19.04.2023

Würzmoral für die Welt

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Wie schmeckt die Suppe?
Die Außenministerin belehrt die Chinesen über Moral – eine Show fürs deutsche Publikum. Doch die deutsche Moral wirkt zunehmend wie billige Würze, die man darüberstreut, wenn das Essen sonst nicht schmecken würde.
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Frau Baerbock, die deutsche Außenministerin, ist in Asien unterwegs. Und sie packt die »Moralkeule« aus, gegen China (so berliner-zeitung.de, 16.4.2023). China halte sich nicht an vereinbarte Regeln (tagesschau.de, 17.4.2023) und wolle eigene Regeln schaffen (faz.net, 15.4.2023) und so weiter.

Beim Besuch in Peking brüskierte Baerbock den Gastgeber offen und predigte, man müsse über Menschenrechtsverletzungen reden (berliner-zeitung.de, 18.4.2023).

Während Europas Politiker die Welt über Menschenrechte belehren, sitzt Julian Assange weiterhin in Haft (stern.de, 17.6.2022), weil er westliche Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit brachte. Die EU plant derweil – explizit mit Unterstützung der lupenreinen Demokraten in Berlin – die Totalüberwachung von Chats in der EU (netzpolitik.org, 17.4.2023). Und die Verantwortlichen der Coronapanik stehen nicht vor Gericht, sondern machen weiter Politkarriere, während die Impfopfer mühsam Entschädigungen einklagen müssen (bild.de, 17.4.2023).

China erklärt mit einem genervten Schulterzucken: »Wir brauchen keine Lehrmeister aus dem Westen.« (berliner-zeitung.de, 14.4.2023)

Die üblichen Verdächtigen

Jedoch hat die »Moralkeule« der Frau Baerbock gegen China einen Kontext, und zwar einen europäischen.

China hat bekanntlich seit einiger Zeit ein Auge auf Taiwan geworfen – und die USA haben angekündigt, Taiwan gegebenenfalls zu verteidigen (wenn sie es auch nicht wirklich durchgerechnet haben, zumindest nicht öffentlich; siehe dazu den Essay vom 15.4.2023).

Frankreichs Emmanuel Macron hat die Idee vorzulegen gewagt, »Europa solle sich im Konflikt um Taiwan nicht unbedingt an die Seite der USA stellen«. »Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer bei diesem Thema Mitläufer sein sollten und uns an den amerikanischen Rhythmus und eine chinesische Überreaktion anpassen sollten.« (Macron, zitiert nach tagesschau.de, 10.4.2023)

Ja, in seinem Interview mit Politico sagte Macron sogar, Europa laufe Gefahr, sich in einer Krise zu verheddern, die nicht »die unsere« ist (politico.eu, 9.4.2023).

So viel Realismus von einem europäischen Politiker, der nicht als »böser Rechter« gilt!

Skandal der Skandale! (Nicht zu verwechseln mit »Herd der Herde« – der ist ein anderer Skandal.)

Die »üblichen Verdächtigen« in Brüssel und in Deutschland sind empört.

Wo es droht, dass Europa einen eigenen Gedanken entwickelt, darf natürlich ein Norbert Röttgen nicht fehlen: »Macron scheint von allen guten Geistern verlassen.« (bild.de, 10.4.2023)

Einem gewissen Bijan Djir-Sarai wurde 2012 der Doktorgrad (bild.de, 5.3.2012) wegen eines Mangels an »wissenschaftlicher Eigenleistung« (uni-koeln.de, 5.3.2012) entzogen, was ihn offenbar zum FDP-Generalsekretär unter Christian Lindner qualifiziert.

Dieser Herr Djir-Sarei diktiert der »Bild«, in einer Wortwahl, die etwas an die Kindersprache der Grünen erinnert: »Macrons Position wäre keine kluge Strategie für Europa. Wir leben in einer gefährlichen Welt. Die USA und Europa sollten daher eng zusammenarbeiten.« (bild.de, 10.4.2023)

Soweit also das politische Geplänkel der zumindest intellektuell machtlosen Mächtigen — und denen, die gern dafür gehalten würden (die einen für machtlos, die anderen für mächtig – und alle für intellektuell, deshalb copy-pasten sie sich ja die Doktorarbeiten und Bücher zusammen).

In die Suppe

Sowohl die Akteure in China als auch die im viel beschworenen »Westen« handeln nach ihrem jeweiligen Verständnis von »Moral« – aber nur der Westen trägt diese als Fanal vor sich her.

Die Moral Chinas allerdings scheint sich treuer an dem Zweck zu orientieren, wozu Moralgefühl dem Menschen überhaupt als Eigenschaft angeboren ist: Wie alle übrigen menschlichen Eigenschaften – von der Lust auf Sex bis zur Lust auf Süßes – dient auch der Drang zur Moral – und die Lust am Ausstoßen der Unmoralischen – dem einen Zweck, das Überleben der eigenen Sippe zu sichern.

Der Westen hat keine eigene Moral, keine maximal relevante Struktur. Die Moral des Westens ähnelt dem Mononatrium-Glutamat, dem Geschmacksverstärker, den wir aus der chinesischen Küche des Westens kennen und auch selbst in die Suppe mischen – bewusst oder unbewusst (siehe »Produktzutaten« auf maggi.de).

Prototypisch wirkt hier die Volkswagen AG, die regelmäßig die ganz große Moralflagge wehen lässt – natürlich in Regenbogenfarben, aber nur dort, wo das kein Problem ist –, wenn sie wieder mal von etwas ablenken zu wollen scheinen; siehe etwa Essays vom 21.3.2019 und vom 6.3.2023.

Wie ein Vielfraß

Das Problemchen an unserer »Würzmoral« ist, dass wir sie manchmal nur des »Geschmacks« wegen fressen – auch wenn wir uns damit schaden.

Wenn man sich eine Figur als Sinnbild für die Grünen ausdenken müsste, käme man wohl auf eine übergewichtige Person, die öffentlich Eiscreme und Hamburger konsumiert und dabei zu meinen scheint, der Zweck der Nahrungsaufnahme sei der kurze Hormonschub durchs Essen – und nicht der Erhalt der Gesundheit. So wie ein Dicker womöglich den Zweck der Ernährung in sein Gegenteil dreht, so drehen die Grünen – und die westliche Politik – zu oft den Zweck der Moral in ihr Gegenteil um: Was uns am Leben erhalten sollte, bedroht unser Überleben.

Nahrung und Moral »schmecken« uns beide eigentlich aus demselben Grund: damit sie uns am Leben erhalten. Industrielle Nahrungsproduktion und von Propaganda verfremdete Moral aber richten sich beide gegen ihre Konsumenten, die Nahrung und Moral nur noch zur »Lust« an ebendiesen konsumieren – und damit den eigentlichen Zweck von Nahrung und Moral, nämlich das eigene Überleben, aktiv sabotieren.

Es eskaliert

In einem lesenswerten Kommentar (rnd.de, 5.4.2023) verhandelt Can Merey den schon aus dem Kalten Krieg bekannten Begriff »Wettbewerb der Systeme« und er stellt fest, dass dieser Streit »eskaliert«.

Der »Wettbewerb der Systeme« mag richtig sein, doch ich denke nicht, dass wirklich politische Systeme im Wettbewerb stehen.

Beispiel: Wenn Sie Ihrem Lieblingsberuf nachgehen, Ihre Familie ernähren und am Abend mit Freunden eine gute Zeit verbringen können und wenn es wahrscheinlich erscheint, dass dies auch in ein, zwei Generationen noch möglich sein wird, interessiert Sie dann wirklich, ob Sie dies in einer Monarchie, einer Demokratie oder in einem Einparteienstaat tun?

Der eigentliche Wettbewerb ist ein Wettbewerb der Werte – der relevanten Strukturen. Am Ende wird das System überleben, dessen Werte sauberer sortiert sind – mit dem Überleben als höchstem der Werte.

Reduktion via Fußball

China sagt: »Unser Überleben ist unsere relevanteste Struktur, und das gewährleisten wir am besten durch Machtausbau, etwa durch gute Beziehungen zu Russland, durch intensive Forschung bei Künstlicher Intelligenz (siehe bereits Essay vom 2.4.2019), durch Zugriff auf seltene Erden u. a. in Afrika und durch Zugriff auf die Halbleiterproduktion in Taiwan.«

Die rationaleren Kräfte in den USA sagen Ähnliches wie China, aber dazu noch: »… und außerdem wollen wir Europa dafür einspannen.«

Deutschland aber sagt: »Überleben des deutschen Volkes ist voll nazi, ey! Unsere relevantesten Strukturen sind die Rettung des Weltklimas und die Versorgung der jungen Männer Nordafrikas. Und außerdem soll China gefälligst seine Innenpolitik so betreiben, dass der deutsche Grünenwähler sich dabei wohlfühlt. Chips? Ja klar, aber bitte nur aus Biokartoffeln. Also die Erdknollen, bitte keine Chips aus den Kartoffeln, ›die schon länger da sind‹ – noch. Höchstens aus Insekten.«

Als ganz frei ausgedachte Metapher: Wenn in einem Turnier zwei Fußballmannschaften gegeneinander spielen, und der einen Mannschaft ist das Gewinnen die relevanteste Struktur, der anderen aber sind Moral-Armbinden die relevanteste Struktur, welche wird im Turnier eher überleben, auf welche der beiden Mannschaften werden Sie wetten?

(Räusper.)

Übertreibe ich?

Vermutlich.

Und doch lässt sich die Essenz der Debatte um China, Taiwan, Russland, Europa und Deutschland auf zwei simple Lebensregeln reduzieren.

Erstens natürlich: Zeige mir deine relevanten Strukturen, und ich sage dir, ob du überleben wirst.

Und daraus abgeleitet zweitens: Wenn zu überleben nicht deine relevanteste Struktur ist, wirst du es womöglich nicht.

Oder, positiv: Wenn du überleben willst, ist es hilfreich, überleben zu wollen.

Die deutsche Außenministerin belehrt die Chinesen über Moral. Natürlich ist es eine Show für ihr deutsches Publikum. Vor allem führt Baerbock damit vor, wie ungeordnet und beliebig unsere Moral ist.

Für die einzelnen Deutschen aber bleibt der Auftrag: Sei nicht wie das Deutschland, das von Frau Baerbock im Ausland dargestellt wird!

Sei dir, anders als manchmal Deutschland, deiner relevanten Strukturen bewusst. Und was du auch tust, stelle zuerst sicher, dass du überlebst!

Weiterschreiben, Dushan!

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