Da erwischte sie mich also – die 2-Tage-Männergrippe.
Es ist nicht notwendig, nach Ursachen zu forschen. Zuvor hatte mein geschätzter Herr Sohn dieselbe Grippe durchgestanden (die Selbigkeit schließe ich aus der Ähnlichkeit der Symptome). Ich hatte ihm väterlich beigestanden – selbstverständlich. Als der Sohn dann am dritten Tag auferstand, legte es des Sohnes Vater nieder.
Es ist die Déformation professionnelle des philosophisch bemühten Essayisten, alles einschließlich seiner gelegentlichen Krankheit zu betrachten. Eine Betrachtung der eigenen Befindlichkeit und inneren Vorgänge muss aber stets auf einer Meta-Ebene stattfinden.
(Wortbetrachtung: »Meta« ist nicht nur der Name des Facebook-Mutterkonzerns, sondern auch und vor allem die griechische Vorsilbe »μετά«. Interessanterweise kann μετά im Altgriechischen eine Vielzahl von relativen Orts-, Zeit- und Funktionsangaben bedeuten, etwa zwischen, neben, nach, betreffs, zusammen mit, mithilfe von, zwecks, gemäß, ja sogar gleichzeitig mit, doch im allgemeinen Sprachgebrauch verstehen wir μετά/meta meist als über – und zwar über im analytisch-abstrakten Sinn.)
Wenn ich einen Apfel betrachte, dann ist die Existenz des Apfels eine eigene Tatsache, und dass ich den Apfel betrachte und als solchen erkenne, diese meine primäre Betrachtung des Apfels, ist eine weitere Tatsache. Erst wenn ich darüber spreche, dass ich einen Apfel gesehen habe, wenn also mein Geist über meinen Geist redet, »erhebe« ich das Reden in die Meta-Ebene, und dieses Reden auf der Meta-Ebene ist eine dritte Tatsache.
Anders ist es, wenn ich einige Zeilen über innere Befindlichkeiten schreibe. Da ist meine Befindlichkeit die erste Tatsache – dass es ist, wie es ist – und zugleich die zweite Tatsache – dass ich unmittelbar wahrnehme, was ist.
Das bedeutet: Einen Menschen zu fragen, wie es ihm geht, ist stets eine Aufforderung zur Philosophie, zur Betrachtung der eigenen Befindlichkeiten auf einer analytischen Meta-Ebene.
Ganz natürlich Schmerz vermeiden
Philosophie aber ist strukturiertes Denken. Und Denken tut weh. Und weil »normale« Menschen Schmerz vermeiden wollen, fliehen sich die meisten Menschen auf die Frage hin, wie es ihnen denn geht, in die Lüge oder ins Jammern.
Lügen wie Jammern sind beide ohne tiefere Denkvorgänge zu bewerkstelligen. Der in Armut aufgewachsene Mensch übt das eine von klein auf, der in Wohlstand aufgewachsene das andere.
Ja, eine ehrliche Antwort auf das dahingesagte »Wie geht’s?« würde ganz natürlich auch den Fragenden belasten, zwänge sie ihm doch zu philosophischen Denkschritten auch noch die nicht minder anstrengende Empathie auf. Deshalb werden ja gemeinhin Lüge oder Jammerei als Antwort auf jene Frage erwartet.
Auch nur der Ansatz von strukturierter Betrachtung seelischer Vorgänge als Antwort auf jene Frage gilt als geradezu grob unhöflich, zumindest aber als lästig – oder, wie die Amerikaner sagen würden, als »akward«.
Warum die Menschen allerorts einander diese Aufforderung zur Philosophie unentwegt antragen, doch eine Antwort, die nicht Lüge oder Jammerei ist, geradezu ächten, ist Anlass für ganz eigene Betrachtungen.
Mit der verästelten Beschreibung von Meta-Ebenen verhält es sich wie mit der Fixierung der graphischen Darstellung von Mandelbrot-Mengen als zweidimensionale Bilder: Irgendwann muss man »und hier ist Schluss!« sagen – denn tatsächlich ist nie Schluss, und dass nie Schluss ist, ist wesentlicher Teil des Reizes.
Interessant wäre natürlich, auch bei der Begriffs- und Ideenanalyse auf computergestützte interaktive System zurückzugreifen, um interaktiv und live »verästeln« zu können. Und während ich dies schreibe, ahne ich, dass, was vor Kurzem noch wie unmögliche Science-Fiction schien, mit KI tatsächlich ein Ein-bis-Zwei-Tage-Projekt sein könnte – also eine durchschnittliche Männergrippe lang.
Was angenehm ist
Da lag ich also darnieder mit einer Männergrippe, und meine vorderste Meta-Betrachtung ist nun meine Verwunderung über die Abwesenheit meines … – wie soll ich es nennen? Vielleicht so: – zeitrelevanten Bewusstseins.
Ich erinnere mich an die zwei Tage, doch die Zeitspanne fühlt sich nicht an wie zwei Tage. Meine Erinnerung an die bisherigen Ereignisse des dritten Tages, seit meiner Auferstehung, waren schon nach Minuten um ein Vielfaches detailreicher. (Auch vermag ich wieder feste Nahrung zu mir zu nehmen, was angenehm ist.)
Erste Erkenntnis
Das ist die erste Meta-Erkenntnis, mit »meta« im Sinne von im Nachhinein wie auch losgelöst betrachtet: Durch die Männergrippe wurden de facto zwei Tage aus meinem Leben geschnitten. Diese zwei Tage fehlen.
Ich habe erlebt, wie eine simple Männergrippe meine Wahrnehmung der Welt zerhacken kann – mir fehlen schlicht zwei Tage. Das aber lässt mich am Rest meiner Wahrnehmung zweifeln: Der Geist des Menschen redet dem Geist des Menschen ein, dass einen derart klug denkenden Geist zu besitzen den Menschen hoch über dem Reich der Tiere stehen lässt – und über der unbeseelten Materie erst recht! Doch was ist der Geist wert, wenn er durch eine erlebnisorientierte Erkältung bereits für zwei Tage ausgeschaltet werden kann?
Was ist all unser Denken wert? Und ist uns überhaupt bewusst, welchen sonstigen Einschränkungen wir genau jetzt unterliegen?
Betrachten wir doch die Welt, die vor uns liegende Realität.
Spricht mehr dagegen oder mehr dafür, dass die Menschheit kollektiv an einer erweiterten Männer-und-Frauen-Grippe leidet, die das kollektive Denkvermögen ausschaltet oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit beeinträchtigt?
Meines Wissens habe ich in meiner zweitägigen »Abwesenheit« nicht mehr wirres Zeug geredet als üblich, und ich habe keine für mich potenziell tödlichen Anweisungen an meine Umgebung erteilt. Und, hätte ich solche irren Sachen geredet, dann hätte (hoffentlich) meine Umgebung mein Irresein dem Fieber zugeschrieben und die Ausführung verweigert.
Was aber, wenn die Politik eines gesamten Staates seit nun mindestens einem Jahrzehnt (!) wie im kollektiven Fieberwahn zu handeln scheint? Wer verhindert, dass ein im Staatsfieber delirierender Staat sich selbst zerstört?
Ein paar liebe Leser schreiben, sie hätten ja gemerkt, dass meine Texte ausgeblieben waren, und es würde sie freuen, dass ich mir mal ein Wochenende freinahm, um mich zu erholen. Im Übrigen aber drehte sich die Welt auch ohne meine Texte weiter – und ähnliches gilt auch im Weltpolitischen. Die Welt kümmert dein Fieber nicht, die hat eigene Probleme.
Die zweite Erkenntnis
Die zweite Erkenntnis auf der Meta-Ebene aber ist die erschrockene Feststellung, dass obgleich die Räder der großen Deutschland-Maschine sich weiterdrehen, sie dies doch auf völlig unveränderte Weise tun.
Da wäre einmal die erneute souveräne Goldmedaille im Zurückrudern für Friedrich Merz. Über die schrieb ich heute in einem eigenen Text.
An diesem Wochenende meiner Abwesenheit ereigneten sich jedoch wieder zahlreiche Großaufmärsche des Propagandastaates. Zig- oder sogar Hunderttausende willige Deutsche gingen auf die Straße, um auf den Verlust von Menschenleben durch importierte Gewalt mit einem trotzigen »Weiter so!« zu reagieren.
Die formulierten ihr »Weiter so!« als »Kampf gegen Rechts«, was bedeutet: Lieber opfert man das Leben der Nachbarn und der Kinder, ja sogar das eigene Leben, als von der eigenen Ideologie abzuweichen.
Die marschierenden Willen auf den »Demos gegen Rechts« tanzen symbolisch auf den Gräbern der Opfer ihrer Ideologie. Es ist, und das gehört leider zur Wahrheit dazu, nicht das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass Deutsche so etwas Schändliches tun – und dabei die Beine zum moralischen Spagat verrenken, nur um sich selbst als »die Guten« bewerten zu können.
Ich frage mich, inwiefern deren geistiger Zustand, wenn sie zum »Hurra!« für den Staat und »mehr davon!« für die Todesopfer aufmarschieren, dem meinen während dieser zwei Tage ähnelt. (Später werden sie vorgeben, sie wären nicht dabei gewesen. Und in gewisser Weise werden sie damit die Wahrheit sagen und können doch nicht, wie man so unschön sagt, »sich damit entschuldigen«.)
Über die mutmaßlichen inneren Vorgänge hinter diesem blinden, schafartigen Massenverhalten will ich morgen schreiben. Über meine eigene halbbewusste und doch fehlende Zeit schrieb ich heute, ebenso wie über Herrn Merz’ vorhersehbares Zurückrudern.
Meine Ahnung ist ja, dass in diesen Zeiten über die innere Abwesenheit bei äußerer Anwesenheit – welche ja für die Steuerpflicht wie auch fürs Wahlrecht vollständig ausreichend ist – noch einiges an tieferer, präziserer Erkenntnis droht.