Der Meister und drei Schüler saßen gemeinsam auf der Terrasse und blickten in den Garten. Der Abend nahte und sie wärmten sich am warmen Tee. Es war eine unruhige Zeit. Es war eine Zeit, in der nicht jeder wusste, wer unter den Mächtigen wirklich mächtig ist, nicht einmal die Mächtigen selbst. Es war eine Zeit der Fallen und Schlingen, der lauten Lügen und der geflüsterten Wahrheiten.
Die niedrigen Äste eines Baumes teilten sich, und ein Reh betrat den Garten. Das Reh erblickte die Terrasse samt den Teetrinkern. Das Reh beschloss, dass diese Leute keine Gefahr darstellten, und es fraß eine Blume.
»Was für ein Tier wärt ihr«, fragte der Meister, »wenn ihr nicht Menschen wäret?«
»Ein Löwe«, sagte ein Schüler schnell, »sind nicht die Großen stets wie Löwen? Mutig und ehrwürdig, gefährlich doch gerecht.«
»Ein Kranich«, sagte der zweite Schüler, »von gutem Ansehen und langlebig.«
»Ein Drachen, natürlich«, sagte der dritte Schüler, »ich brächte den Menschen gutes Glück, dabei den ganzen Tag lang stolz durch den Himmel fliegend.«
»Ich würde ja wählen«, sagte der Meister, »ein Hase zu sein.«
Die Schüler wunderten sich. Warum ein Hase?
»Ein Löwe ist erhaben, kein Zweifel«, sagte der Meister, »doch wie viele Männer gibt es, derer ganzer Stolz es ist, einen Löwen erlegt zu haben? Ich habe zu viele Löwenfelle in zu vielen Häusern gesehen, um ein Löwe sein zu wollen.
Ein Kranich steht für die Langlebigkeit, das ist wahr, doch wer so einen langen Hals hat wie ein Kranich, muss der nicht immerzu fürchten, dass man ihm in diesen Hals beißen wird?
Ein Drache kann den Menschen gutes Glück bringen, das ist wahr wenn auch nicht jeder Drache von angenehmem Gemüt ist, doch wie viel Glück kann einer selbst haben, dessen Existenz davon abhängt, dass die Menschen an ihn glauben?
Es sind alles edle Tiere, kein Zweifel, und man verehrt sie aus gutem Grund, hier und in anderen Teilen der Welt. Ich aber wäre gern ein Hase.
Auch der Hase wird gejagt, wie der Löwe, doch anders als der Löwe ist der Hase das Gejagtwerden seit jeher gewohnt, und so kommt es für ihn nicht jedes Mal überraschend. Selten überrascht zu sein und doch schnell aufzuspringen, wenn Gefahr droht, das erscheint mir klug.
Der Hase mag nicht langlebig wie der Kranich sein, das ist wahr, doch er zeugt besonders viele Hasenkinder, und in diesen lebt der Hase länger als der langlebigste Kranich. Ob man nun selbst Kinder hat, oder ob man in Werken oder Worten weiterlebt, unsere Familien, Werke und Worte, wenn es kluge Familien, Werke und Worte sind, die leben länger als der langlebigste Kranich.
Dass ein Drache zuerst und zuletzt in den Erzählungen und Bildern lebt, das bereitet mir wenig Schwierigkeiten, das ist ja mit mir nicht anders. Was mir durchaus Sorge bereitet, ist die Eigenschaft von Drachen, mal böse zu sein und Unglück zu bringen, und nicht immer kann man sagen, ob sie böse oder gut sind, ob sie Glück oder Verderben bringen. Hat man aber je gehört, dass ein Hase großes Verderben brachte?«
Der dritte Schüler, also jener, der den Drachen gewählt hatte, war ein etwas vorwitziger und doch kluger Kerl, und er fragte: »Meister, was ist der eigentliche Grund, warum ihr den Hasen wählt?«
Der Meister lächelte. »Wenn die Sonne scheint und niemand ihm nachstellt, dann weiß der Hase auf dem Hügel zu liegen und sich am Leben zu erfreuen. Wenn man dem Hasen aber nachstellt, wenn der Fuchs ihn jagt, wenn die Fallen schnappen und die Schlingen sich schließen, dann weiß der Hase, Haken zu schlagen, Fallen zu meiden und aus den Schlingen heraus zu springen, bevor die sich zuziehen.
Die Sonne genießen, wenn sie scheint, und rechtzeitig aus den Schlingen springen, das ist es, was ich vom Hasen lernen will.«
Das Reh blickte ein zweites Mal auf die Männer. Es verbeugte sich, wie höflich erzogene Rehe es zu tun pflegen. Das Reh fraß eine weitere Blume und spazierte dann weiter.
Der zweite Schüler, der ein Kranich hatte sein wollen, goss ihnen Tee nach. Der erste Schüler, der ein Löwe hatte sein wollen, dachte an die Löwen, die als Löwenfell geendet waren.
Wie Hamlet
»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«, so weit kennt man das Zitat, doch wie geht es weiter, von Hamlet, von Shakespeare?
In der Schlegel-Übersetzung (siehe Wikipedia) heißt es:
Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen –
(Hamlet, Shakespeare, Sie wissen schon…)
Hamlet ist zerrissen zwischen seiner Weigerung, nach- und aufzugeben – und seiner müden Sehnsucht, doch eben dies zu tun. (Überhaupt ist er gut geschrieben, dieser Hamlet, und man würde diesem Shakespeare ein größeres Publikum wünschen – heute.)
Wenn es schon Hamlet zerriss, warum sollte es uns besser ergehen? Auch wir hören die Nachrichten, in diesen Zeiten der Schlingen und Fallen, und manche Nachricht hört und fühlt sich auch wie ein Pfeil an, wie ein Stein, geschleudert und losgeflogen, bereits auf der Flugbahn in Richtung unserer weichen Schläfe, unserer etwas zu harten und viel zu zerbrechlichen Stirn – und manchmal ist es Goliath, der tausend Steine schleudert, und tausend kleine Davids, die getroffen zu Boden gehen, und das ist dann keine biblische Geschichte, das ist dann Statistik.
Einen Menschen, der die Unwahrheit sagt, kann man noch nicht gleich einen Lügner nennen, nicht im ersten Augenblick – es könnte ja sein, dass er sich nicht dessen bewusst war, dass er die Unwahrheit sagte. Wie ist es aber, wenn er darauf hingewiesen wurde?
Das Wort »Hass« ist heute ein Lügenwort, wenn und indem impliziert wird, dass es verboten sein könnte, das negative Gefühl Hass auch nur zu äußern. Wir kennen Propaganda-Lügen wie »Hass ist keine Meinung«, und wir sollten sie doch »Lügen« nennen dürfen, denn die, die solches äußern, wurden oft genug darauf hingewiesen, dass Hass komplett legitim sein kann – oder nicht?
Trotz der wiederholten Hinweise durch Juristen und freie Medien, dass die Äußerung von »Hass«, also stark negativer Gefühle, sehr wohl zunächst einmal prinzipiell von Meinungsfreiheit gedeckt ist, verwenden deutsche Behörden, Ministerien und regierungsfreundliche Medien die Propaganda-Vokabel »Hass« in ihrer heutigen schillernden Doppelbedeutung. Einerseits bedeutet »Hass« zuerst einmal schlicht »heftige Abneigung«, andererseits haben Behörden und in Meinungsbildung tätige NGOs (um nicht »Propaganda« zu sagen) sich eine zweite Bedeutung zurechtgelegt, nämlich angeblich jene Äußerungen, die ohnehin verboten sind, und auf Nachfrage erst erklärt man, dass sie nicht die landläufige Bedeutung meinen, sondern ihre neu erfundene Spezialbedeutung.
Man stelle sich vor, jemand würde »Ausländer« sagen und er würde tun, als seien Ausländer alle kriminell, und auf Nachfrage würde er erklären, er meine mit »Ausländern« nur die kriminellen unter diesen. Er würde Ärger bekommen – von genau denen, die dasselbe mit heftiger Abneigung tun. Durch Sprachtricks und Umdefinition von Begriffen wird dem Bürger suggeriert, er dürfe keine heftige Abneigung äußern.
Wir führen die Debatte um das Lügen- und Propagandawort »Hass« schon etwas länger (siehe etwa »Deine Meinung ist Hass, und Hass ist keine Meinung«, 21.3.2018), und diejenigen, die gegen angeblichen »Hass« zu Felde ziehen, und auffällig oft damit auf »abweichende Meinung« referieren, sind gelegentlich diejenigen, die selbst das Original am herzlosesten pflegen (siehe etwa »Ich hasse euren Hass – und euren Gegen-Hass!«, 16.3.2018).
Sagen wir es mal so, und bleiben wir höflich dabei: Die vieltausendfache Kritik ist bei denen, die solche Propagandawörter benutzen, nicht erkennbar angekommen. Ein weniger höflicher Zyniker würde ganz verschwörerisch theoretisieren, dass es in Kauf genommen wird (um nicht gleich »üble Absicht!!« zu rufen).
Das deutsche Bundeskriminalamt teilte letztens etwas Bedrohliches mit, was man in diesem Duktus und dieser Unschärfe sonst eher von einer gewissen Ex-Stasi-Stiftung erwarten würde:
Aktiv gegen #Hasspostings! – Wie Sie einen Beitrag zur Bekämpfung von Hass & Hetze im Netz leisten können, sehen Sie hier: [eingebetteter Film] (@bka, 29.11.2019)
In den Antworten auf diesen Tweet wurde das BKA darauf hingewiesen, dass die Verwendung von »Hass« problematisch ist. Sie antworteten recht lässig und wiederholt, dass damit »Straftatbestände wie z.B. Volksverhetzung § 130 StGB« gemeint seien (siehe @bka, 5.12.2019).
Wir sprachen von Schlingen und Fallen. Es werden heute, ob versehentlich oder gewollt, gewissermaßen psychologische Schlingen und Fallen ausgelegt, und der Bürger, der nicht Ärger bekommen will, sagt lieber gar nichts mehr. Wir erleben Aufrufe von Behörden, die manchen Bürger mit passiver Diktatur-Erfahrung an »Denunziation« denken lassen, und es ist fast schon gewöhnlich.
Den Bürgern laut und über viele Kanäle zu drohen, dass »X« illegal sein kann, und auf Nachfrage dann versichern, dass man mit »X« nicht das meint, was Menschen sonst mit »X« meinen, sondern Y – es erschließt sich mir nicht unmittelbar, wie sich das mit den Werten der Demokratie vereinbaren lässt.
Es fällt schwer, zu glauben, dass die psychologischen Schlingen und Fallen alle nur »aus Versehen« gelegt werden, dass man es also doch in Wahrheit ganz demokratisch und überhaupt nicht totalitär meint (wie gesagt: es fällt schwer, doch ich gebe mein Bestes, es zu glauben).
Wir lesen aktuell: »Meldepflicht für IP-Adressen – Facebook und andere Netzwerke müssen Hass-Postings künftig dem BKA melden« (focus.de, 6.12.2019).
Wieder wird die Propaganda-Vokabel »Hass« benutzt. Das »Sozialkredit-System« in China (siehe Wikipedia) soll die Bürger erziehen, sich im Sinne der chinesischen Regierung zu äußern – welchen Zweck erfüllt denn die permanente Vermischung eines eigentlich legalen, aber störenden weil negativen Gefühls – und tatsächlich strafbaren Äußerungen, als eben denselben Zweck wie in China, nämlich den Bürger zu erziehen, sich nur noch so zu äußern, wie es der Regierung passt?
Noch ist Hass nicht illegal, auch wenn es von Behörden, Ministerien, Politikern, linientreuen Journalisten und gewissen regierungsnahen NGOs wahrheitswidrig impliziert wird, wieder und wieder und wieder.
Auch ich empfinde manchmal Hass. Ich hasse es, wenn Linke sich am Ausstellen der (angeblichen) Asche toter Juden ergötzen (dw.com, 2.12.2019). Ich hasse es, wenn Hamas zur Konferenz im linken Berlin kommt (bild.de, 6.12.2019). Ich hasse es, wenn eine Person, die vor allem für ihre etwas, äh, »holprige« Doktorarbeit und die von ihrem Ministerium vergebenen Beraterverträge bekannt ist, nicht nur das Amt als EU-Chefin antritt (auch da gewiss gut beraten, von vielen Seiten), für das sie gar nicht auf dem Wahlzettel stand, sondern gleich erst mal eine Einkommenserhöhung auf mehr als 33 Tausend Euro erhält – monatlich (bild.de, 4.12.2019).
Ja, ich hasse es, wenn Politiker den Eindruck vermitteln, sie seien vor allem da, um sich selbst zu bedienen, die ihren zu versorgen, unsere Zukunft zu verscherbeln und uns für unsere Kritik an ihrem Tun zu bestrafen. Ich hasse es, wenn Behörden sich die Sprache von Propagandisten zu eigen machen. Ich hasse dieses Gefühl, dass die Demokratie zu ihrer eigenen Parodie zu werden droht. Muss man mich jetzt melden, mit IP, weil ich es hasse, wenn freiheitliche Werte zur hohlen Hülle werden?
Wie ein Wiesel
Können wir uns gegen »eine See von Plagen« bewaffnen, wie Hamlet es andenkt? – »… take arms against a sea of troubles, and by opposing, end them«? Es ist nicht mein Denken, nicht mein Ansinnen.
Hamlet ist tot, Shakespeare ist tot, und ich werde auch langsam müde. Wir alle werden es dereinst denen gleich tun. Was von uns bleibt, sind die Gedanken und Worte, so wir welche hatten, und unsere Kindeskinder, so wir welche haben und diese uns nicht leugnen.
Mancher der Löwe sein will, gleicht in Wahrheit mehr dem Wiesel, und ein Wiesel, das sich ein Löwenfell anzieht und laut brüllt, bleibt doch ein Wiesel. Ich will es nicht mit den Großen aufnehmen, selbst wenn ich wüsste, wie ich das anstellen sollte, wäre mir meine Lebenszeit zu schade, meine Mühe zu teuer.
Die Schlingen ziehen sich zu, die psychologischen ganz deutlich, hoffentlich nicht bald auch andere.
Wie ein Hase
Ich maße mir nicht an, ein Löwe sein zu wollen – wenn ich auch beide Kinder nach Löwen benannt habe, die sollen Löwen sein, und wie! – und ein Drache sein zu wollen, das erschiene mir dann doch etwas arg breitbeinig. Gegen die mythische Langlebigkeit eines Drachens hätte ich wenig einzuwenden, doch dies ist im direkten Sinne zuerst in der Hand höherer Mächte, und im übertragenen Sinne, also als Weiterleben durch Kunst und Kinder, fürchte ich, wohl auch.
»Wann hat man je gehört, dass ein Hase großes Verderben brachte?«, so fragt der Meister in der Geschichte – er kennt wohl »Der Fuchs will Frieden« nicht, aber prinzipiell stimmt es natürlich.
Ich habe meine Werte und ich freue mich an den Freuden des Lebens, manche nicht denen des Hasens unähnlich, doch Macht ausüben zu wollen, zu brüllen wie ein Löwe oder Feuer zu speien wie ein Drache, das könnte mir kaum fremder sein.
Ich will gern wie ein Hase sein – ängstlich wie einer bin ich ja längst. Ich will die Sonne genießen, wenn sie scheint, und ich will aus der Schlinge hüpfen, bevor sie sich zuzieht. Ich will niemanden fressen außer dem Löwenzahn, und wenn man mich jagt, will ich rechtzeitig einen Haken schlagen.
Und ansonsten…
Ich behaupte wahrlich nicht, dass mein Denken »richtig« sein und anderes Denken »falsch«. Es ist, was ich anzubieten habe – aber auch das, was ich heute für am bekömmlichsten halte.
Seid wie die Hasen: Genießt die Sonne, wenn sie scheint – und entkommt den Schlingen, bevor sie sich zuziehen. Fresst vom Löwenzahn, so viel wie euch gut tut – und achtet stets darauf, nicht selbst gefressen zu werden.
Etwas Sonne für die Seele, etwas Löwenzahn für sich und den Nachwuchs, und ansonsten den Schlingen entkommen – was sollte bitteschön wichtiger sein?!