Zwei Menschen in diesen Tagen, sie könnten in die asymmetrische Lage geraten, in den wesentlichen Dingen durchgehend ähnlich zu sein – ähnlicher Beruf, ähnlicher Bildungsstand, ähnliche Konstellation der Familie, ähnliche Gesundheit, ähnliche Wohnsituation, ähnliche Vermögensverhältnisse – und doch ist der eine weitgehend an der Seele stabil und in manchen Momenten sogar glücklich, während der andere halb zu Tode betrübt ist, dreiviertel hoffnungslos und vollständig desillusioniert.
Was würde diese beiden so gleichen und doch so unterschiedlichen Bürger wirklich voneinander unterscheiden? Wir ahnen es, und wir wollen es auch aussprechen, doch zunächst wollen wir uns schnell die allgemeine Lage der beiden, den Kontext vergegenwärtigen!
Das Kalenderjahr 2021 neigt sich seinem Ende zu. (Ich sage »Kalenderjahr«, denn wir ahnen, dass 2021 recht ansatzlos in 2022 übergehen wird, wie zwei Kleckse derselben Bratensoße auf dem Teller ineinanderfließen, ganz egal welcher von den beiden Klecksen zuerst gekleckst wurde.)
Es ist Weihnachten 2021 und Berlin hat genau die Bürgermeisterin bekommen, die zu jenem von diversen Umlackierten regierten Failed State passt: Die Promotionsbetrügerin Franziska Giffey (welt.de, 21.12.2021).
Die Betrügerin Giffey ist wahrlich nicht die einzige Gestalt, deren politischer Erfolg allein ein ausreichendes Argument gegen die Demokratie zu sein scheint. Was ist ein politisches System wert, was kann es wert sein, das solche Gestalten in Machtpositionen spült?
In demselben Berlin, nun bundespolitisch betrachtet, wollen die Parteien den aktuellen Bundespräsidenten Steinmeier im Amt bestätigt sehen. Steinmeier wurde von der Berliner SPD vor seinem Antritt völlig richtig als »sozialdemokratischer Schlossherr« gefeiert (welt.de, 11.2.2017). Kein Bundespräsident vor ihm ist wohl jemals derart parteiisch, spalterisch und schlicht derb aufgetreten wie Steinmeier; ich habe es unter anderem in den Essays vom 15.1.2019, vom 18.5.2019 oder vom 23.4.2020 dokumentiert. Bevor er ins de facto überflüssige, aber atemberaubend gut entlohnte Amt gehoben wurde, war ja bekannt, wie es mit der moralischen Konstitution dieses Herren bestellt ist (Stichworte: »Kurnaz« und »Eikonal«, et cetera; siehe netzpolitik.de, 14.11.2016: »Steinmeier: Politik ohne Skrupel«).
Dass sich eine Figur wie Steinmeier auf diesem und nicht auf einem anderen Ende der Skala gesellschaftlicher Würdigung wiederfindet, auch das ist kein Lob der Werte eben dieser Gesellschaft und ihres ordnenden Systems.
Was würde diese beiden so gleichen und doch so unterschiedlichen Bürger unterscheiden? Das Innere. Das, was man »Haltung« nannte, bevor »Haltung« ein orwellsch-gegenteiliges Synonym fürs altbekannte, schmierige Mitläufertum wurde. Gänzlich zynisch wird es aber, wenn etwa die gelb-bunte Zäpfchenpartei wahrheitswidrig salbadert, Steinmeier sei eine »herausragende Persönlichkeit und hat sich in polarisierenden Zeiten um den Zusammenhalt in unserem Land verdient gemacht« (@c_lindner, 22.12.2021).
Ja, wer gegen die Demokratie argumentieren wollte, bräuchte bald einfach nur die Namen ihres Personals aufzusagen. Jedoch, neben dem SPD-Konzern und der FDP-Spaßtruppe finden wir nun auch die sogenannten »Grünen« in der Regierung – und dadurch auch mit ganz neuem Selbstbewusstsein im Parlament.
Erdoğan saß einst noch im Gefängnis dafür, dass er ein altes Gedicht zitierte, wonach die Demokratie nur ein Zug sei, auf den man aufspringe, bis man am Ziel sei (und die Moscheen seien seine »Kasernen«, siehe Essay vom 25.9.2018).
Die Grünen bekennen heute ganz offen im (vermutlich vom Springer-Konzern brav entlohnten) Gastbeitrag: »Wo wir Grünen an die Schalthebel der Macht kommen, werden wir nicht mehr verhandeln« (welt.de, 18.11.2017).
Was die Grünen damit konkret meinen könnten, dass sie »nicht mehr verhandeln« wollen, machte dieser Tage die Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt (28 Jahre alt; Lebenslauf: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal) unzweideutig deutlich: »Die Taktik von den Querdenker:innen ist es, sich Stück für Stück die Straße zu erkämpfen. Die Polizei muss handeln und im Zweifelsfall Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzen. Wir dürfen ihnen kein Millimeter überlassen!« (zitiert nach welt.de, 23.12.2021 und andere, inzwischen von Autorin gelöscht)
Man seufzt und fragt sich: Wenn die Grünen nur als eine Bande grünlackierter Faschisten wären, ein Haufen totalitärer Primitivlinge mit pseudo-moralischem Anstrich, wie anders würde ihre Sprache klingen?
Es ist Weihnachten 2021. Als ich 2020 vorhersagte, es werde kein »neues Normal« mehr geben, die Politik werde schon noch Wege finden, so oder so, den Ausnahmezustand zum neuen Normal zu erklären, gaben mir selbst nahe Freunde noch Kontra. Inzwischen stimmt man mir zu – wenn auch noch immer nicht alle – dass es klüger sei, sich auch seinen geistigen »Innenhof« derart einzurichten, dass man noch einige Jahre durchhält, denn das »alte Normal« ist für immer fort.
Ich kenne niemanden, um den herum in diesen Jahren nicht einiges zerbrochen ist. Ein jeder Bürger dieses Planeten, definitiv inklusive mir, erlebt in diesen Monaten und Jahren, dass alte Strukturen und Gewissheiten wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen. Was gestern noch selbstverständlich sicher war, ist heute selbstverständlich fort. Menschen, auf die wir bauten, verfallen in die seelische Zerrüttung der Corona-Zeit, werden sich selbst zum Feind, fallen als Stütze fort.
Und selbst die wenigen, die so glücklich (oder: gut genug vorbereitet) waren, dass sie und ihre Umgebung stabil blieben, müssen mit ansehen, wie das demokratische Mäntelchen, zerfressen von den Motten vulgärer Gier und ungebildeter Maßlosigkeit, vom Wind konzertierter Panik als Fetzen fortgeweht wird.
Diese Zeiten sind »roh«: Die Grundzutaten menschlicher Abgründe liegen offen. »Im Krieg offenbart sich der wahre Charakter«, so betitelte ich meinen Essay vom 17.3.2020. Diese Zeiten fühlen sich wie ein Vielfronten-Krieg an. Ein Frontverlauf zieht sich zwischen den Gehorsamen und den Ungehorsamen, und das seit Jahren schon (siehe Essays vom 8.3.2018 und vom 9.8.2021). Und die Front zwischen »denen da oben«, und »denen, die einfach nur leben wollen«, diese Front wird kaum mehr geleugnet.
Ob demokratisch oder anders legitimiert, der erste Zweck politischer Institutionen ist es, menschliche Rohheit zu begrenzen, einen Mantel des Anstands um das Rohe und Tierische der zur Gesellschaft verklumpten Menschheit zu legen.
Dies sind rohe Weihnachten, und ich meine damit weniger mögliche Rohkost beim Weihnachtsfrühstück, seien es Mandarinen oder Nüsse. Dies sind rohe Weihnachten, weil –weltweit! – im Großen wie auch im Kleinen das Rohe des Menschseins offengelegt wird – und es ist nicht immer ein hübscher Anblick.
Wer schon immer latent ein Egoist war, der wird in der Krise doppelt zum Egoisten. Wer schon früher gierig war, der wird in der Krise unersättlich. Wer Skrupel und Gewissen ohnehin seit jeher nur vorspielte, der darf sich heute ganz offen gewissenlos zeigen. Wer machthungrig war, ohne irgendeine persönliche oder moralische Qualifikation zu eben dieser Macht mitzubringen, den spült dieser Tage die von der Panik noch angeheizte Verdummung plötzlich in hohe und gutbezahlte Ämter, und da zeigt er uns, wie es in der Geschichte immer wieder »dazu kommen kann«.
Zwei Bürger in diesen Tagen, sie könnten in die merkwürdige Lage geraten, in den wesentlichen Dingen durchgehend ähnlich zu sein – vom Beruf über den Bildungsstand bis hin zu Familie, Gesundheit, Wohnsituation und Vermögen – und sich doch in der seelischen Verfassung grundlegend zu unterscheiden. – Was macht den Unterschied?
Den Unterschied zwischen dem Unglücklichen und dem Glücklichen müssen heute nicht die externen Verhältnisse ausmachen! Der Unterschied ist heute oft genug die persönliche Deutung.
Ich kenne Menschen, die zu viert in einer kleinen Zweizimmerwohnung leben, die sich Tag für Tag durchkämpfen, von einer Frührente und einem Hilfskraftgehalt, und die doch in sich zu ruhen scheinen. Und ich kenne Menschen, die wohlversorgt auf mehreren Etagen leben, immer wenn sie wollen ein teures Getränk in der Hand, und die doch zutiefst unglücklich sind. Der Unterschied zwischen ihnen ist, wie sie ihr eigenes Leben deuten.
Jammere ich, weil Berlin ein Drecksladen ist und die Eliten sich wieder als genauso widerlich erweisen, wie wir es immer vermuteten? Oder bin ich dankbar für die kleinen, schönen Augenblicke, für die guten Momente in meinem Leben?
Nehme ich die Unsicherheit dieser Zeiten hin, und bin dankbar für die Dinge, die ich bislang erleben durfte – oder steigere ich mich in Wut und suche Schuldige an meinem Unwohlsein?
Es ist ein rohes Fest, und weltweit liegt roh und nackt und blutig offen, was lange Zeit versteckt in den Abgründen menschlicher Seelen lauerte.
Ich wünsche Ihnen wie mir, dass wir diese kurze Pause zwischen den Jahren nutzen, für uns selbst einen guten Weg zu finden, einen eigenen »Innenhof der Seele«, eine Ordnung der inneren Kreise, eine Deutung unserer Existenz, welche uns hilft, im Sturm und Chaos etwas Ruhe zu finden.
Es sind rohe Weihnachten, mögen es doch auch frohe Weihnachten werden!