Wer von Berufs wegen sichtbar und laut ist, der ist auch dieser Tage, in der Krise sichtbar und laut – etwa all die »Kulturschaffenden«, die das Jahr über linke Politik preisen, der Kanzlerin rote Rosen schenken (bz-berlin.de, 8.3.2016), und nun, in der Krise, natürlich ausgehalten werden wollen (zeit.de, 4.11.2020: »Geld ist im Übermaß vorhanden«).
Auch wenn Konzerne und die wirklich Reichen, die in der »Pandemie« noch reicher wurden (in den USA etwa um ca. 1 Billion, so cbsnews.com, 20.10.2020) ihre Meinung kundtun wollen, stehen ihnen weiterhin und gehorsamer denn je ausreichend Politiker und Journalisten sehr willig (und einigermaßen wirksam) zur Verfügung.
Und auch wir »digitalen Bürger« haben noch die »sozialen Medien« – wozu auch die Blogs zählen! Auf diesen »Klowänden des Internets« (so Jean-Remy von Matt) können wir jene Fragen stellen, von denen die-da-oben nicht wollen, dass man sie stellt – solange die Fragen nicht allzu frech werden, denn dann kommen die anonymen Zensoren und löschen, was sie für »falsche Meinung« halten. Jedoch, solange wir uns an den Zensoren vorbei zu schlängeln wissen – es schadet nicht, dabei die Kunst der Talking Points zu beherrschen – und solange wir sicher genug auf dem Hochseil des Sagbaren zu balancieren wissen und es vermeiden, in die Höllenflammen der politischen Korrektheit zu stürzen, solange können auch wir hier unten »laut werden«.
Haben wir in dieser Aufzählung alle Menschen erfasst?
Oft unsichtbar
Nach aktuellen Statistiken sind knapp vier Milliarden Menschen weltweit in den Sozialen Medien aktiv (statista.com, Jan. 2020: 3,81 Milliarden); das ist in etwa die Hälfte der lebenden Homo Sapiens dieses Planeten.
Die Hälfte des lebenden Menschengeschlechts ist in den Sozialen Medien unterwegs! Das ist beeindruckend (und macht gewisse Akteure sehr reich), doch es könnte in aller Online-Euphorie untergehen, was im Gegenzug der Fall ist: Die Hälfte der Menschheit ist nicht in den Sozialen Medien aktiv. Für die digitalen Bürger – wie, so fürchte ich, auch mich – bleibt die Hälfte der Weltbevölkerung digital stumm und also weitgehend unsichtbar.
Ja, sie sind oft unsichtbar, selbst wenn sie technisch online und angemeldet sind! Die bloße Verfügbarkeit sozialer Medien bedeutet noch nicht, dass diese auch tatsächlich für die Meinungsäußerung genutzt werden – und wenn doch, bedeutet die Nutzung noch lange nicht, dass die Nachricht auch ein Publikum findet, dass sie Einfluss auf die große Debatte hat.
(K)ein mediales Outlet
Einige meiner Leser arbeiten selbst in jenen »höher gelegenen Fluren« und ihr Abendprogramm ist eher eine »Fortsetzung des Business mit anderen Mitteln«. Wenn Sie zu dieser gewiss wohlverdient privilegierten Gruppe gehören, können Sie bei der folgenden Aufgabe vielleicht nicht (sinnvoll) teilnehmen – für alle anderen gilt: Wenn Sie Arbeiter kennen, wenn Sie vorwiegend daheim agierende Mütter in einfachen Verhältnissen (»Hausfrauen«) kennen, einen der Millionen armen Renter, oder einen Kleinunternehmer, der sich von Monat zu Monat hangelt, wie viele davon haben ein »mediales Outlet«, das deren Perspektive auf die Welt eben dieser mitteilt, und zwar derart, dass es auch gehört wird? Wie viele wollen überhaupt ihr Innerstes nach Außen kehren?
Wer abends erschöpft an Leib und Seele nach Hause kommt, wer alle Hoffnung längst aufgab, der schreibt nicht lange Elaborate in Blogs oder Protestaufrufe bei Facebook. Er oder sie teilt vielleicht ein schönes Bildchen oder einen motivierenden Spruch, um sich selbst irgendwie emotional über Wasser zu halten – doch wie sein Alltag wirklich aussieht, wie er wirklich leidet, das bleibt für uns stumm und verborgen.
Wir hören täglich das Jammern der Profi-Jammerer, die sich mit dem Jammern über angebliche Diskriminierung eine sozial äußerst privilegierte Stellung »erarbeitet« haben, die in teuren Limousinen umherfahren, die mehr glitzernde Euro auf jedem Handgelenk tragen, als mancher Jahresverdienst jener, welche morgens früh zur Arbeit fahren, um den ganzen Wahnsinn zu finanzieren. Wir hören die wohlfeilen Worte der Heuchler und Händeringer, die harte Einschränkungen verlangen, die sie selbstredend nicht selbst betreffen. Wir hören überlaut und deutlich die Verlautbarungen der reichen Bonzen im Staatsfunk und den von der Regierung co-finanzierten Zeitungen. Die Stimmen derer aber, die nicht mehr glauben, dass ihre Stimme etwas bewirkt, die vielleicht gar nicht die publizistischen Fähigkeiten besitzen, laut zu werden, diese Stimmen hören wir eben nicht.
»Und man sieht nur die im Lichte«, sinniert Brecht in der Dreigroschenoper, »die im Dunkeln sieht man nicht.« – Man könnte im Zeitalter von Twitter und all den anderen digitalen Schlangengruben formulieren: »Und man sieht nur die mit den Retweets, doch die im Dunkeln twittern nicht!«
Frei nach einer neuzeitlichen Weisheit: Das Wesentliche ist für die Sozialen Medien unsichtbar.
Wir sollten mal wieder nach dem Wesentlichen schauen.