Mich erfasst in diesen Tagen immer wieder das Verlangen, alte Lieder neu zu singen. Gestern, als ich »Erdoğans Kaserne« schrieb, da sprang aufs Neue ein Lied des feinen Herrn Westernhagen auf die Lippen – »… ich atme tief ein!« – und auch heute will ich wieder singen. Jeder Mensch, wenn er lebt und strebt und seine Kreise zieht, hat stets seine eigene Weise, mit der ganzen großen Schei–e fertig zu werden. Ein Drittel der Bürger, liest man dieser Tage etwa (z.B. bei stern.de, 25.9.2018), will gar nicht mehr zur Wahl gehen, doch ist es wirklich die Lösung, wenn einem nicht gefällt, wohin das Auto steuert, aus Trotz die Hände vom Lenkrad zu nehmen? Nein, es scheint mir doch klüger, erstmal ein Lied zu singen.
Heute ist ein solider Mittwoch, der Lieblingstag des braven Untertanen; an keinem anderen Tag sind die beiden Ufer des vergangenen wie des kommenden Wochenendes gleich weit weg und nichts als Arbeit um einen her.
Heute will der neue Preuße in mir ein altes Lied anstimmen, und zwar dieses:
Üb‘ immer Treu und Redlichkeit,
Bis an dein kühles Grab;
Und weiche keinen Fingerbreit
Von Gottes Wegen ab.
Dann wirst du, wie auf grünen Aun,
Durchs Pilgerleben gehn;
Dann kannst du, sonder Furcht und Graun,
Dem Tod‘ ins Auge sehn.
Die Zeilen entstammen dem Gedicht »Der alte Landmann an seinen Sohn« von Ludwig Hölty (nachzulesen z.B. bei zeno.org). Ich singe die Zeilen auf eine Mozart’sche Melodie, so wie es sich gehört (und es macht mir Gänsehaut, und zwar keine gute, die martialisch schicksalsergebenen Worte aus unwissenden Kinderkehlen zu hören, sei es der Bielefelder Kinderchor, der singt, oder die Sängerknaben vom Wienerwald).
Die »Treu und Redlichkeit«, die der viel zu jung verstorbene Hölty preist, gelten als preußische Tugenden; sie bauen auf dem Calvinismus auf, also der Überzeugung, dass Gott zwar Menschen zur Errettung vorausgewählt hat, doch sich am Erfolg ablesen lässt, wer das sei, und dass die Arbeit am Größeren der Selbstzweck sei. Die Arbeit des calvinistischen Preußen hat etwas Magisches an sich: Indem du fleißig bist, erarbeitest du dir im Nachhinein das Auserwähltsein im Vorhinein.
Die Preußischen Tugenden sind eine Fortentwicklung der protestantisch-calvinistischen Tugenden; das Große Ganze, auf das der Brave sein fleißiges Streben richtet, ist nicht mehr unbedingt Gottes Reich, sondern der militaristische Staat, im Original unter dem Hohenzollern Friedrich Wilhelm.
Der brave Preuße arbeitet nicht nur fleißig, er lernt auch, zu leiden ohne zu klagen. Er stirbt im Dienste der Sache, ohne den Lauf der Staatsangelegenheiten durch sein Jammern zu stören.
Bürger des Jahres
Der Bund der Deutschen Zeitungsverleger hat angekündigt, einem Elternpaar, deren Tochter ermordet wurde, einen Preis als »Bürger des Jahres« zu verleihen. Die Ermordete war Studentin, der Mörder war ein Flüchtling.
An der Konstellation dieser Preisvergabe ist dermaßen viel dermaßen problematisch, dass sich dem Gelegenheitspreußen in mir die bürgerlichen Zehennägel hochdrehen und der Magen sich ganz unpatriotisch selbst in Knoten legt.
Der welt.de-Artikel zu dieser Verleihung bei welt.de, 25.9.2018 ist von jener perfekten kalten Knappheit, wo sowohl das Gesagte als auch das Nichtgesagte den Leser scharf ins Gemüt schneiden.
Es sei mir erlaubt, den Text zu zitieren (nicht immer in der originalen Reihenfolge) und zu kommentieren:
Maria Ladenburger wurde am 16. Oktober 2016 in Freiburg von Asylbewerber Hussein K. vergewaltigt und ermordet. K. wurde dafür im März 2018 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. (Dieses und alle folgenden Zitate in diesem Abschnitt: welt.de, 25.9.2018)
Diese Beschreibung des Tathergangs folgt erst im vierten Absatz des Haupttextes, nach Bild, Schlagzeile und Werbung. Es ist den Gepflogenheiten und Rahmenumständen geschuldet, dass der Name des Opfers ausgeschrieben wird, der Nachname des Täters aber abgekürzt. Der Täter wird geschützt, nur wovor eigentlich? Doch, seien wir ehrlich, sein Nachname ist den meisten Lesern egal. Wenn der Täter »Markus« oder »Martin« hieße, würde es wahrscheinlich keinen Preis für die Eltern geben, er hieß aber »Hussein«.
In diesem Abschnitt wird vom »Asylbewerber« gesprochen, nicht vom Flüchtling. Der Täter war als Flüchtling eingereist und hatte sich als minderjährig ausgegeben. Der Focus berichtet (focus.de, 12.9.2017), dass er in Afghanistan bereits als 14-Jähriger eine 12-Jährige vergewaltigt haben soll. Der Stern berichtet (stern.de, 13.6.2016), dass er in Griechenland »2013 auf der griechischen Insel Korfu eine 20-jährige Studentin überfallen und eine Steilküste hinabgeworfen haben« soll. Auf Merkels Anordnung hin wurden Menschen wie er ab 2015 ohne Prüfung ins Land gelassen (siehe Die Getriebenen von Robin Alexander). Die Verwendung des Wortes »Asylbewerber« in diesem Zitat ließe sich deuten als spätere Instanz eines recht früh einsetzenden Trends in der Mainstream-Berichterstattung: Es wurden pauschal alle illegal Einreisenden »Flüchtling« genannt, doch wenn sie einer Straftat verdächtigt wurden, schien das Label automatisch zum Beispiel in »Asylbewerber« umzuschlagen.
Es steckt noch mehr allein in diesem kargen Abschnitt! Die Tat geschah in Freiburg. Ausgerechnet Freiburg. Nach der Tat wurde beteuert, dass Freiburg eben doch keine »Insel der Seligen« sei. Während der Tat war der Oberbürgermeister ein Grüner, was Menschen eben so wählen, wenn es ihnen zu gut geht – oder wenn sie es, wie Kreuzberg, ganz aufgegeben haben. Der Mord von Freiburg fühlte sich an wie ein Gegenbeweis für die linksgrüne Prämisse, »Willkommenskultur« schütze vor importierter Gewalt.
Der Text des zitierten Artikels beginnt nicht mit der Tat, sondern mit dem Preis, der den Eltern verliehen wird:
Es ist eine Auszeichnung, die eine Haltung prämieren soll: Friederike und Clemens Ladenburger, die Eltern der getöteten Freiburger Studentin Maria, bekommen den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen.
In dieser Epoche, die ich kommentierend begleiten darf, hat es sich bewährt, »Haltung« mit Parteilinie zu übersetzen, und mit »Partei« ist hier eine virtuelle linksgrüne Einheitsmeinung gemeint, die richtig erkannt hat, dass die Macht über Redaktionen und Bildungseinrichtungen de facto wichtiger ist als politische Macht. Die Mächtigen kontrollieren den Staatsfunk, doch der Staatsfunk hält den Finger auf der Waagschale, wenn abgewogen wird, wer ein Mächtiger wird und wer nicht. Ja, »Haltung« lässt sich heute mit »linksgrüne Parteilinie« übersetzen, sei es bei den vielen Orden für Journalisten mit »Haltung« (siehe auch: »Fünf Tonnen Blech«) oder eben, fürchte ich, aus Sicht des Preises selbst, auch hier.
Ich würde es nie wagen, das Verhalten von Eltern, die ein Kind verloren haben, zu beurteilen. Ich bin selbst Vater, und das Leid, das diese Eltern durchmachen müssen, kann ich nur von Ferne ahnen. Ich würde kein Verhalten der Eltern beurteilen – weder als schlecht noch als gut. Meine Kritik an dieser Verleihung richtet sich selbstverständlich nicht gegen die Eltern; die Handlungen der Zeitungsfunktionäre allerdings, die erwecken in mir den paradoxen Eindruck, in bemerkenswerter Tiefe unmoralisch zu sein – und doch zugleich auf geradezu unmoralische Weise flach, platt und oberflächlich.
Doch, »Haltung« ist nicht das einzige Schibboleth des knappen Textes! Die Dachzeile dieses Textes, die dem Leser einen Deutungskontext und eine Einordnung innerhalb der Gesamtnachrichten anbietet, lautet:
KEIN HASS NACH MORD
»Hass«, wie »Haltung«, ist ein Modewort linksgrüner und regierungsnaher Propaganda. Politiker und Zensur-Aktivisten versuchen seit Jahren (und z.B. via »NetzDG« auch parlamentarisch erfolgreich), den emotionalen Ausdruck von Kritik an der Regierung als »Hass« zu diffamieren. Selbst Politiker mit juristischer Bildung verbreiten wahrheitswidrig den an Orwell erinnernden Slogan »Hass ist keine Meinung« (selbstverständlich sind Äußerungen wie »ich hasse Nazis« oder »ich hasse Propaganda« von der Meinungsfreiheit gedeckt). Wenn Politiker und Journalisten mit »Haltung« von »Hass« reden, werden praktisch immer zwei Kategorien vermischt: von Hass motivierte Kriminalität und emotional vorgetragene Kritik an linker Haltung. Wenn in der Dachzeile also angedeutet wird, dass die Zeitungen an die Eltern des Opfers einen Preis für »Kein Hass nach Mord« verleihen, dann lässt sich das nach dem aktuellen Gebrauch des Kampfbegriffs »Hass« auch als »Keine Kritik an linker Politik nach Mord« lesen.
Im Text »Gutmenschen riskieren das Leben anderer Leute« schrieb ich über einen evangelischen Geistlichen, der insinuierte, es sei besser, zu sterben als mit etwas Misstrauen zu leben. Auch dort ging es um eine Tochter, die wohl von einem fremdländischen Mann umgebracht worden war. Jener Gutseinsprofi sagte: »Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn sie aus dem Mißtrauen heraus gelebt hätte. Aber wäre das das bessere Leben gewesen?«
Manche würden sagen, dass der Mord an jenen Mädchen mindestens funktional eine Folge linksgrünen Wahns war. Jahrzehntelang wurde Kindern beigebracht, selbst dem freundlichsten der Herren zu misstrauen und nicht in Autos fremder Männer einzusteigen, doch Gutmenschen überzeugten das Land von der schrägen Grundannahme, bei jungen Männern aus archaischen Kulturen und Afrikas Krisenregionen sei Misstrauen und Vorsicht unmoralisch.
Neue Tiefen
Der Bürgerpreis der deutschen Zeitungen ähnelt in geradezu erschreckendem Maße der Ehrung der Eltern von Märtyrern. Zeitungen, deren unkritische Hurra-Refugees-Stimmung die Flüchtlingskrise zumindest nicht abmilderte oder verkürzte, ehren die Eltern, deren Tochter von einem 2015-Refugee ermordet wurde? Die Zeitungen loten neue Tiefen in der nach unten offenen Skala journalistischen Anstands aus.
Die Eltern gründeten eine Stiftung im Namen ihrer Tochter (maria-ladenburger-stiftung.de), die unter anderem behinderten Studenten beim Studium hilft; die Preisverleihung durch die Zeitungen scheint mir dagegen mindestens fragwürdig. Nicht nur wird durch den Preis der Tod der Tochter gefährlich nah in die Nähe von Märtyrertum gerückt, es wird auch eine Form der Trauer als extra gut deklariert, und damit alle anderen Formen von Trauer eben als weniger gut.
Dass deutsche Zeitungen zum guten Teil parteiisch sind (Stichwort »Haltung«), das ist nun wirklich wenig kontrovers, doch indem sie elterliche Formen der Trauer implizit in gut vs. böse teilen, damit haben die Zeitungsleute ein ganz neues moralisches Glatteis entdeckt – das immerhin ist beeindruckend.
Wer sagt denn, dass es eine langfristige schlechtere Reaktion von Eltern wäre, gegen die Ursachen des sinnlosen Todes ihres Kindes zu protestieren? Welche Qualifikation soll Mainstream-Journalisten zu Moralrichtern erheben? Eher kann der dicke Mike von der Pommesbude die Redaktion des Guide Michelin übernehmen, als dass Journalisten darüber befinden, was moralisch gut ist und was nicht-so-gut.
Nehmen wir, zum Vergleich, eine andere Trauernde. Die Mutter der ebenfalls von einem Flüchtling ermordeten Jüdin Susanna Feldmann (siehe z.B. juedische-allgemeine.de, 10.6.2018) nahm ihr Schicksal nicht ganz so gefasst hin. Sie schrieb etwa auf Facebook einen verzweifelten, anklagenden Brief an Merkel. Titel: »An Ihren Händen klebt Blut!« – Für diese Trauernde gab es keine Zeitungspreise. Ihr Brief wurde gesperrt. Eine Folge des Zensurgesetzes »NetzDG«? Man weiß es nicht. Es ist im Dunkeln. Es ist vieles recht merkwürdig, was in diesem Rechtsstaat passiert.
Zum Glück gibt es nicht nur die organisierten Zeitungsverleger, sondern auch Freie Denker, und einer davon hat den Brief der Mutter dokumentiert und veröffentlicht.
Der Anfang und ein Auszug daraus:
Sehr geehrte Frau Merkel,
nach dem grausamen Mord meiner geliebten Tochter Susanna vom 23.05.2018 ( ihre Leiche wurde erst 14 Tage später vergraben, neben den Bahngleisen gefunden, sie war gerade mal 14 Jahre alt!! ) fällt es mir immer noch sehr schwer die richtigen Worte zu finden.
(…)
Bedeutet Ihnen Ihr eigenes Volk denn gar nichts? Ist es Ihnen wirklich total egal, dass Ihre Gäste hier das Land langsam aber sicher zerstören, dass die Familien ihre Kinder, Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern durch Ihre Gäste Frau Merkel verlieren müssen? (…)(Den Rest lesen Sie bei journalistenwatch.com, 15.9.2018)
Die Mutter von Susanna wird keine Preise von Zeitungsverlagen bekommen. Sie schreit ihren Schmerz auf Facebook heraus, und dort muss sie sich mit den Zensoren herumschlagen. Übrigens: Die Bertelsmann-Tochter Arvato wacht in Berlin darüber, was bei Facebook (wohl auf Deutsch) gesagt werden kann. Zitat von arvato.com (Link funktioniert nicht mehr, aber via web.archive.org verfügbar): »Zu den Details des neuen Vertrags haben beide Seiten Stillschweigen vereinbart.«
Kein Preußentum
Ich verstehe beide elterliche Reaktionen. Ich verstehe die Wut und ich verstehe den Wunsch, ein moralisches »double down« zu fahren. Ich würde es nicht wagen, eines oder das andere zu werten.
Die Preisverleihung durch den Bund der Deutschen Zeitungsverleger ist nicht nur als unmissverständliche politische Positionierung der Zeitungen lesbar, es sieht auch aus wie der Versuch, Trauernde und Angehörige der Opfer gutmenschlichen Wahns in zwei Klassen zu teilen. Der »gute« Bürger nimmt den Tod seiner Angehörigen durch die Hand messertragender »junger Männer« preußisch-stoisch hin, doch wer protestiert und seinen Schmerz über die Ungerechtigkeit in die Welt schreit, der wird noch nicht mal ignoriert, der riskiert, von den Freunden der feinen Zeitungsleute gesperrt und zensiert zu werden.
Ich bin kein calvinistischer Preuße, am Mittwoch nicht und auch an keinem anderen Wochentag. Ich will nicht besonnen sterben, nicht für einen Kaiser und nicht für linksgrünen Wahn. Ich will die Trauernden trösten, ihre Hand halten, doch niemals stünde es mir zu, eine gute von einer anderen Trauer zu unterscheiden.
Ich will leben, nichts ist wichtiger als das Leben. Ich will, dass meine Kinder leben, und ich will, dass deine Kinder leben. Ich habe es mir überlegt, ich will doch nicht von Treu und Redlichkeit bis an irgendein kühles Grab singen. Ich will andere Melodien singen, andere Melodien und bessere Texte.
Etwa diesen:
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
(»Dieser Weg« von Xavier Naidoo)
Tröstet die Trauernden, schützt die Lebenden, gebt den Hungernden zu essen und den Bösen ihre Strafe, habt ein strenges Auge auf die Politik und ein noch strengeres auf die Schreiber und Schwätzer, von all diesem aber ist am dringendsten: Schützt die Lebenden, um des Himmels wie der Erde willen, schützt die Lebenden!