15.03.2018

Du blickst nach Berlin, und der Abgrund blickt zurück

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild von Ludde Lorentz
Du blickst nach Berlin und der Abgrund blickt zurück – wer nicht zwischendurch von der Politik abschaltet, und überlegt, was er SELBST (er)schaffen kann, der könnte mit hinabgerissen werden.
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Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, sagt Nietzsche weiter, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Ich habe gestern nach Berlin geschaut. Die schlechteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich selbst wiedergewählt. Der Kerl, von dem Schäuble einst sagte, ein „anständiger Minister müsste da zurücktreten“, stieg daraufhin ins Flugzeug, um als Außenminister die deutsche Postdemokratie zu vertreten. Die Sonne der Kultur steht so tief wie seit Jahrzehnten nicht, und dennoch wird dieser Mann keinen Schatten werfen. Ein Albtraum, ein schattenloser Albtraum für jeden Demokraten, ob aufrecht oder schon voll Gram daniederliegend.

Diese Regierungsbildung ist ein Abgrund und in der kommenden, fortgesetzten Groko droht der Abgrund in uns zurückzublicken. Die Aufgabe der Hauptstadtjournalisten ist es, auch diese Groko zu begleiten, von ihr zu berichten und ihre Geschicke auf die extra feine Waage zu legen. Wären allzu viele dieser Leute nicht schon via Einstellungsvoraussetzung verlorene Suchende, treibend auf dem Meer der moralischen Beliebigkeit, hin und her gepustet von den Stürmchen vermeintlicher Notwendigkeit, dieses Ungeheuer, unter dessen bösen Namen auch die Unvermeidlichkeit ist, es würde sie schnell holen und zu sich in den Abgrund ziehen.

Wir aber, die wir einander noch glücklich schätzen, uns mit einer Hand festzuhalten an den dünnen Setzlingen, die überm Rand des Wahnsinnslochs wachsen, wir müssen schnell und bald unsere Augen vom Abgrund abwenden.

Virale Hits um Zwölfhundert

Zuerst waren da die Gebeine der Heiligen Drei Könige. Rainald von Dassel hatte sie 1164 aus Mailand nach Köln gebracht. In Mailand hatte sie ihm übrigens Kaiser Barbarossa geschenkt. Nach ihm wurde in Köln der Barbarossaplatz benannt. Die Reliquien der Heiligen Drei Könige wurden zum Viralen Hit unter Gläubigen. Sie kamen extra deswegen nach Köln, und wenn sie schon dort waren, ließen sie auch einige Mark da. (Der Euro kam etwas später. Die Mark bestand damals aber offiziell aus Silber und kaufte ungefähr soviel wie heute 440 Euro – nur so, falls Sie noch immer über den Verlust der Deutschen Mark traurig sind, stellen Sie sich vor, Sie hätten die Silbermark des Mittelalters eintauschen müssen!)

1248 begann man endlich mit dem Bau des neuen Doms rund um die Gebeine der Heiligen Drei Könige. 1265 war der Kapellenkranz bis in die Gewölbe fertiggestellt, 1277 weihte Albertus Magnus den Altar der Domsakristei.

Der erste Grundriss wurde, so weit man weiß, vom Baumeister Gerhard von Rile gezeichnet, den Kölnern heute bekannt als Meister Gerhard.

Als der Grundstein zum Kölner Dom gelegt wurde, war Meister Gerhard etwa zwischen 33 und 38 Jahre alt. Als Meister Gerhard am 25.4.1271 verstarb, war nicht einmal der Chor des Doms fertiggestellt.

Der Kölner Dom wurde erst am 15. Oktober 1880 fertig, also 632 Jahre nach Baubeginn. Interessant ist, dass die zweite Bauphase des Doms, die letztendlich die Fertigstellung brachte, auch von der stärker werdenden Nationalbewegung motiviert wurde. Ginge es nach heutigem anti-deutschen Zeitgeist, würde es dem Kölner Dom auch heute noch so gehen wie es dem Flughafen Berlin-Brandenburg geht.

Die ersten Steine legen

Ein Mensch widmet sein Leben dem Bau eines Hauses, wissend, dass er dessen Fertigstellung nicht erleben wird. Was geht in ihm vor? Was bewegte Antonio Gaudí? Er starb 1926, immerhin mit 73 Jahren, wenn auch in Folge eines Unfalls. Die Fertigstellung der Sagrada Familia in Barcelona ist für 2026 geplant, zu Gaudís hundertstem Todestag. Es ist etwas Erhebendes und Inspirierendes darin, sich etwas Größerem zu widmen, das mich überleben wird, das mich überleben muss. An anderer Stelle beschreibt Nietzsche den Menschen als Seil, überm Abgrund gespannt. Das Größere-als-ich hält das Seil am anderen Ende fest und damit mich davon ab, in freiem Fall in den Abgrund zu stürzen.

Als Beethovens Neunte Symphonie am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführt wurde, zu großem Applaus, da war der Komponist längst vollständig ertaubt. Das Publikum jubelte ihm zu. Er hatte ihnen etwas geschenkt, das er selbst nie hören würde. Was ging in Beethoven vor, als er taub die Noten aufs Papier schrieb? Sicher, er konnte sich die Musik vorstellen, aber es ist doch etwas anderes, sich die Kinder und Kindeskinder im Garten spielend vorzustellen, oder sie auch selbst spielen zu sehen.

Vom Abgrund fort

Ich nenne die gewissenlose Kurzsichtigkeit, die uns aus Berlin, Brüssel und den Redaktionsstuben kalt entgegenweht, einen Abgrund. Wer lange genug ins Staatsfernsehen schaut, wer sich mehr als nur das nötigste Minimum mit Merkel beschäftigt, auch der könnte wie jene alle seine Werte verlieren – doch er wäre im Nachteil! Das Staatsfernsehen hat seine Milliarden, Merkel hat ihre Macht – und was hast du?

Im Buch Relevante Strukturen beschreibe ich, dass und wie der Mensch in Strukturen eingebunden ist, welche ihn stützen, und die zu stützen seine Aufgabe ist. „Ordne deine Kreise!“, sage ich – „was sind meine Kreise?“, fragt der Leser zurück.

Wir treffen ethische Bewertungen abhängig davon, welche Strukturen wir als relevant empfinden. Dass für Merkel wenig außer ihrer Macht und der jeweils nächsten Umfrage eine relevante Struktur darstellt, das ist nun wirklich eine Binse. Doch, gibt es im menschlichen Miteinander einen größeren Abgrund als die Gleichgültigkeit der Mächtigen gegenüber den Opfern ihres Handelns? Was sollte es sein? Nein.

Blickst du zu lange nach Berlin, dann blickt der Abgrund in dich zurück. – Genug!

Blicken wir also weg von der Hauptstadt, selbst wenn wir mitten in der Hauptstadt feststecken. Wollen wir ein wenig Walden wagen? Es gibt mehr als den Berliner Wahnsinn, es muss mehr geben.

Tritt vom Abgrund zurück! Hebe den Blick! Was wird von dir bleiben? Was soll von dir bleiben?

Weiterschreiben, Dushan!

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