22.11.2024

Ich blind, du blind, »wir« Elefant

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Vorwärts (wohin auch) immer«
Wir kennen die Parabel: Blinde treffen auf Elefanten. Der erste Blinde betastet den Rüssel und befindet, dass ein Elefant »wie eine Schlange« sei, und so weiter. So erklären sich Religionen – aber auch Staatsformen (und unser Bild von uns selbst).
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Gewiss habt ihr schon einmal die Parabel von den sechs Blinden gehört, die auf einen Elefanten treffen.

Ein Blinder betastet den Rüssel und kommt sogleich zu dem Schluss, dass ein Elefant sei wie eine Schlange beschaffen ist.

Ein Blinder befühlt das Bein, und dieser kommt zum Schluss: Ein Elefant ist wie ein Baum.

Ein Blinder befühlt den Schwanz und beschließt: Ein Elefant ist wie ein Seil!

Einer tastet das Ohr: Ein Elefant ist wie ein Fächer!

Den Bauch: Wie eine Wand!

Und einer der Blinden betastet schließlich einen der beiden Stoßzähne, und so gelangt er zum zwingenden Schluss: Ein Elefant ist wie ein Speer!

Unter den Blinden bricht ein Streit aus, wie ein Elefant denn nun wirklich beschaffen sei.

Alle sechs Blinde sind sich einig, dass sie denselben Elefanten betastet haben. Und jeder war sich bis eben noch sicher, dass die Blindheit der anderen nicht deren Zurechnungsfähigkeit erheblich einschränkt.

»Wie kann es also sein«, so wundert sich jeder der Blinden, »dass die anderen den Elefanten so anders wahrnehmen als ich? Es muss sich um einen simplen Fehler handeln. Ich werde diese Irrenden schon noch überzeugen, wenn ich nur nachdrücklich auf meinen Erkenntnissen bestehe.«

Seufz, typisch Religion!

Die Lehre aus der Parabel ist natürlich, dass jeder Mensch nur einen Teil des Ganzen sieht, doch dann meint, alles sei so beschaffen wie dieser Ausschnitt.

Die Parabel vom Elefanten und den Blinden wird etwa auf Fragen der Religion, aber auch auf wissenschaftliche Debatten angewandt.

Die eine Kultur erlebt die »höheren Mächte« auf die eine Weise, eine andere Kultur erlebt »das Göttliche« auf eine ganze andere Weise. So entstehen Religionen.

Statt ihre Erlebnisse und Deutungen abzugleichen und dazuzulernen, nimmt jede Kultur an, ihre Erlebnisse und Deutungen seien die einzig wahren – mit den entsprechenden sozialen und sonstigen Konsequenzen.

Ja, es ist derart typisch für Religionen, von einigen sehr speziellen Erlebnissen und deren ausgefallener Deutung auf alles zu schließen, dass wir auch Bewegungen und Parteien, die ähnlich »denken«, als »sektenähnlich« beschreiben.

Sehr doppelter Fehlschluss

Wir schmunzeln über die Blinden in dieser Parabel, und das ist verständlich. Worin genau liegt eigentlich der Denkfehler?

Vor lauter Belustigung über den einen Fehlschluss könnten wir glatt den zweiten übersehen! Der erste Fehlschluss ist der, dass die persönliche Wahrnehmung eines Phänomens das gesamte Ding beschreibt.

Übrigens, innerhalb dieses ersten Fehlschlusses findet sich auch noch ein »Unter-Fehlschluss!«

Die Blinden – also: wir – schließen ja auch nur auf das uns Naheliegendste. Selbstverständlich ist der Rüssel eines Elefanten nicht in jeder Hinsicht »wie eine Schlange«, der Schwanz nicht »wie ein Seil«. Selbstverständlich existieren Unterschiede. Doch der Blinde wählt als Vergleich immer nur aus den ihm zu dem Zeitpunkt bekannten Phänomenen!

(Deshalb ähneln Religionen übrigens regelmäßig den Herrschaftsformen ihrer Zeit. Stadtstaaten gebaren den Polytheismus. Monarchien den Monotheismus. Der Feudalismus formte die katholische Kirche des Mittelalters mit ihren Kardinälen und Bischöfen. Demokratische Ideen schließlich formten den Protestantismus. Und der Zusammenhang zwischen Eroberungspolitik und »Mission« ist womöglich enger, als man heute laut aussprechen sollte.)

Der zweite Fehlschluss aber könnte fast unbemerkt bleiben!

Wir erkennen ja all die Absurdität darin, von der Wahrnehmung eines Details aufs Ganze zu schließen. Doch in der Parabel, zumindest so wie ich sie erzählte, könnte ein wichtiges Detail übersehen werden.

Die Blinden sagen nicht »Dieser Elefant ist so und so«, sondern »Ein Elefant ist so und so«.

Das bedeutet: Nicht nur schließen die Blinden von ihrer persönlichen Deutung eines einzigen Details auf das gesamte Tier – die schließen zugleich auf alle Tiere!

Und so erfindet er

Wir alle sind in mancher Hinsicht »wie« diese Blinden. Ob als Einzelne oder als Kulturen und Gesellschaften.

Mir fiel dieser Elefant-und-Blinde-Aspekt jüngst bei unserer Deutung der Möglichkeiten und Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf.

Der hier gezeigte Fehler beschreibt, so fällt mir auf, ja nicht nur die Eigenschaften eines Phänomens! Auch die Normen und Notwendigkeiten zur Erlangung eines wünschenswerten Zustands unterliegen dem Blinder-und-Elefant-Phänomen.

Der eine Blinde nimmt Ungerechtigkeit in der Behandlungen von Fabrikarbeitern wahr. Er interpretiert, dass es mit dem Kapital in den Händen der Fabrikbesitzer zu tun hat. Und so erfindet er den einen »Anti-Kapitalismus« – den »Kommunismus«.

Sein erster Fehlschluss lag darin, von einzelnen Beobachtungen auf die gesamte Gesellschaft zu schließen. Der zweite Fehlschluss aber lag darin, von seiner Gesellschaft und deren Kultur auf alle Menschen und ihre Kulturen zu schließen.

Der zweite Blinde sieht, dass industrielle Wertschöpfung den allgemeinen Wohlstand heben kann. Dass Kapitalismus den Menschen motivieren kann (und Kommunismus kann den Menschen demotivieren). Dieser Beobachter schließt dann, dass Kapitalismus immer gut ist und Sozialismus in allen Aspekten schlecht.

Ja, wir sind fürwahr Blinde. Du und ich sind Blinde, und einer unserer Elefanten ist die Frage, wie Menschen zusammenleben sollen.

Der Elefanten größter

Der größte und einflussreichste »Elefant im Raum« ist aber die Frage, wie der Mensch mit sich selbst zusammenlebt.

Der eine Mensch merkt an sich, dass Arbeit ihn zufrieden werden lässt und dass das aus Arbeit resultierende Geld sehr nützlich ist. Also behandelt er Arbeit und Einkommen so, als ob sie der Sinn seines Lebens wären.

Für den nächsten Menschen sind es seine Kinder. Für einen weiteren sind es Partys und Alkohol, für einen anderen ist es die Religion – siehe oben – oder das Verfolgen politischer Debatte.

Der Mensch sucht nach Mitteln und Wegen, auf angenehme oder zumindest möglichst schmerzarme Weise mit sich selbst zusammenzuleben. Stößt er dabei auf ein Detail, das irgendwie funktioniert, deutet er es auf die ihm naheliegendste Weise – und rechnet es auf sein gesamtes Leben hoch. (Oder womöglich auf alle Menschen. Ein Detail, dass mir eine Zeit lang Sinn und Freude gab, muss alle Menschen glücklich machen, und wenn nicht, sind sie halt doof und selber schuld sowieso.)

Wie dieses – oder jenes

Ein Elefant ist nicht wirklich »wie eine Schlange« oder »wie ein Baum«. Nicht einmal der Rüssel oder das Bein sind es jeweils in jeder Hinsicht.

Eine Gesellschaft wird weder im Sozialismus noch im Kapitalismus ganz glücklich. Und nein, auch wenn man dem Sozialismus ein Öko-Mäntelchen umhängt, wird er die Menschen nicht glücklich machen oder auch nur zum Überleben der Gesellschaft beitragen – siehe Deutschlands Niedergang in Habecks Öko-Sozialismus.

Der Mensch wird nicht als Workaholic glücklich, nicht als Faulenzer, nicht allein als Familienmensch und nicht als hedonistischer Single.

Wie wird er dann glücklich, dieser Mensch? Nun, leider: Weder du noch ich kennen den ganzen Elefanten.

Wenn uns jemand sagt, die Gesellschaft oder die menschliche Seele seien »wie« dies oder »wie« jenes, dann dürfen und müssen wir antworten: »Das ist ein interessanter Aspekt, danke! Und wie sind die Gesellschaft, die Menschheit und die Seele noch

Weiterschreiben, Wegner!

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