und das (allein) macht jenen Essay noch nicht prophetisch.

Da ist noch etwas anderes, die Bedeutung von »Nachfolgeroboter«.

Frau Baerbock wiederholt vermutlich einfach nur Wörter, mit denen sie bei Journalisten und anderen Menschen auf ihrem Denkniveau guten Anklang findet. Wenn eine »künstliche Intelligenz« einen politischen Kandidaten aufstellen würde, dann würde der sprechen wie Frau Baerbock. (Essay vom 04.06.2021)

Heute im bald ausklingenden Jahr 2024 ist die technische Entwicklung weiter. Von KI generierte Texte klingen weit menschlicher und authentischer als der übliche Politiker. Und im Vergleich zu Frau Baerbock erzählen Roboter wohl weniger offensichtlichen Unsinn und verhaspeln sich auch weit seltener. Doch auch das ist nicht der prophetische Aspekt jenes Textes.

Der Gedanke, den ich damals im eher Scherz meinte, als Zuspitzung und Gedankenexperiment, hat mit der (damaligen) Logik künstlicher Intelligenz zu tun. Damals waren die »Künstliche Intelligenz«-Programme eigentlich »nur« Vorhersagemaschinen. KI sagte voraus, was nach einer bestimmten Abfolge von Zeichenfolgen (der Frage) als weitere Zeichenfolge angemessen wäre (die Antwort).

Baerbock sagte damals Worte, deren Inhalt sie nicht zu verstehen schien (und die sie folglich auch immer wieder falsch aussprach). Auch Roboter können Zeichenketten oder gesprochene Worte produzieren, doch nach unserem Verständnis von »Verstehen« verstehen sie eben nicht (siehe dazu auch »Chinesisches Zimmer«).

Mein Essay von damals war insofern prophetisch, als er mit seinem halb-satirisch gemeinten Vergleich nicht nur das Auftreten einer Politikerin beschrieb, sondern, wie mir heute scheint, bald die gesamte öffentliche Debatte heute.

Der 𝕏-er @argonerd spießt ja seit Jahren auf brillante Weise die Widersprüche politischer Kommunikation auf. Oft bestehen diese Fundstücke aus Gegenüberstellungen von früheren und aktuellen Aussagen.

Diese Woche aber veröffentlichte Argo Nerd eine für unsere politische Kultur extra bezeichnende Gegenüberstellung:

Argo Nerd stellte die Selbstbezeichnung zweier Ministerien und eine Pressemitteilung gegenüber. Und ich zumindest fände es zum Schreien lustig, wenn es nicht so tragisch und bezeichnend wäre.

Das Habeck-Ministerium nennt sich »Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz«. (Nebenbei: Diese Doppelfunktion ist latent anti-demokratisch. Eine Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass Interessen eine Vertretung haben. Ein Ministerium aber, das widersprechende Interessen gleichzeitig vertreten soll, wird sich entscheiden müssen. Und wie grüne Ideologie sich entscheidet, ist bekannt.)

Man hat also eine Pressemitteilung veröffentlicht, zusammen mit dem Verkehrsministerium, das auch Ministerium für Digitales ist, vermutlich weil »Datenautobahn« eben »Autobahn« enthält.

Die Pressemitteilung aber sagt im Titel: »Digital-Gipfel 2024: Deutschland soll führender KI-Standort in Europa werden«. (siehe auch bmwk.de, 21.10.2024)

Im Essay vom 17.10.2024 erwähnte ich, wie Konzerne, die KI entwickeln, in diesen Tagen auch in Atomkraftwerke investieren. Künstliche Intelligenz braucht Strom, sehr viel zuverlässigen Strom, so billig wie möglich. Im selben Essay notierte ich auch, dass die EU schon jetzt aktiv die Entwicklung Künstlicher Intelligenz in der EU-Besatzungszone behindert.

Ach, ich habe nun schon beinahe selbst begonnen, gegen diese Pressemitteilung zu »argumentieren« – ein Fehler!

Die Pressemitteilung der beiden Ministerien ist ein Beispiel für das, was ich die Baerbockisierung der politischen Debatte nenne.

Diese Äußerungen ergeben keinen Sinn. Man kann nicht zugleich die Stromversorgung eines Landes zerschießen, die EU den Fortschritt behindern lassen, weiterhin die Ingenieure aus dem Land vergraulen und doch irgendwie planen, Deutschland zum »führenden KI-Standort« zu machen.

Doch diese Worte sollen auch gar keinen Sinn ergeben. Es ist Wortsalat. Man hat gehört, dass »KI« irgendwie wichtig ist. Also sagt man irgendwas.

Ich habe mir den Wortsalat der ganzen Meldung angeschaut (bmwk.de, 21.10.2024). »Wir brauchen KI-Unternehmen, die im weltweiten Wettbewerb bestehen können und KI-Anwendungen in die Breite der deutschen Wirtschaft tragen«, weil das in einer »zunehmend vernetzten und digitalisierten Welt eine immer größere Rolle« spielt.

Das meine ich, wenn ich sage, dass die öffentliche politische Debatte baerbockisiert. Worte, die man irgendwo hörte, werden an die Wand geworfen. Dass die eigentlichen Konzepte hinter diesen Worten im krassen und grundsätzlichen Widerspruch zum tatsächlichen Handeln stehen, stört Politiker wenig.

Damit aber auf keinen Fall irgendwer Hoffnung schöpft, verspricht man in derselben Pressemitteilung »regulatorische Rahmenbedingungen« für Künstliche Intelligenz. Die Botschaft an irgendwelche geheimnisvollen Mächte lautet: »Sollte etwas von diesem Wortsalat versehentlich einen Sinn ergeben, ignoriert das einfach. Wir werden im Zweifelsfall alles totregulieren.«

Zu Beginn dieses Essays fragte ich: Wer bist du, wie wurdest du, wer du bist, was hoffst du noch zu werden, und was ist deine Entschuldigung?

Und ich sagte: Es wird täglich wichtiger, Fragen dieser Art zu beantworten.

Wir könnten diese Fragen den Deutschen stellen. Wir sollten fragen, wie es dazu kam, dass die öffentliche politische Debatte baerbockisiert, dass Worte in den Raum geworfen werden, ohne dass die Sprechenden verstehen, was diese Worte bedeuten. Was ist unsere Entschuldigung?

Und dann – im Geist des ewigen Auftrags »Erkenne dich selbst!« – können wir fragen: Wer bin ich, wie wurde ich so, was hoffe ich noch zu werden, und was ist meine Entschuldigung?

Jede Antwort auf diese Fragen ergibt nur dann einen Sinn, wenn Worte einen Sinn ergeben.

Weiterschreiben, Wegner!

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