Dushan-Wegner

05.09.2022

Haltung oder Wohl des Volkes

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Annie Spratt
Wir sollten den Amtseid modernisieren. Streicht »dem Wohle des deutschen Volkes«, »Nutzen mehren« und »Schaden von ihm wenden«. »Volk« klingt eh »rechts«. Schreibt rein: »Ich werde Haltung zeigen, egal was meine Wähler denken.«
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Im Amtseid, da versichern deutsche Minister und der Kanzler davon, dass man seine Kraft der Haltung widmen würde, den Nutzen der Haltung mehren und Schaden von der Haltung abwehren würde.

Haben Sie das anders in Erinnerung? Erinnern Sie sich womöglich an Gedanken und Passagen, wonach man sich dem Wohl des Volkes (ja, »Volkes«) widmen, oder den Nutzen (ja, »Nutzen«!) des Volkes mehren will? Passen Sie auf, woran Sie sich da erinnern. Nicht, dass man Sie noch für einen Rechtsextremisten hält!

Letztens lasen wir noch von der Grünen Ministerin, die auf internationaler Bühne erklärte, wie egal ihr die Meinung ihrer deutschen Wähler sei (Essay vom 2.9.2022). Einige deutsche Wähler waren, um es höflich zu sagen, irritiert. Der deutsche Propagandastaat sprang an, und erklärte das wörtliche Zitieren der Grünen für »Desinformation«, erfand Verschwörungsmythen über »Kreml-nahe Trolle«.

Als am Montag danach die Empörung noch immer nicht abgeklungen war, tweetete der Account der Außenministerin eine Aussage, die von einem gewiss nicht billigen Stab an PR-Arbeitern poliert zu sein scheint.

Formal bezieht man sich auf die aktuelle »Botschafterkonferenz« (»BoKo22«, siehe auswaertiges-amt.de, 5.9.2022), doch ich vermute, nicht falsch zu liegen, wie viele andere Bürger auch dies als Versuch einer Rechtfertigung zu deuten:

»Was für mich Außenpolitik ausmacht, ist #Haltung. Die Bereitschaft, Kante zu zeigen, wenn unsere #Freiheit und unsere #Werte in Frage gestellt werden. Und eine Politik, die erläutert, zuhört & andere Sichtweisen reflektiert, um konkrete Lösungen zu finden. #BoKo22« (@ABaerbock, 5.9.2022)

Ach, womöglich ist es gar keine Rechtfertigung. Ist es gar ein Signal an bestimmte Kreise, zu denen weder Sie noch ich zählen?

Das Wort »Haltung« fällt auf. Via »#« wird es zum Hashtag, also zur Selbsteinordnung der Aussage in eine Kategorie.

Der Vorwurf an die grüne Ministerin war gewesen, dass sie öffentlich erklärt zu haben schien, das Wohl der Ukrainer vor den Willen ihrer deutschen Willen zu stellen, was manche Bürger als so öffentlichen wie eklatanten Bruch des Amtseides deuteten.

Wie reagiert nun die Ministerin, oder wer auch immer für sie diese Aussage verfasste?

Man ignoriert zunächst den Vorwurf, gegen das Wohl des deutschen Volkes zu handeln. Was ist es, das für sie »Außenpolitik ausmacht«? Haltung!

Nun wissen wir (und ich habe oft genug darüber geschrieben), dass »Haltung« ein Code für etwas anderes ist.

Damit ein Wort überhaupt einen Sinn ergibt, muss es sich auf einen realen Sachverhalt beziehen.

Wenn Journalisten von »Haltung« reden, ergeben die Aussagen erst Sinn, wenn man das Wort »Haltung« durch den Begriff »Parteilinie« ersetzt.

Nun wissen wir, dass Frau Baerbock mit »Haltung« kaum »Parteilinie« meinen kann, denn über Jahre war es grüne Parteilinie, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern (siehe gruene-nrw.de, 25.1.2018 und viele andere). Die »Parteilinie« der Grünen folgt eher den Vorgaben von anderswo, und man liefert eben doch Waffen in die Ukraine (taz.de, 18.4.2022).

Nun könnte die eifrigen Apologeten der jeweils aktuellen politischen Linie anbringen, Frau Baerbock meine mit »Haltung« so etwas wie Moral. (Es ist traurig, wie viele Bildungsbürger das als Argument hinnehmen würden. Bildungsbürger nehmen importierte Gewalt aus dem gleichen Grund hin, warum sie »Haltung« als Argument akzeptieren: Man fühlt sich unwohl dabei, mit jemandem zu argumentieren, der mit Moral argumentiert, also unterwirft man sich.)

Wer aber relevante Strukturen kennt, der weiß, dass »Moral« selbst Code für bestimmte Veränderung an Strukturen ist, die uns relevant oder nicht relevant sind.

»Ich finde das ethisch gut«, bedeutet (gestrafft formuliert): »Es stärkt Strukturen, die mir relevant sind.«

»Ich finde das ethisch böse«, bedeutet entsprechend: »Es schwächt Strukturen, die mir relevant sind.«

Wenn man »Haltung« also »moralisch« deutet, dann wäre »Haltung« schlicht Code für »gut im ethischen Sinne«. Der zweite Satz jener Aussage, mit »Kante zu zeigen«, »unsere Freiheit« und »unsere Werte«, wiederholt im Grund immer wieder dasselbe.

»Kante zeigen« ist Politikersprech für »eine klare Aussage treffen« – und wird oft gerade dann verwendet, wenn man genau dies vermeiden will. (Oder deuten die mit »Kante zeigen« an, dass der Staat sich mit militärischen Mitteln gegen frierende und also protestierende Bürger aufrüstet?)

»Freiheit« lese ich seit Jahren (siehe Essay vom 1.11.2017) als »Zufriedenheit mit seinen möglichen Handlungsoptionen« – als deutscher Politiker von »Freiheit« zu reden enthält gewisse Ironie, da seit Merkel doch jede einzelne Entscheidung immer »alternativlos« ist und jeder Widerspruch als »rechtsradikal« gilt.

Eine ehrlichere Formulierung der Politikersprache klänge vermutlich: »Was ich mache, ist ethisch gut, und ihr habt damit zufrieden zu sein, sonst seid ihr ethisch böse.«

Wir aber, die wir in relevanten Strukturen denken, haken nach: Welche Strukturen sind es, die von der »Haltung« der Regierung wirklich gestärkt werden? Was ist denen-da-oben wirklich relevant?

Wenn es das Wohl des Volkes ist, das diesen Menschen wirklich der Leitfaden ist, warum flüchten sie sich in Bullshit-Vokabeln wie »Haltung«, die alles und nichts bedeuten können?

Ich sollte vorsichtig sein mit der sarkastisch gemeinten Idee, Art. 56 GG derart umzuschreiben, dass statt auf das Wohl des Volkes ab sofort auf »Haltung« geschworen werden soll. Wie ich diese Leute einschätze, machen die das noch wirklich!

Ich wäre nicht überrascht, wenn einige Linke die Unterwerfung unter die »Haltung des Tages« tatsächlich für eine Super-Form des »Wohl des Volkes« halten, wie religiöse Extremisten, die sich oder andere Menschen für eine religiöse Wahnidee opfern.

Wenn die Politik die Schutzbehauptung aufstellen wollte, dass »Haltung« doch »Wohl des Volkes« bedeutet, dann hätte ich aus den letzten Jahren tausend Gegenbeispiele, wo das ganz offensichtlich nicht der Fall sein konnte.

Die Begriff »Haltung« und »Werte« allein bedeuten beide zunächst wenig mehr, als dass etwas einem konsequent wichtig ist, und dass man bereit ist, es auch gegen Widerstand zu verteidigen (siehe auch Essay vom 14.7.2018).

Die Politik ist auffallend unscharf bei den Angaben zur Frage, was wirklich ihre relevanten Strukturen sind.

Sie und ich, liebe Leser, sollten umso klarer wissen, was uns wirklich wichtig ist.

Weiterschreiben, Wegner!

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