Eine zweitägige Männergrippe hatte mich niedergestreckt (ich schrieb darüber). Als ich wieder auferstand, stellte ich zunächst erschrocken fest, dass mir zwei Tage fehlten, dass sie schlicht aus meinem Leben geschnitten waren – und ich schrieb auch genau darüber.
Dann aber, nachdem ich meinen Blick von der Betrachtung meiner inneren Befindlichkeit hob und mich der äußeren Befindlichkeit zuwandte, stellte sich ein zweiter Schrecken ein: Es ist geradezu furchteinflößend, mit zwei Tagen unfreiwilligem Abstand festzustellen: In Deutschland ist es kein Widerspruch, dass große Dinge geschehen und doch nichts passiert – zumindest nichts, das etwas verändern würde.
»Völlig gleichgültig«
Mein letzter Essay vorm Abstieg ins Krankenbett trug den Titel: »Brandmauertote, die Opfer einer Ideologie«. Der Text hatte zum Gegenstand, dass die Ankündigung des Friedrich »BlackRock« Merz zur echten Wende in der Migrationspolitik wenig glaubwürdig sind: Wollte er weitere Morde durch Ausreisepflichtige verhindern, könnte er dies jetzt umsetzen – mit der AfD. Doch seine Brandmauer-Ideologie ist dem Ideologen Merz wichtiger als das Leben der Menschen in Deutschland.
Hart durchgreifen wolle er, sagte Merz, ab dem ersten Tag seiner in »unserer Demokratie« nun fest eingeplanten Kanzlerschaft. Und es sei ihm »völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht«.
Einige hofften, dass Merz damit »die Brandmauer zur AfD eingerissen« habe, dass er endlich die Ideologie abgestreift habe, um das Land und Menschenleben zu schonen.
Doch, ach! Was musste ich sehen, als ich aus zwei Tagen Wahrnehmungslücke erwachte?
Wenn Politik eine olympische Disziplin wäre, dann hätte Friedrich Merz das Dauer-Abo auf die Goldmedaille im Zurückrudern.
Der große Zurückruderer lässt sich nun also von seinem Team zitieren, auf der Plattform des ungeliebten, aber doch notwendigen Elon Musk:
»SPD, Grüne und FDP haben von uns alle Texte bekommen, die wir in der nächsten Woche miteinander beschließen wollen. Die AfD bekommt diese Texte nicht. Wir können uns über das Wochenende miteinander verständigen, wie wir nächste Woche abstimmen. Spätestens nach #Aschaffenburg gibt es keine Taktiererei und keine Spielchen mehr. Jetzt muss entschieden werden.« ™
(@_Friedrich_Merz, 25.1.2025)
Um eine in der gefühlig-linken Szene gebräuchliche Formulierung zu gebrauchen: Hier ist gar viel zu entpacken!
Doch widersprich dem Friedrich nicht – warte einfach, bis er es selbst tut!
Im hier vorliegenden Fall des Zurückruderns hat Goldmedaillen-Zurückzuruderer Merz nicht nur sich selbst übertroffen, er hat sogar Raum und Zeit überwunden: Im hier zitierten Post auf »X« ist Merz zurückgerudert (»Die AfD bekommt diese Texte nicht.«), um erst zwei Sätze später überhaupt zu rudern (»keine Taktiererei und keine Spielchen mehr«).
Für »normale Politiker« gilt bisweilen: »Ein paar Schritte vor, ein paar Schritte zurück«, doch ein Profi-Zurückruderer wie Merz macht schon mal die Schritte zurück zuerst.
Nicht mal ein Gesetz
Die »Texte«, von denen Herr Merz spricht, sind kein Gesetzesentwurf, sondern ein Entschließungsantrag (siehe auch @Dieter_Stein, 25.1.2025). Merz will »keine Taktiererei« und »keine Spielchen mehr« betreiben – offenbar gibt Merz damit zu, dass er bislang genau das trieb, und damit bewusst Menschenleben an der Brandmauer opferte.
Ein Gesetz verändert das Land, ein Entschließungsantrag ist konsequenzloses Geschwätz, oder wie die wahrlich nicht »rechte« Wikipedia formuliert:
Die Entschließung ist rechtlich nicht verbindlich, sie hat lediglich auffordernden Charakter. (Wikipedia zu »Entschließungsantrag«)
Der Enschließungsantrag ist die parlamentarische Umsetzung jener Unart, die man als Symbolpolitik kennt. Wer eigentlich ganz zufrieden damit ist, wie die Dinge laufen, doch gewissen Leidensdruck und Wutdampf aus dem Kessel der öffentlichen Debatte nehmen will, der kann mittels Entschließungsantrag eine »Haltung« dokumentieren und dem schafartigen Teil der Bevölkerung das vorübergehende Gefühl geben, »dass sich darum gekümmert wird«. Doch tatsächlich wird das Gegenteil bewerkstelligt, nämlich der Fort- und Niedergang wie bisher.
Dieser Entschließungsantrag mit dem Titel »Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration« soll zwar wohl nicht der AfD zugehen, doch er kursiert bereits im Internet. Er enthält zunächst tatsächlich brisante Passagen, wie etwa diese: »Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer in Deutschland seit zehn Jahren fehlgeleiteten Asyl- und Einwanderungspolitik.«
Wir schreiben das Jahr 2025, und 2025 minus 10 Jahre ergibt 2015. Distanziert sich Merz hier also von der Merkel-CDU?
Ach, bald gelingt es den wissenschaftlichen Hilfskräften der CDU, den wahren Schuldigen für Deutschlands offene Grenzen und Merkels Welteinladung zu finden: »den russischen Diktator Wladimir Putin«.
Ich weiß nicht, wer genau die Zielgruppe solcher Entschließungsanträge ist, doch für den denkenden Teil der deutschen Bevölkerung ist die Argumentation der CDU beleidigend. Das gesamte Vorgehen des Herrn Merz und der von ihm angestrebten »Neuen Deutschen Einheitspartei« ist ließe sich doch eine Delegitimation des Staates nennen.
»Die Migration« bekämpfen?!
Nach etwa zwei weiteren Absätzen formuliert der Merkel-Nachfolger auch zuverlässig, welchen Gegner er gerade wirklich bekämpft – als ob das nicht offensichtlich wäre:
»Wer die Migration bekämpft«, so Merz, »entzieht auch Populisten ihre politische Arbeitsgrundlage. Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen …« – und so weiter und so fort, bla bla bla.
Mit solch blank dümmlichen Einschüben wird einerseits um den Applaus der wenig demokratischen Unsere-Demokratie-Fraktion geheischt, andererseits wird sichergestellt, dass die AfD selbst diesem symbolpolitischen Schmierzettel nicht zustimmen kann. Und, ja, es ist eine weitere Verhöhnung der Wähler und der parlamentarischen Demokratie, es reduziert das Hohe Haus zum Brauhaus.
Der »Entschließungsantrag« wirkt auf mich, als hätten überforderte CDU-Fraktionsangestellte in blanker Panik (und/oder unter dem »beruhigenden« Einfluss für Brauhäuser typischer Getränke) hektisch Wahlkampfvokabular in die Textverarbeitung gekübelt. Haben die wirklich geschrieben, dass man »die Migration« bekämpfen muss, also jegliche Ein- und Auswanderung?!
(Es sei auch die dümmliche Behauptung notiert, dass eine Partei, die Sorgen und Probleme anzugehen anbietet, diese »nutzt«. Wirft man es dem Arzt vor, Krankheiten zu »nutzen«? Dem Bäcker, den Hunger zu »nutzen« und Angst vor der Abwesenheit von Brot zu »schüren«?)
Merz hält in diesem ohnehin folgenlosen »Entschließungsantrag« fest, dass die einzige Partei, mit welcher sich in Deutschland realistisch ein Ende des unnötigen Sterbens durch importierte Gewalt einleiten ließe, »kein Partner«, sondern »unser politischer Gegner« ist.
»Völlig gleichgültig«, sei ihm, so sagte Merz vor seinem aktuellen großen Zurückrudern, wer den neuen politischen Weg mit ihm mitgehen werde.
Nun, das »völlig gleichgültig« blieb, doch das mit den politischen Weggenossen wurde erwartungsgemäß revidiert. Völlig gleichgültig sind der »Christlich« (haha) »Demokratischen« (hahaha) »Union« (eher: »Einheitspartei«) vor allem auch weiterhin die »Brandmauertoten«, sprich: die Menschen, die unnötig sterben, weil Ideologen wie Friedrich Merz ihre parteitaktischen Spielchen vor Menschenleben setzen.
Ich habe es auskuriert
Ich schreibe diese Zeilen nach zwei Tagen krankheitsbedingtem Riss in meiner Biographie. Das aber ist der Unterschied zwischen mir und deutscher Politik. Ich habe in zwei Tagen das bewusstseinstrübende Fieber auskuriert – die deutsche Politik redet und handelt auch nach einem Jahrzehnt wie im Fieberwahn.
Lange andauerndes hohes Fieber, so habe ich gelesen, kann zu dauerhafter Einschränkung der Denkfähigkeit führen, zum irreparablen Kollaps lebenswichtiger Organe und zur ganz banalen Erschöpfung der körperlichen Ressourcen.
Dass Deutschland seit mindestens einem Jahrzehnt hinsichtlich seiner Migrationspolitik wie in einem fiebrigen Delirium handelt, schreibt de facto ja sogar der Zurückruder-Weltmeister in seinem kindischen »Entschließungsantrag« selbst.
Das bedeutet aber: Alles politische Handeln – und das Erklären von Handlungsabsichten sowieso! – geschehen heute unter der Prämisse, dass die durchs kollektive »Fieber« entstandenen Schäden am gesellschaftlichen Denkvermögen und an den Staatsorganen überhaupt noch reparabel sind.