Dushan-Wegner

21.07.2021

Jedes Jahr überraschend

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Red Zeppelin
Westliche Soldaten ziehen sich aus Afghanistan zurück, die Taliban breiten sich dafür aus – und Flüchtlinge brechen nach Deutschland auf. Werden Sie in diesem Land eine neue Heimat finden – oder werden sie in Deutschland ihre alte Heimat kopieren?
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»Weihnachten kommt jedes Jahr überraschend«, so lehrt uns eine moderne, sarkastisch gemeinte Volksweisheit. Und es ist ja wahr! Ich schreibe diesen Text im Juli 2021, und in fünf Monaten werden wir doch »überrascht« sein.

Ich habe diese Redensart zum ersten Mal im Kontext von TV-Redaktionen gehört. Dort aber klingt in diesem Spruch ein recht offen zynischer Zungenschlag mit.

»Weihnachten kommt jedes Jahr überraschend« – als Ratschlag (und damit Anweisung) eines Chefredakteurs bedeutet es: »Das Gedächtnis des Zuschauers ist kurz. Seine Lebensplanung praktisch null. Er reagiert auf Anweisungen von Chef, Behörden und TV. Kramt also die Themen vom letzten Jahr heraus und dreht sie neu – oder strahlt gleich das alte Zeug neu aus – die werden das lieben!«

Es ist zynisch, aber es funktioniert. Wir Gerndenkenden fragen uns in dieser Sekunde gewiss, wie und warum es funktioniert. Wo wir aber ohnehin vom komplizierten »Wie« und vom rätselhaften »Warum« reden, lassen Sie uns die Nachricht des Tages streifen!

Gelegentliche Prinzipien

Damals, als der spätere Aufsichtsratschef von Gazprom (250.000 Euro Jahresgehalt allein dafür laut welt.de, 30.3.2006) noch Bundeskanzler der Deutschen war, damals als mit »9/11« eine »Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt« ausgesprochen wurde (ebendieser, zitiert nach welt.de, 13.9.2021), damals als die Deutschen laut Verteidigungsminister Struck »alle Amerikaner« waren, damals zwang eben dieser Herr mit den natürlich schwarzen Haaren via Vertrauensfrage auch seine eigene Partei dazu, ihm abzusegnen, dass auch deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert werden durften (die SPD hatte damals noch gelegentliche Anflüge von Prinzipien, die wohl niedergerungen werden mussten; die CDU-Opposition hätte ohnehin zugestimmt, doch Schröder bestand auf einer eigenen Mehrheit).

Wir hatten schier vergessen, dass weiterhin deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert waren – die Jahre waren ja hektisch genug – jetzt aber wurden die deutschen Einheiten nach zwei Jahrzehnten und wenig Erfolg wieder abgezogen.

(Notiz dazu: Wie man es von der unanständigen und wenig patriotisch wirkenden Merkelbande kaum anders erwartet, wurde die Rückkehr der deutschen Soldaten aus Afghanistan von Regierung und Verteidigungsministerium ignoriert; siehe welt.de. – Notiz zur Notiz: Bei welt.de, 1.7.2021 kommentiert Alan Posener: »Unsere Afghanistan-Soldaten hätten einen würdigen Empfang verdient«, und er zitiert T.S. Eliot: »Nicht mit einem Knall, sondern einem Wimmern«. Es scheint dieser Jahre in der Luft zu liegen, jenes starke Wortbild herbeizurufen. Ich selbst habe den Essay vom 17.6.2019 mit Bezug auf T.S. Eliot »Nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer« betitelt. Der bekannte Satz ist das Finale des Gedichts »Die hohlen Männer«, wie man dort erfährt…)

Nun ziehen also die deutschen Truppen aus jenem Land ab, das auserkoren worden war, für 9/11 zu büßen, aber vielleicht zieht eigentlich der NATO-Partner USA ab und wir eben auch (vergleiche bbc.com, 5.7.2021).

Die Soldaten ziehen ab – und die Taliban erobern das Land (ich notierte es kurz im Essay vom 13.7.2021). Menschen fliehen bereits vor den Taliban – und ein guter Teil von ihnen nennt Deutschland als Ziel (welt.de, 19.7.2021).

Kaltes Vakuum

Ja, es wird sie (hoffentlich) geben, die Afghanis, die Deutsch lernen, einen Ausbildungsplatz oder einen Beruf finden (sobald sie das dürfen), und die an diesem auch dran bleiben. Diese Fälle werden dann von braven Journalisten zum Pars pro Toto erklärt, zum Beispielfall, der auf das gesamte Phänomen hochzurechnen sei.

In nicht wenigen Fällen aber wird es knirschen. Gebiete und Bereiche, die sich schon jetzt »parallel« entwickeln, werden ausgeweitet werden. Und wenn es dann knirscht, wird man aus allen Wolken fallen und irgendwas von »unseren Werten« und »es darf kein Weiter-so geben« deklamieren – und von wenigen Werten belastet weiter so machen.

Im Mai 2018 war Deutschland verärgert über die Fußballspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan. Diese beiden Herren spielten damals zwar für »die Mannschaft«, die nicht mehr deutsche Nationalmannschaft heißen darf (auf »Vorschlag« der Dame im Kanzleramt), die es aber dann doch sein soll. Man war entrüstet, dass die beiden Herren dem Türkeichef Recep Tayyip Erdoğan ihre Aufwartung gemacht hatten, wobei einer der beiden dem Herrn Erdoğan sogar ein T-Shirt überreicht hatte, auf dem geschrieben stand: »Für meinen Präsidenten, hochachtungsvoll«.

Spätestens aber wenn man ausgerechnet Erdoğan zu »seinem« Präsidenten erklärt, macht man recht deutlich, welche Kultur und, ja, welche Nation man mit der sprichwörtlichen Muttermilch aufsog.

Und doch, bei all dem: Im Essay vom 17.5.2018 verteidigte ich sie, und ich fragte: »Wie soll man sich integrieren in ein Land, das nicht Heimat sein darf?«

Was erwarten denn »die Deutschen« von den beiden? Wie soll denn ein Land zur Heimat werden, in welchem »Heimat« als schmutziges Wort gilt? Wie wird man mit dem Herzen zum Teil eines kalten, linken Vakuums? (Ich kenne die Leseliste dieser Herren nicht, doch wie soll man im Herzen ein Deutscher werden, wenn man nur dieses Deutschland kennt, das Deutschland von Merkel und Propaganda und linker Seelenödnis? Da ist noch so viel mehr, so viel Tiefes, doch das muss ausgegraben und erarbeitet werden!)

Beide aber, Özil und Gündoğan, sind in Deutschland geboren, beide in Gelsenkirchen – und doch scheinen sie beide mit »ihrem« Land zu fremdeln – sagen wir es offen: nicht aber mit dem deutschen (oder britischen) Geld.

Damit aber wären wir beim eigentlichen Problem der Afghanistan-Flüchtlinge. Nicht die Tatsache, dass Menschen aus Afghanistan nach Deutschland kommen wollen, ist das eigentliche Problem. Auch die Tatsache, dass ein Teil von ihnen nicht nach deutschem Standard für einen Beruf qualifiziert sein wird, ist das größte Problem (wenn es auch die Sache nicht einfacher macht).

Das erste und große Problem bei der Einwanderung von Flüchtlingen, die vor Taliban fliehen, bleibt ja, dass sie in ihrem Kopf gewisse Denkmuster mitbringen könnten, die als Denkmuster eines Kollektivs in ihrer eigentlichen Heimat erst so etwas wie die Taliban stark machen konnten.

Diese Menschen kommen in ein Land, das sich nicht traut, ihnen deutlich zu sagen: »In diesem wird so-und-so gedacht.«, oder, wie ich es im Intro des Essays vom 1.10.2018 formulierte: »In meinem Haus gelten meine Regeln. Indem du meine Schwelle übertrittst, akzeptierst du meine Regeln – und wenn dir das nicht gefällt, dann übertritt meine Schwelle bitte gleich nochmal!«

Klickt nicht

Weihnachten kommt jedes Jahr überraschend, so die Redensart. Genauso »überraschend« wird es sein, wenn viele tausend weiterer Menschen aus Afghanistan nach Deutschland kommen, hier zwar Geld und Unterkunft, aber keine Heimat finden (können), und wenn sie sich dann in ihre eigenen »relevanten Strukturen« zurückziehen.

Ich habe heute Essays aus den Jahren 2018 und 2019 zitiert. Keine der damals skizzierten Schräglagen ist geradegerückt; durch die Corona-Panik konnten sie sogar zuletzt ganz ignoriert werden.

Klick-Medien, wie einst die Zeitungen, verkaufen Neuigkeiten. Es »klickt nicht«, dem Zuschauer zu sagen, dass die Schieflagen von gestern vorerst schräg bleiben. Man stelle sich die BILD-Schlagzeile vor: »Problem von gestern weiterhin aktuell!«

Das Gedächtnis

»Wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften. Aufeinandergestützt, Stroh im Schädel«, so beginnt jenes Gedicht von T.S. Eliot (von mir 2019 zitiert).

Wir aber, die wir im Jahr 2021 seufzend zurückblicken, dann aber in einer Mischung von Nervosität und Aufbruchstimmung-gegen-alle-Ratio nach vorn blicken, wir haben gelernt: Die hohlen Männer mit dem Stroh im Schädel, sie lernen nicht. Für die kommt nicht nur Weihnachten jedes Jahr überraschend.

Ach, ich hoffe und wünsche mir ja, dass »die da oben« wirklich hohl sind – sonst wären sie ja zynisch und böse. Wenn »die da oben« nicht hohl sind, dann sagen sie uns sinngemäß: »Das Gedächtnis der Bürger ist kurz. Eure Lebensplanung ist praktisch null. Ihr reagiert auf die Anweisungen der Propaganda. Wenn etwas wieder schiefgeht, kramen wir die Floskeln vom letzten Mal heraus und twittern sie neu! Wir tun recht betroffen, und ihr werdet unsere Betroffenheit lieben!« – Aber nein, so zynisch wäre doch gewiss kein Mensch, es sind ja die besten und feinsten, die sich auf den Marsch durch die Parteiränge begeben.

Ein paar Monate

»Was tun?«, sprach Schillers Zeus (und weiter: »Die Welt ist weggegeben«).

»Was tun?«, fragen wir, und jemand antwortet: »Lernt! Lernt immerzu!«

Was aber sollen wir lernen?

Wir könnten ja lernen, uns einzugestehen, dass die Dinge sind, wie sie sind.

»Die da oben« lernen nicht dazu. Diese hohlen Männer machen weiter, stur wie altersblinde Pflugochsen. Also gilt es zu lernen, unser Leben derart zu arrangieren, dass wir zumindest nicht überrascht werden.

Gesteht euch ein, dass der Fall ist, was der Fall ist. Und bereitet euch rechtzeitig vor! Wenn dein Land dir nicht Heimat sein will, sei du dir und deinen Lieben eine Heimat. Vielleicht ist es an der Zeit, dass dein Land von dir lernt.

Weiterschreiben, Wegner!

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