10.07.2018

Sind uns Kinder wirklich unterschiedlich wichtig?

von Dushan Wegner, Lesezeit 11 Minuten, Bild von Sime Basioli
Sind uns die Kinder in Thailand wirklich »wichtiger« als die Menschen, die via Schleppern und NGO-Booten nach Europa auswandern wollen? Einige Populisten bei ARD & ZDF mögen das so deuten, doch es ist komplizierter.
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Wir hören in den letzten Tagen immer wieder dieselbe Frage, und praktisch immer gleich lautend: Warum berühren uns die Kinder in einer thailändischen Höhle mehr als die Kinder in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer?

Nun, zuerst sei direkt zurück gefragt: Ist es denn belegte Sache, dass sie uns »mehr berühren«? Hiermit haben wir notiert, dass wir die eingeschobene Prämisse bemerkt haben – und beschließen, dennoch auf die Frage einzugehen, so wie sie gestellt wird. Doch, zunächst: die Hintergründe!

Was passierte

»Doi Nang Non« (ดอยนางนอน) ist Thailändisch für »Berg der schlafenden Frau«. Doi Nang Non ist ein Bergmassiv in Nord-Thailand und Myanmar. Im Bauch dieses Bergmassivs finden wir die Tham-Luang-Höhle. Am 23. Juni 2018 wurden eine Fußball-Mannschaft von 12 Jungen und ihr Trainer bei ihrem gemeinsamen Ausflug von heftigem Regen in der Höhle eingeschlossen.

Die Rettungsaktion wurde rund um die Welt berichtet. »Iron Man« persönlich (wir meinen Elon Musk, nicht Robert Downey Jr.) bot seine Hilfe an. Deutsche Pumpen sollten zum Einsatz kommen. Die BILD-Zeitung berichtet so-live-wie-möglich vom Einsatz. Es war Media-at-its-best. Globale, kollektive Empathie. Und freiwillige globale Zusammenarbeit – Menschheitsfamiliengefühl in Reinstform.

Mehr Debatte wagen!

Doch, natürlich, es gab auch die kritischen Stimmen. Sie waren nicht kritisch ob der Rettung. Nein, da waren sich alle einig. Es gab aber die Stimmen, die üble Heuchelei ausgemacht zu haben glaubten: Warum fieberte man mit der Rettung der thailändischen Jungen mit – aber angeblich seien einem die im Mittelmeer ertrinkenden Kinder »egal«.

Man könnte solche Vorwürfe leicht zu den Akten legen, wenn man nur von den Fragestellern ausginge. Es sind die bekannten Linksaktivisten und Moralisten, die nervös werden, weil nach jahrelangem Fokus auf Merkels Welteinladung für ein paar Tage der Fokus auf einem anderen Teil der Welt liegt.

Doch, ich will die Frage unabhängig von den Fragestellern betrachten. Ich finde sie ethisch interessant. Wir führen viel zu wenige echte Debatten, heute. Wir werfen einander Applauszeilen an den Kopf, doch davon wird man taub und aggressiv, wir wollen aber weiser und friedfertiger werden!

Advocatus Diaboli

Das New York Times Magazine fragte kürzlich: »Why Have We Soured on the ‘Devil’s Advocate’?« (nytimes.com, 3.4.2018) – frei übersetzt: Warum mögen wir den ›Advocatus Diaboli‹ nicht mehr?

Es ist oft erhellend, zu fragen, wer genau mit »wir« gemeint ist. In diesem Fall will ich die naheliegendste Deutung wählen: »Wir« meint in dem Fall den typischen New-York-Times-Leser, also einen Menschen, der sich für gebildet und moralisch höhergestellt hält, der Trump von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüte hasst – und der das kognitive Kunststück vollbringt, sich selbst für in höchstem Maße tolerant zu halten und keine Meinung ertragen zu können, die von der seinen auch nur ein Jota abweicht. Sie mögen mir vorwerfen, ein Klischee zu beschreiben, und es wäre nicht falsch, außer darin, dass ein Klischee nicht Manifestationen in der realen Welt haben kann – ich kenne viele, zu viele genau solcher Individuen.

Ja, es ist richtig. Jenes Wir mag den Advocatus Diaboli nicht. Gar nicht.

»Advocatus Diaboli« bedeutet, dass man fiktiv eine konträre Position einnimmt, auch wenn man sie nicht wirklich vertritt. Man argumentiert quasi gegen sich selbst. In einer Gruppe kann ein Einzelner die Rolle des Advocatus Diaboli einnehmen, um die Gruppe zum Denken zu provozieren – in klugen Gruppen wird man ganz aktiv dafür sorgen, dass jemand es tut. Die Übung hat zwei Nutzen: Man lernt die Position des Gegners kennen (es ist also auch eine Übung in zumindest logischer Empathie), und man überprüft zugleich seine eigene Position. Den Medienlinken hüben wie drüben könnte nichts fremder sein als das Spiel mit dem Advocatus Diaboli. In deren Gedankenwelt ist eine abweichende Position gar nicht kohärent formulierbar. Und wenn sie doch formulierbar wäre, dann wäre sie »Hate Speech« oder »Populismus«, und mit so bösen Dingen spielt man nicht einmal. Man nimmt ja auch kein Arsen, nur um zu probieren, wie es schmeckt.

Ich sehe das etwas anders. Mein Ziel ist nicht, diese oder jene politische Position zu vertreten, sondern zu verstehen, wie wir Menschen zu unseren ethischen Urteilen kommen. Und da kann es durchaus nützlich sein, als Advocatus Diaboli eine »gefährliche« Position einzunehmen.

Dass ich eine Meinung »ausprobiere« heißt ja nicht, dass ich sie auch vertrete. Die folgenden Positionen sind nicht unbedingt meine. Sie sind auch nicht nicht meine. Mir geht es darum, einen möglichen Weg aufzuzeigen – und es dann für mich offen zu lassen, ob ich ihn gehe.

Man kann ja auch Mathe-Rechnungen im Kopf anstellen, ohne es wirklich auszuführen. Wenn ich im Kopf überlegte, wieviel ich an Schlepper gespendet hätte, wenn ich erst 100 Euro an Schlepper spendete und dann nochmal 100 Euro, dann habe ich ja glücklicherweise nicht tatsächlich und real 200 Euro an Schlepper gespendet.

Bauchgefühl ist nicht Denken

Alle ethische Bewertung ist ein Bauchgefühl. Selbst wenn wir, z.B. konkret vorhersagen können, welches ethische Gefühl getriggert werden wird, so ist die moralische Gewissheit selbst ein Gefühl, nicht eine von außen zu messende Tatsache.

Ich selbst – die treuen Leser wissen es – analysiere ethische Gefühle anhand von »Relevanten Strukturen«. Eine Zusammenfassung finden Sie im Text »Worauf ich ziele, wenn ich von Politik rede«, die ausführliche Variante natürlich im Buch. Das ist auch die Technik, die ich anwenden werde bei der Untersuchung der Frage, ob und warum die Kinder in der Höhle »uns« wichtiger zu sein schienen als die Migranten, die an Afrikas Küste in Schlauchboote steigen.

Und Buße!

Ethische Gefühle haben immer mit Handlungen und Veränderungen zu tun.

Wenn ein Mensch einem anderen Menschen einen Stein an den Kopf wirft, dann entwickeln wir ein ethisches Gefühl. Wenn der Stein sich einfach so vom Berg löst und jemanden erschlägt, dann ist das Pech, aber es fühlt sich nicht »ethisch« an – doch, wir spüren in uns das Bedürfnis nach ethischer Bewertung. (Und Buße!) Also suchen wir jemanden, dessen Aufgabe es war, den Stein zu sichern; ihn ziehen wir dann zur ethischen und vielleicht sogar rechtlichen Verantwortung.

Außer … 

Damit eine Veränderung in uns ethische Gefühle weckt, muss sie Strukturen betreffen, die uns relevant sind. Um es extra deutlich zu sagen: Wir weinen mehr über den Tod  des Hundes, den wir noch als Welpen kannten und der mit uns aufgewachsen ist, als über den Tod des unbekannten Kindes auf der anderen Seite der Welt – außer …

(Am »außer« im letzten Absatz hängt viel!)

… außer jemand macht uns das Kind auf der anderen Seite der Welt relevant! Genau das ist im Fall der thailändischen Fußballmannschaft passiert. Die Medien haben uns live vom Drama der Kinder berichtet. Dadurch wurden sie uns relevant.

Wie sich später herausstellte

Es ist uns angeboren, die Struktur »Kinder« relevant zu finden und sie vor Gefahr bewahren zu wollen. Wenn wir von einem Kind erfahren, das in Gefahr ist, wollen wir es schützen.

Wenn Medien uns von Kindern in Gefahr berichten, fiebern wir ganz automatisch mit. Als wir die Bilder des ertrunkenen Flüchtlingsjungen am Strand sahen (der, wie sich später herausstellte, kein Flüchtling war), sprangen in uns ethische Gefühle an, keinem weiteren Kind durch Nichthandeln so etwas anzutun.

Doch, dieser ethische Drang ist – da gibt es kein Vertun – deutlich abgeflaut. Der Drang, Kinder zu schützen, mag einer der stärksten ethischen Instinkte sein, er ist aber nicht der einzige. Es gibt neben Kindern im allgemeinen noch weitere Strukturen, die uns als relevant erscheinen können.

Die verbrannte Hand

Die Geschichte des Deutschen dient ihm als dauernde Motivation, nie wieder an menschlichem Leid die Schuld zu tragen. Der Deutsche streckt gern seine helfende Hand aus. Doch wenn sie ihm wieder und wieder verbrannt wird, hat auch er keine Lust mehr.

Nach der Refugees-Welcome-Euphorie von 2015 haben viele Bürger, die sogar damals begeistert waren, das Gefühl, dass die Hand, die zur Hilfe gereicht wurde, verbrannt zurückkam. (Vergleich zum Beispiel den Text »Karim, ich muss dich abschieben« in taz.de, 31.5.2017.)

Es ist ungerecht, in vielerlei Hinsicht. Eine davon: Es gibt sie durchaus, die echten Flüchtlinge, die aus blanker Not flohen, die fleißig lernen, ihre Kinder zur Integration anweisen und sich in die neue Gesellschaft einfügen möchten, so gut sie können. Doch es gibt eben auch jene, welche mit einem Dutzend Fake-Identitäten viel Geld abgreifen und doch diejenigen, die ihnen helfen wollten, offen verachten.

Viele Deutsche sind es einfach müde, die Hand zur Hilfe auszustrecken, aus Angst, dass sie wieder verbrannt zurückkommt.

Not vs. Lüge

Niemand wird gern angelogen. Kaum jemand hat der deutschen Willkommensstimmung so sehr geschadet wie Journalisten, die sich der staatlichen Propaganda andienten, indem sie alle Migranten als »Flüchtlinge« bezeichneten, und von den Fachkräften schwärmten, die das deutsche Rentensystem retten sollten.

Die in der Höhle gestrandeten Kinder sind wirklich in der Höhle gestrandet. Das ist richtig. Das Wort »Flüchtlinge« für alle, die migrieren, ist falsch. Deutsche, die in drei Jobs malochen und sich doch seit Jahren keinen Urlaub mehr geleistet haben, geschweige denn etwas zurückgelegt zu haben, hören nun, dass Flüchtlinge im Land, aus dem sie flohen, Urlaub machen und dann wieder nach Deutschland zurückkommen, oder zumindest zwischendurch Geld nach Hause überweisen.

Nachdem sie aus der Höhle befreit waren, baten die Kinder erst einmal um eine Portion Schweinefleisch mit scharfer Soße. Sie baten nicht darum, tausende von Kilometern nach Duisburg, München oder Berlin gebracht zu werden, ihre Familie nachzuziehen (die Tochter erst in 2 Jahren, wenn sie mit dem Medizinstudium zu Ende ist). Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach Deutschland kommen und dann ihre Gastgeber als »Kuffar« beschimpfen, ist null.

Wahre Absicht

Diese Jungs in Thailand wollten gerettet werden und dann ihr Leben weiterleben. Die Migranten, die sich von Schleppern zu den Booten der NGOs bringen lassen, welche dann die Weiterfahrt nach Europa organisieren, wollen viel, viel mehr, als einfach nur aus dem Wasser geholt und nach Hause gebracht zu werden.

Man hat zunehmend das Gefühl, belogen und gelegentlich erpresst zu werden. Migranten, Schlepper und NGOs scheinen in einem Akt von Erpressung zu kooperieren. Sie begeben sich aufs offene Meer mit dem eigenen Leben und dem Leben der eigenen Kinder als Einsatz.

Der Tagesspiegel schreibt: »Mitglieder der Küstenwachen berichten, dass NGOs Flüchtlinge manchmal nur wenige hundert Meter von der Küste entfernt aufnahmen.« (tagesspiegel.de, 9.7.2018)

Ich denke nicht, dass es »offizielle« Absprachen zwischen Schleppern und NGOs gibt, aus einem simplen Grund: Es braucht sie nicht.

Man kommt sich als Bürger angelogen und verarscht vor. Niemand wird gern angelogen. So entsteht eine Distanz, die auf den ersten Blick wie Kälte aussehen kann.

Ethik braucht Möglichkeit

Ethische Gefühle sind kein Selbstzweck. Ethik wurde uns von der Evolution eingepflanzt, damit wir selbstbewahrend handeln.

Sie kennen bestimmt dieses alte Gebet: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« (Wikipedia: Gelassenheitsgebet)

Dieses Gebet ist so beliebt, weil es eine Wahrheit über die menschliche Seele ausdrückt: Was wir nicht verändern können, müssen wir hinzunehmen lernen, um nicht verrückt zu werden.

Eine Notlage muss wie eine klassische Story aufgebaut sein: Sie braucht Anfang, Herausforderung und Happy End.

Das »Wunder von Thailand« hatte Anfang (sie gingen trotz Warnung hinein), Herausforderung (Regen flutete die Höhle) und Happy End (alle wurden herausgeholt). Es braucht zumindest eine Chance, etwas verändern zu können, damit wir sinnvoll ethische Gefühle anwenden können.

Angesichts von Afrika

Die Situation mit Afrikas Migranten ist eine andere. Soll Deutschland wirklich »alle« 70 Millionen offizielle Uno-Flüchtlinge aufnehmen, wie es Claudia Roth im Bundestag forderte? (Siehe Bundestags-Protokoll 19/42, S. 4126das ZDF deutet es nachträglich als »Ironie« und »FakeNews«.) Was wir nicht ändern können, das hat wenig ethische Kraft. Wir sind nicht in der Lage, die 70 Millionen offizielle Flüchtlinge aufzunehmen, also schwindet der ethische Druck.

Dieselben Leute, die verlangen, dass man alle Flüchtlinge weltweit aufnimmt und die Grenzen offen lässt, schreien übelste Schimpfworte, wenn man ansetzt, die Ursache der Fluchtursachen zu lösen. Grundlage des Erfolgs eines Staates sind zu wesentlichen Teilen die Denkmuster der Bevölkerung – des Misserfolgs genauso. Wir können und dürfen diese Denkmuster nicht zu ändern versuchen – wir dürfen sie nicht einmal benennen, sonst geht es uns wie dem feministischen Magazin Emma, das jetzt wieder im Fokus der Meinungspolizei steht. (siehe uebermedien.de, 2.7.2018)

Wir würden verrückt werden, wenn uns das Herz bräche ob aller Probleme der Welt. Deshalb sind wir so verkabelt, dass uns eher jene Probleme als ethisch dringend erscheinen, die wir als »relevante Strukturen« erleben – und die auch lösbar sind.

Ethik-Konsumenten

Was manche moralisch Bewegten heute für ethische Meinung und Argumente halten, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bloße Reaktion auf äußere Trigger.

Die Menschen, die nach einem Aufruf im TV brav für dies oder jenes demonstrieren, degradieren sich zu reinen Ethik-Konsumenten. Es wird ihnen ein ethischer Trigger vorgelegt und sie springen darauf an. Sie sind ethische Pawlow-Hunde. Die Leute, die damals auf Schweigers Asylbewerberheim ansprangen und heute für den Schlepper-Support demonstrieren, haben von Ethik so viel Ahnung wie der durchnittliche Smartphone-Abhängige von Informatik, Mikroelektronik oder Suchtpsychologie weiß.

Selbstbestimmte Bürger

Der mündige Demokrat ist das Gegenteil der ethisch Getriggerten. Der mündige Demokrat untersucht die ethischen Implikationen von Handlungen und analysiert die jeweils relevanten Strukturen. Der mündige Demokrat wähnt sich nicht im Glauben, dass das, was ihm gerade als relevant erscheint, dadurch schon das wichtigste sein müsste. Der mündige Demokrat debattiert ethisch interessante Fragen, auch wenn sie schmerzen, wie etwa: Warum sind uns die Boko-Haram-Opfer so egal? (siehe welt.de, 10.7.2018)

Zwei Modelle

Es stehen zwei Modelle gegenüber.

Deren Modell lautet: Empöre dich, wenn der Mann im Fernsehen sagt, dass du dich empören sollst!

Unser Modell steht dagegen: Schaue über deinen Tellerrand hinaus, auch über den ethischen. Verstehe, warum du fühlst, wie du fühlst. »Das unerforschte Leben ist nicht lebenswert«, sagte Sokrates. Ich weiß nicht, ob ich bei »nicht lebenswert« zustimmen würde, doch dass ein erforschtes Leben interessanter und tiefer ist, das steht außer Zweifel.

Die Meinungsmacher in Berlin werfen täglich neue Trigger in den ethischen Käfig, auf dass wir wie Hunde sabbern und kläffen. (Das Wort »Zyniker« stammt übrigens vom griechischen Wort für »Hund«, κύων.)

Der mündige Bürger lässt sich nicht auf ein reagierendes Subjekt reduzieren. Der mündige Bürger untersucht seine ethische Meinungen. Es gibt ein Gegenmodell zum Getriggertsein. Das Gegenmodell zur Empörungskultur stammt ebenfalls von den alten Griechen. Es heißt: Erkenne dich selbst!

Weiterschreiben, Dushan!

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