Im Schwimmbad meiner Kindheit (»De Bütt«, Hürth) sind bis heute zwei Schwimmbecken.

Eines war weniger als einen Meter tief, das Nichtschwimmerbecken.

Das zweite war ein großes, ernsthaftes Schwimmbecken mit Dreimeterbrett darüber und tief genug, dass es eine Mutprobe war, bis auf den Boden zu tauchen.

Ihr werdet mir bei dieser These gewiss zustimmen: Wenn sich ein Besucher nicht traut, im Nichtschwimmerbecken zu planschen, dann wird er sich erst recht nicht trauen, im großen Becken zu schwimmen.

So weit, so plausibel, oder?

Damit gilt aber auch: Die Frage ist beantwortet.

Welche Frage?

Na, die Frage.

Was hättest du

Jedem Schüler in Deutschland, nicht nur in meiner Generation, wurde die Frage als schwere Last auf die jungen Schultern gelegt, und die Frage lautet: Was hättest du dort und damals getan?

Die Frage ist beantwortet: Nichts. Nichts hättest du getan.

Woher ich das weiß, dass du nichts getan hättest?

Weil du heute nichts tust.

Ich höre euch ja geradezu, während ich dies schreibe, in den letzten Stunden einer weiteren viel zu kurzen Nacht. Ich höre euch aus der baldigen Zukunft protestieren: »Ich tue doch nicht nichts! Ich tue etwas!«

Und dann, weil dir einfällt, wie gefährlich der Vorwurf der »Relativierung« in UnsererDemokratie ist, schiebst du nach: »Außerdem ist es heute nicht wie damals. Das war ein einmaliges Unrecht!«

Zur Erklärung und Dokumentation: Nach §130 StGB kann in den Knast geworfen oder anders bestraft werden, wer »eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung« »billigt, leugnet oder verharmlost« (und zwar »in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören«, wobei dies zu beurteilen Staatsanwalt und Richter de facto weitgehend frei sind).

In der Praxis bedeutet das allerdings: Die UnsereDemokratie-Funktionäre können politische Gegner ungestraft und unentwegt als »Nazis« etc. verunglimpfen – die Staatsanwälte sind ja an die Weisungen von UnsereDemokratie-Funktionären gebunden.

Wer aber als Nicht-Funktionär auf Parallelen im Handeln und Denken der UnsereDemokratie-Funktionäre zu einzelnen Aspekten des damaligen Totalitarismus hinweist, der kann leicht wegen »Relativierung« damaliger Verbrechen verfolgt werden. Hierbei erfolgen die Strafe und die öffentliche Demütigung oft ohne Anklage und Verfahren, da die Hausdurchsuchung selbst bereits als Strafe praktiziert wird.

»Nie wieder« zu sagen ist in Deutschland gefährlich, wenn das »Wieder« von den »Guten« versucht wird.

Relativ zum Profibecken

Aber keine Angst, liebe Schwimmschüler, wir relativieren hier nicht, außer dergestalt, dass das Heute sich zum Damals verhält, wie das Nichtschwimmerbecken zum Profibecken mit Sprungturm.

In Großbritannien, also gleich nebenan, wird aktuell ein veritabler Totalitarismus installiert – inklusive Verfolgung und Verurteilung für Gedankenverbrechen.

Die britische Polizei ist täglich im Einsatz gegen Gedanken, die zwar noch nicht illegal sind, aber sich zu illegalen Gedanken entwickeln könnten.

Du sagst dir: »Damit habe ich nichts zu tun, das ist nicht mein Land, die sind ja nicht mal in der EU-Besatzungszone!« – Damit ist die Frage beantwortet, was du getan hättest als Bürger eines Nachbarstaates: nichts.

In Deutschland werden Regierungskritiker, die zu Demonstrationen gegen das »legale Unrecht« der Regierung aufriefen, unter fadenscheinigen Vorwürfen in den Knast geworfen.

Und was tust du?

Du schimpfst vielleicht ein bisschen, aber auch das nur vorsichtig. Willst ja nicht deinen Job verlieren. Oder eine der erwähnten und stets unausgesprochen drohenden Straf-Hausdurchsuchungen erleben – und der Verdacht auf Falschdenk genügt ja.

Und so weiter und so fort. Und überhaupt, was solltest du auch tun?

Das Damals ist das tiefe Becken mit Sprungturm. Das Heute ist im Vergleich das Nichtschwimmerbecken – und du traust dich ja heute kaum, etwas Wasser aufspritzen zu lassen, geschweige denn mit Anlauf hineinzuspringen.

Ich kann dich verstehen.

Wenig an der Außenwelt

Ja, ich kann dich verstehen. Und ich würde es genauso tun – wenn ich frei wäre von dieser Neigung, in den frühesten Morgenstunden den Grund für meine Schlaflosigkeit zu suchen, viele Zeilen und Absätze lang.

Doch auch mein Schreiben verändert ja wenig an der Außenwelt. Weder du noch ich verändern groß etwas, sonst säßen du und ich längst im Knast. Oder stünden gerade im Bademantel vor der Tür, gefilmt von den hämischen Kameras des Staatsfunks, während die braven Polizisten (sie machen ja nur ihren Job) unser Haus so sinnlos wie demütigend auf den Kopf stellen und konspiratives Inventar konfiszieren.

Die Frage, was wir damals getan hätten, ist beantwortet – und ich meine, dass sie nicht besonders relevant ist. (Außer, wenn man sich daran erfreut, ein »Held in Gedanken« zu sein. Mancher stellt sich vor, er wäre James Bond. Ein anderer, er wäre Widerstandskämpfer. Was man so träumt, während man im Supermarkt nach den Sonderangeboten sucht.)

Unseren täglichen Broder

Fast täglich möchte man in diesen Jahren Henryk Broder zitieren. Zuletzt tat ich es im Essay »Du sollst Wahrheit sagen, aber ohne Einstein«: »Wenn ihr euch fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.«

Broder sagt nicht, dass das Heute dem Damals gleicht. Er legt aber nahe, dass heute andere schlimme und unmenschliche Zustände folgen werden, allerdings aufgrund derselben Schwächen wie damals. (Zur Illustration: Jeder Unfall wegen Trunkenheit mag anders katastrophal ausgehen; doch haben die Unfälle die eine Ursache gemeinsam.)

Erst mal wissen, was

Die Menschen wussten damals nicht, was danach, also nach dem Damals kommen würde. Die wussten zu Beginn ja nicht einmal, dass das Damals eben ein Damals mit großem D war!

Wir wissen ebenfalls nicht, was nach unserem Heute der Fall sein wird. Wir wissen nicht, wie tief dieses Schwimmbecken noch geht, ob wir bereits die ganze Tiefe ausloten können oder noch in Richtung ganz anderer Abgründe planschen – und welche Ungeheuer dort auf uns warten.

Dass es nicht wird »wie früher«, scheint recht klar. Auf De-Industrialisierung wird keine Re-Industrialisierung folgen; schon gar nicht, wenn deutsche Spitzenleute zu Zigtausenden abwandern, während künstliche Intelligenz die globale Wirtschaft und Gesellschaft redefiniert.

Weder du noch ich können allzu viel an den äußeren Umständen ändern. Dazu müssten wir überhaupt erst mal wissen, was wirklich geschieht.

Die Kinder so schön

Sei ehrlich: Du ahnst es doch auch, du spürst es in den Knochen, dass wo sie uns Debatte und Protest und sogar etwas Veränderung gestatten, nur eine harmlose Spielwiese ist. Wie man Kindern ein paar Bauklötze oder ein Computerspiel in die Hand drückt, sodass sie ohne Konsequenz ihre niedlichen kleinen Häuser bauen und dann wieder umwerfen können. Das beruhigt die Kinder so schön, während die Erwachsenen die wirklichen Dinge tun.

Ich weiß nicht, was ich damals getan hätte.

Aber ich weiß, was ich heute tun muss: Ich muss klüger werden, will etwas weniger seicht sein. Will nicht Laodizea sein, will mir Offenbarung 3:15 zu Herzen nehmen, wo es heißt: »Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß!«

Ach, ich bin zu realistisch – oder zu verhärmt –, um zu sagen, ich arbeitete daran, der Mensch zu sein, der ich sein will und soll. Es wäre viel und fürs Erste wohl auch genug gewonnen, wenn ich weniger dem Menschen ähnelte, der ich auf keinen Fall sein will.

Der Muffin, der Mensch

Die Sonne ist inzwischen aufgegangen, der Kaffee getrunken und der von meiner Tochter gebackene Muffin aufgegessen.

Ich kann die Welt nicht ändern, aber ich kann mich ändern. Ich arbeite daran, weniger der Mensch zu sein, der ich nicht sein will.

Und wenn ich die Macht hätte, zu befehlen, würde ich euch befehlen, es mir auf eure eigene Weise und nach eurer eigenen, ehrlichen Erkenntnis gleichzutun.