Die Menschen im Westen – oder was vom Westen noch übrigen ist – sind in vier Kasten geteilt. Diese vier Kasten sind: Die Blinden, die Gebildeten, die Propheten und die Herrscher.
Zu welcher der vier Kasten zählst du? Lasst mich erklären, und dann sortiere dich selbst ein – so realistisch, wie die Denkweisen einer Kaste es dir erlauben.
Voraussetzung
Um die Einteilung der Kasten zu verstehen, muss man zunächst eine bestimmte Metapher kennen, ein Sprachbild von Linien und ihrem Verlauf.
Stell dir vor: Unter deinen Füßen, auf dem Fußboden der Menschheitsgeschichte, verlaufen Linien. Wir alle bewegen uns auf diesen Linien. Öfter als es uns bewusst ist, bewegen wir uns entlang dieser Linien.
Die vier Kasten sie unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zu den Linien auf dem Fußboden der Geschichte. Aus dem Verhältnis zu den Linien aber folgen dann ganz natürlich viele und große weitreichende Unterschiede.
Die Blinden
Da wäre zuerst die Kaste der Blinden, eine der zwei großen Kasten.
Die »Blinden« sind jene, welche die Linien auf dem Fußboden der Geschichte nicht sehen. Blinde haben nie von Linien gehört. Oder sie wollten Linien nicht wahrhaben, aus verschiedenen Gründen.
Für den Blinden geschieht, was geschieht, wenn es geschieht, und was auf ihn zukommt, wird ihm erst unmittelbar vor dessen Eintreffen bewusst.
Der Blinde ist zu beneiden! Solange er Speis und Trank vor sich hat und ihm von irgendwoher eine Musik spielt, ist der Blinde glücklich.
Wer die Linien auf dem Boden nicht sieht, der sieht auch nicht, wenn sie sich kreuzen. Wo sich die Linien kreuzen, da droht Gefahr. Seine Blindheit aber erlaubt dem Blinden, wie die Asiaten zu sein: »im Moment zu leben«.
(Vergleiche hier auch mein Pamphlet »Dazwischenwesen«, wo ich unter anderem verhandle, inwiefern der Blinde, der den Abgrund nicht sieht, darum zu beneiden ist.)
Die Gebildeten
Anders als die Blinden wissen die Menschen in der Kaste der Gebildeten, dass sie auf Linien stehen. Bildung bedeutet landläufig, die Linien sehen zu lernen, die für die Ausübung einer bestimmten Rolle notwendig sind – und wenig andere Linien.
Die Gebildeten sehen die Linien, auf denen sie unmittelbar stehen, also den Ausschnitt des Fußbodens direkt um sie herum.
Der Gebildete aber ist nicht glücklich. Der Gebildete wäre lieber wie der Blinde, der isst und trinkt und sich um wenig sonst sorgt. Doch der Gebildete weiß nun einmal um die Linien.
Er ahnt, dass sie etwas bedeuten könnten.
Es war Teil seiner Bildung, dass man ihm einen sehr kräftigen Schlag in den Nacken gab. Diese Schlag war so hart, dass der Nacken des Gebildeten fürs Leben versteifte. Der Gebildete vermag nicht, den Blick zu heben, um so den weiteren Lauf der Linien zu verfolgen.
Die Propheten
Der Prophet ist ein Mensch, bei dem der Schlag in den Nacken ausblieb – oder zumindest folgenlos blieb. Der Prophet sieht die Linien vor seinen Füßen und vermag auch, den Blick zu heben, bis zum Horizont.
Ein Prophet sagt die Zukunft voraus, indem er beschreibt, wohin die Linien – und damit die Geschichte – verlaufen.
(Nebenbei wäre zu sagen, dass Prophet zu sein wahrlich keine charakterliche Auszeichnung ist. Im Gegenteil: Von so manchem Propheten ist dokumentiert, dass er privat ein ziemlich anstrengender Typ war, man könnte auch »scheußlich« sagen. Wer die Linien sieht und nicht an der für Gebildete typischen gebeugten Nackenstarre leidet, der meint, Blindheit und Nackenstarre seien freiwillige Eigenschaften. Deshalb hat der Prophet wenig Geduld mit Blinden und Gebildeten, ob deren Blindheit und Nackenstarre selbst zugefügt oder selbstverschuldet ist.)
Die Herrscher
Die Herrscher schließlich ähneln den Gebildeten darin, dass sie sich der Linien unmittelbar unter ihren Füßen bewusst sind.
Die Herrscher ähneln auch den Propheten. Wie die Propheten üben die Herrscher sich darin, den Blick zu heben und zu studieren, wie und wohin die großen Linien weiter verlaufen.
Der Herrscher lebt an dem Ort, den der Prophet den »Horizont« nennt. Den Horizont des Herrschers sieht nicht einmal der Prophet, sonst wäre er ja selbst ein Herrscher.
Der Blinde sieht die Linien nicht. Der Gebildete sieht die Linien, aber nur, soweit sie unmittelbar unter und nah um ihn herum sind. Der Prophet verfolgt die Linien mit den Augen, weist auf den Horizont, ruft »Wehe, wehe!« – bleibt aber doch bei den Blinden und Gebildeten.
Wie ein Herrscher sich an seinem Ort wiederfindet, kann unterschiedlich sein. Vielleicht wurde er von anderen Herrschern hingesetzt. Vielleicht wurde er dort geboren.
Vielleicht wurde der Herrscher ein solcher, weil er zuvor besonders klug war. Ein Gebildeter etwa, der seine Nackenstarre überwand. Oder ein Prophet, der Mut und Kraft fand, zu handeln. Die meisten Herrscher aber hatten viele Arten von Hilfe. Man lehrte sie von den Linien. Man massierte ihnen von klein auf die Nackenstarre weg. Und statt sich zum Horizont vorzukämpfen, begannen sie ihre Reise bereits dort.
Bei all ihrer Weitsicht aber ähneln die Herrscher auf gewisse Weise auch den Blinden. Darin nämlich, dass sie sich schlicht an ihrem Ort erfreuen und auch mal alle Linien vergessen.
Immer nur an die großen Linien zu denken, das ist beschwerlich! Die Unterhaltung und Lockerung der Herrscher also besteht darin, die großen Linien vorübergehend zu vergessen – für einige Moment selbst ein Blinder zu sein. (Zu diesem Zweck treffen sich die Herrscher auf Veranstaltungen wie »Cremation of Care« im Bohemian Grove, also frei übersetzt zur »Einäscherung der Sorge«.)
Du wirst bleiben
Täusche dich nicht: Nur weil du die Kasten siehst, kannst du noch lange nicht von der einen in die andere wechseln. Nach aller Wahrscheinlichkeit wirst du in der Kaste verbleiben, in welche du hineingeboren wurdest.
Das Kind von Blinden wird ein Blinder bleiben.
Das Kind der Gebildeten wird gebildet werden.
Ein Prophetenkind wird am ehesten versuchen, seiner Kaste zu entkommen, und doch könnte es ihm misslingen.
Und ein Herrscherkind wird wieder als Herrscher eingesetzt und das Kind wird sein Leben lang viel Kraft dafür aufwenden, nicht aus seiner Kaste zu fallen.
Erkläre es uns!
Wen es drängt, die Kaste zu wechseln, der benötigt wahrlich keine Aufforderung dazu. So etwas kann der Mensch aber auch nicht beschließen. Selbst ein großer entsprechender Wille wäre hier unnütz. Ach, wie sehr würde sich mancher Prophet wünschen, Blinder oder Gebildeter zu sein – vergebens.
Welches Interesse sollte die Welt daran haben, dir zum Wechsel deiner Kaste zu verhelfen? Es hat ja einen guten Grund, warum die alten Griechen nicht »wechsle deine Kaste!« sagten, sondern: »Erkenne dich selbst!«
Erkenne dich selbst, das bedeutet: Sei wirklich ehrlich zu dir selbst, prüfe dich selbst und werde dir so deiner Kaste bewusst.
(Vielleicht drängt es dich aber trotz aller Mahnungen dazu, die Kaste zu wechseln. Sollte dir das tatsächlich gelingen, dann schau doch bitte mal bei uns hier vorbei und erkläre uns, wie du vorgegangen bist.)