Dushan-Wegner

13.11.2019

Razzien, Deiche und der Bau der Chinesischen Mauer

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Daiga Ellaby
Männer, die eine Frau vergewaltigen. IS-Anhänger, die Ungläubige töten wollen. Sozialisten. – Was diese Leute gemeinsam haben: Für die sind Menschen nur Mittel zum Zweck. Hütet euch vor denen, für die Menschen nur Material sind!!
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Die Chinesische Mauer ist an ihrer nördlichsten Stelle beendet worden. Stimmt es? Ich weiß nicht, ob es stimmt. Es ist der erste Satz aus Kafkas als Fragment hinterlassener Erzählung »Beim Bau der Chinesischen Mauer«.

Eigentlich war Kafka kein Freund des unvollkommenen, unvollendeten Textes. Manches verbrannte er selbst, bei anderem bat er Freunde darum, und da war die Zerstörung nicht ganz so vollständig. Man könnte nun streiten, ob es Unrecht ist, wenn die rechtlichen und sonstigen Nachkommen dem Wunsch eines Textarbeiters nicht folgen, und das Unfertige und – nach Ansicht des Autors – Unvollkommene, eben für fertig und vollkommen erklären, und es doch veröffentlichen.

Nun, größer als die Gewissensbisse, zu lesen, was nicht veröffentlicht werden sollte, erscheint mir die Demütigung darüber, dass unsereins selbst dem, was Kafka aufgegeben hat, nicht den Milchnapf halten kann – ach nein, die Milch war Samsas Lieblingsgetränk, verzeihen Sie! – jetzt ist es also da, das Fragment »Beim Bau der Chinesischen Mauer«, und es ist mir fast egal, wie und warum es da ist, denn es ist von Kafka, und es ist wunderbar und schwer und rätselhaft – aber das sagte ich ja schon.

Beim »Beim Bau der Chinesischen Mauer« geht es, der Name ist ein untrüglicher Hinweis, um den Bau einer Mauer. (Dass es vordergründig und an der Oberfläche darum geht, darunter und dahinter wohl um anderes, muss man das bei diesem Autor dazusagen? Wohl nicht. Den Text können Sie zum Beispiel bei textlog.de nachlesen. Als Sprungbrett in den weiten Teich möglicher Deutungen ist auch hier die Wikipedia verfügbar.)

Die »Chinesische Mauer« des Textes ist natürlich um ein fiktives China gedacht. Manche sagen, Kafka sei von der »Hungermauer« um Prag inspiriert worden, andere sagen, man könnte im Text die Juden lesen wo Chinesen geschrieben stehen, dann würde es mehr Sinn ergeben.

Nun, über Kafkas Kollegen, was Zeitalter, Volk und Geburtsland angeht, Sigmund Freud, ließe sich (im Englischen) der Witz machen: »It´s always one thing or the mother. Mostly the mother. Sometimes your father.« – Nun, für alle große Literatur gilt, und zwar als definierende und wesentliche Eigenschaft, dass die Eigenschaften der Charaktere akzidentell und austauschbar sind. Du bist Romeo, du bist Julia, du bist Raskolnikow und, ja, du bist beide Iwanownas. Der Augenblick liest Zeitung, die Zeiten lesen Romane, und beide wollen doch nur sich selbst sehen. Für alle große Literatur gilt, sonst ist sie nicht groß, was John Donne berühmterweise in seiner Siebten Meditation schrieb: »never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee« – in etwa: »frage nicht, für wen die Glocke schlägt; sie schlägt für dich«.

Wir haben nun also festgestellt, dass Kafkas Bau der Chinesischen Mauer von uns spricht – sonst würden wir ja nicht über ihn reden. Der Text spricht vom Aufgehen des Individuums in einer großen kollektiven Aufgabe ( »Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.« ). Wir sind die »Chinesen« – alle übrigen Deutungen bleiben hiervon unberührt – und wir stellen fest, dass es (mindestens) zwei Stellen im Text gibt, die heute geradezu skandalös sind (manche sagen: sein sollten).

Die eine Stelle ist ein schlichter Satz: »Die Mauer war doch, wie allgemein verbreitet wird und bekannt ist, zum Schutze gegen die Nordvölker gedacht.« – Ein Skandal! Auch nur der Gedanke, eine Mauer zu bauen, um sein Volk zu schützen! Und der Text hinterfragte nicht einmal den Gedanken einer Schutzmauer selbst! Im Gegenteil: Da man, wie Kafkas Zeitgenossen, die Chinesen des Textes gedanklich durch Juden ersetzen darf, ist der Gedanke, dass ein Volk sich selbst schützt, ein Skandal (bis heute, man vergleiche etwa die im deutschen Staatsfunk übertragene öffentliche Anti-Israel-Hetze am diesjährigen Jahrestag der Pogromnacht, siehe bild.de, 13.11.2019 – kein »Einzelfall«, siehe etwa bild.de, 8.7.2016). Eine Mauer zu bauen, um sich zu schützen, um nicht für die Ideologien derer, die selbst hinter Marmormauern sitzen und feixen, zu sterben, das gilt heute als Skandal, gewiss – aber gut, der Schutz ist nicht das einzige Thema des Textes, es ist mehr eine stille Selbstverständlichkeit. Genauer und weiter: Der Text verhandelt gar nicht die Frage, ob Land und Volk geschützt werden sollen vor »Nordvölkern«, es ist schlichte Prämisse, dass es getan wird. Der Text debattiert und skizziert eigentlich die ethischen und praktischen Schwierigkeiten beim Versuch, die Menschen einer Nation in ein einziges Großes aufgehen zu lassen, sei es nun der Bau einer Mauer, um sich vor anderen Völkern zu schützen, oder das Gegenteil, die Einladung an alle Völker der Welt, zu kommen und versorgt zu werden.

Gegen Ende des Textes lesen wir: »… besonders bei dem Mauerbau gab das Menschenmaterial dem Fühlenden Gelegenheit, durch die Seelen fast aller Provinzen zu reisen …« – Das skandalöse Stichwort ist: Menschenmaterial.

 Darf man von Menschen als »Material« reden? Nun, es wird hier getan. Marx, Engels und Hitler verwendeten es ebenso. Es gilt als erstrebenswert und als ein Kompliment, als Mann »husband material« genannt zu werden und als Frau entsprechend »wife material«.

 Darf man Menschen nun mit dem Ausdruck »Material« zusammenfassen und bezeichnen? Es, es kommt drauf an – unter anderem darauf, was man mit »darf man« meint.

Stumpf und stillos

Wir hören heute aus Offenbach von der Festnahme mehrerer Männer, die einen Anschlag auf »Ungläubige« geplant hatten (focus.de, 12.11.2019). Wir lesen von der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung an einer 14-Jährigen (bild.de, 12.11.2019). Wir lesen von Morddrohungen gegen Kinder, wenn und weil der Vater ein Politiker der Opposition ist (bz-berlin.de 10.11.2019). Wir erleben und lesen, täglich und immer wieder, wie Menschen fertiggemacht werden, weil sie sich weigern, ihre Meinung an die vorgegebene Massenmeinung anzupassen. (Kafka warnt ja auch: »Die Folge solcher Meinungen ist nun ein gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben« – ein freies, unbeherrschtes Leben, das macht diesem und jenen große Angst, das gilt es stumpf und stillos auszurotten.)

Diese Fälle haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Der Mensch wird zum Material. Einen Menschen zu vergewaltigen, bedeutet, ihn zum Material zu degradieren. Einem Menschen das Recht auf Leben oder auch nur eine eigene Meinung abzusprechen, wenn sie »falsch« ist (oder wenn die Meinung des Vaters »falsch« ist), bedeutet eben auch, den Menschen zu Material zu degradieren, der entweder die zu stützende Ideologie mitstützt – oder aber »nutzlos« ist.  

In linkem Denken (und totalitärem Denken allgemein) ist der Mensch zuerst Material. Es hat seinen Grund, dass auffällig viele Regime, die jeweils Millionen Menschen töteten, sich auf den Sozialismus beriefen. Sie reden von Haltung und meinen Unterwerfung. Der Vergewaltiger und der Sozialist haben gemeinsam, dass sie in ihren Opfern wenig mehr als Material sehen, mit dem sie ihre Bedürfnisse stillen. Der Vergewaltiger stillt seine animalischen Triebe, der Sozialist stillt seinen ideologischen Trieb – und es soll in der Geschichte vorgekommen sein, dass Soldaten im Auftrag des ideologischen Triebs auch den animalischen Trieb auslebten.

Auf der Severinsbrücke

»Alte Dinge, längst gehört, längst verschmerzt«, schreibt Kafka. Nun, zwei von den drei Aussagen mögen stimmen. Es sind alte Dinge, wir haben sie längst gehört. Die Nachrichten von heute? Wir hörten sie letzte Woche schon, und die Woche davor.

Venedig kämpft aktuell mit einem »Rekord-Hochwasser« (tagesschau.de, 13.11.2019). Ich kann mich noch an das Hochwasser 2002 erinnern, das Schröder die Kanzlerschaft gerettet haben soll (welt.de, 14.12.2012). Ich kann mich sogar noch an das Rekord-Hochwasser 1993 in Köln erinnern, als ich auf der Severinsbrücke stand und unten nur noch die Ampeln knapp aus dem Wasser ragen sah (siehe etwa wdr.de, 21.12.2013). Woran ich mich aber nicht erinnern kann (ich schließe nicht aus, dass es passieren kann!), ist die Ungeheuerlichkeit, dass Presse und öffentliche Stimmung die Helfer und Rettungskräfte, welche den Deich reparieren wollen, beschimpfen und ihnen das Leben schwer machen.

Das ist die Situation heute: Die Deiche gegen das Unrecht lassen bedrohlich viel Wasser durch, einigen wird es nass um die Knöchel, die Beamten mühen sich zu retten, was zu retten ist, und verhindern, was zu verhindern ist (heute fand etwa eine Razzia gegen Schleuser statt, siehe focus.de, 13.11.2019), oben auf dem Deich stehen derweil die Moralisten, Journalisten, Aktivisten und sonstigen Isten, und beschimpfen die Retter – wenn sie nicht den Deich sogar selbst aktiv aufreißen.

Es ist beinahe erschreckend, wie treffsicher sich Passagen aus Kafkas Bau der Chinesischen Mauer aufs Heute anwenden lassen: »Wenn man aus solchen Erscheinungen folgern wollte, daß wir im Grunde gar keinen Kaiser haben, wäre man von der Wahrheit nicht weit entfernt. Immer wieder muß ich sagen: Es gibt vielleicht kein kaisertreueres Volk als das unsrige…« – es ist fast, als wären Kafka und sein Werk groß – und diese Größe darf uns ein wenig trösten: Wenn es Kafka gelang, vor einem Jahrhundert präzise Wahrheiten über uns zu schreiben, dann sind diese Wahrheiten wohl tief in der menschlichen Seele und in der Sache menschlichen Zusammenlebens verwurzelt.

Natürlich tragen wir gemeinsam die Verantwortung und einzeln die Folgen unserer kollektiven Taten, doch dass die Ursache so tief eingegraben ist, dass es gar nicht zu erwarten gewesen wäre, dass wir sie aus- und beheben, das ist doch ein Trost.

»Du kannst doch nichts dafür«, sagt die Mutter zum Kind, das sich sein Knie aufschürfte, während sie ihm das Köpfchen streichelt. »Kinder fallen eben manchmal hin«, säuselt die Mutter, und das Kind ahnt, dass die Argumentation wacklig ist, und doch hört es der Mutter süße Lügen gern.

An unseren Beinen rütteln

Kafka schreibt: »Die Ursachen sind mir nicht mehr erinnerlich, sie sind hier auch nicht wichtig, Ursachen für Aufstände ergeben sich dort mit jedem neuen Morgen, es ist ein aufgeregtes Volk.«

Was definiert man als »Aufstand«? Wenn bereits eine Wahlentscheidung einen Aufstand darstellen kann, dann haben wir jüngst, drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, einige neue »Aufstände« im Osten Deutschlands (und die übrigen Parteien des Bundestags organisieren zunehmend dreister eine Art von wenig demokratisch schmeckendem Gegenaufstand), doch dass es ein aufgeregtes Volk ist, zumindest dieser Tage, das wird niemand bestreiten, ob er nun eine Mauer gegen die Nordvölker baut oder »Nordvölker welcome!« ruft.

 Habe ich schon zu viel gesagt? Habe ich aufeinander gelegt, was man, der öffentlichen Ruhe halber lieber nicht vergleichend übereinander legt? Gut, ich will nun schweigen, für heute, und ich schließe mit den letzten Worten eben jener Geschichte: »Hier einen Tadel ausführlich begründen, heißt nicht an unserem Gewissen, sondern, was viel ärger ist, an unseren Beinen rütteln. Und darum will ich in der Untersuchung dieser Frage vorderhand nicht weiter gehen.« 

Weiterschreiben, Wegner!

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