Ich bin kein Experte für Pakete, die sich selbst entzünden. Und ich bin kein Experte für ATACMS- oder für Storm-Shadow-Raketen.
Ich kann bloß spontan nachlesen, dass das eine »Army Tactical Missile System« bedeutet und von Lockheed Martin hergestellt wird, und dass das andere von MBDA hergestellt wird. Von denen hatte ich bis eben überhaupt noch nicht gehört.
MDBA steht für »Matra BAe Dynamics Aérospatiale«, hat 4,2 Milliarden Euro Umsatz (laut Wikipedia) mit Airbus, BAE Systems und dem italienischen Rüstungskonzern namens Leonardo S.p.A. als Inhaber von Anteilen.
Die selbstentzündlichen Pakete aber, bezüglich derer ich ebenfalls kein Experte bin, die sind eine der als möglich vermuteten Ursachen für den Absturz eines DHL-Frachtflugzeugs über Litauen.
Kurz vor Vilnius
Wir lesen aktuell davon: Ein DHL-Frachtflugzeug startete in Leipzig, überflog Polen und stürzte dann in Litauen ab, kurz vorm Flughafen der Hauptstadt Vilnius (tagesspiegel.de, 25.11.2024).
Aktuell gehen die Behörden offiziell von technischem oder menschlichem Versagen aus – doch man ist »alarmiert«. Denn daneben existiert ja noch die Möglichkeit, dass es eben kein »Versagen« war, sprich: dass jemandes Absicht zum Absturz beitrug.
Es ist dieser Tage politischer Usus, praktisch hinter jedem ungünstigen Ereignis potenziell und damit praktisch sicher »den Russen« als Schuldigen zu vermuten.
In offiziellen Sprachregelungen wird (noch?) betont, dass die Ermittlungen andauern und die Absturzursache ungeklärt ist. In Kommentaren und Experten-Interviews aber schwingt längst die übliche Frage mit: Nicht ob’s der Russe war, sondern wie er’s wieder angestellt hat.
Weiterhin Angst und Schrecken
Bei n-tv.de, 25.11.2024, etwa wird ein österreichischer Oberst gefragt, ob »es sich um russische Sabotage handeln« könnte. Dieser sagt: »Dieser Verdacht ist durchaus schlüssig, weil es in der Vergangenheit einige Fälle gab, wo man nachweisen konnte, dass Pakete, die für die Luftfracht bestimmt waren, sich entzündet haben und man eine Maßnahme der hybriden Kriegsführung Russlands erkennen konnte.«
»Russland könnte so versuchen, weiterhin Angst und Schrecken zu verbreiten«, erklärt der Experte. Man fragt sich, wer hier wirklich »Angst und Schrecken« verbreitet. Und man beachte das sprachliche Detail »weiterhin«.
»Aber solange wir keinerlei klare Beweise haben, durch die sich eine Verbindung mit Russland herstellen lässt, bleibt es reine Spekulation«, so beschwichtigt der Experte weiter – doch welchen Zweck hat es, sich an die Ratio zu wenden, wenn »Angst und Schrecken« erst einmal in Herz und Gedärm gepflanzt sind?
Beidseitig stufenweise
Obiges Experten-Interview (n-tv.de, 25.11.2024) ist (aktuell) mit einem Zitat aus dem Gesagten betitelt: »Russland hat auf allen Ebenen der Kriegsführung eskaliert«.
Ihr ahnt es gewiss: Das Wort, das mir aufstieß und damit auffiel, war »eskaliert«. In den Antworten dieses Interviews finden sich fünf Varianten von »eskalieren«.
Man habe »eskalierende Maßnahmen von russischer Seite gesehen«. »Es eskaliert langsam«, so heißt es, indem eine »Eskalationsleiter Stufe für Stufe« hochgestiegen wird, denn: »Das Ziel ist zu eskalieren, um dann wieder zu deeskalieren.«
Wenn man das Interview weit genug liest, erfährt man, dass wir aktuell »eine stufenweise Eskalation auf beiden Seiten« erleben. Das ist aber nicht der Eindruck, der beim oberflächlichen Lesen entsteht – wieder einmal.
Wer wann wen womit
Die erste Erwähnung von Eskalation folgt einer bemerkenswerten Logik: Zuerst, so heißt es, kam die »Erlaubnis der US-Administration für den Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet«.
Fällt euch auch auf, mit welcher Selbstverständlichkeit die USA die globale »Erlaubnis« für Kriege erteilen?!
Formal mag diese »Erlaubnis« damit begründet werden, dass die USA entsprechende Klauseln zur Bedingung der Lieferung von Waffen machen.
Praktisch ist es jedoch genau das, wonach es aussieht: Die USA tritt nicht nur als Weltpolizei auf, sondern in Abwesenheit auch als Weltrichter, der darüber entscheidet, wer wann wen womit bombardieren darf.
Erlaubter Einsatz vs. Eskalation
Was aber tat der Russe, nachdem die USA den Einsatz von Raketen auf russischem Staatsgebiet »erlaubten«? Uns wird erklärt: »Parallel dazu haben wir eskalierende Maßnahmen von russischer Seite gesehen.«
Merke, westlicher Bürger: Der Amerikaner erteilt »Genehmigungen« zum »Einsatz von Waffen« – der Russe »eskaliert«.
Damit keine Missverständnisse
Ja, später im Verlauf des Interviews modifiziert der Experte die Einseitigkeit. Doch bis dahin hat er dem Medium genug »Material« geliefert, die vermutlich gewünschte Botschaft zu extrahieren.
Der Titel (»Russland hat auf allen Ebenen der Kriegsführung eskaliert«) und das Intro werden üblicherweise beide von der Redaktion verfasst – und sie sind das, was die meisten Leser am ehesten »mitnehmen«.
Das Intro aber lautet: »Es sei gut möglich, dass russische Sabotage hinter dem Absturz eines DHL-Frachtflugzeugs über Litauen steckt, sagt Oberst Markus Reisner. Moskau reagiere jetzt generell mit neuen Eskalationsstufen auf den ukrainischen Einsatz weitreichender Waffen aus dem Westen.« (n-tv.de, 25.11.2024)
Unter Umständen mildernde ebensolche
Die Ukraine darf nun gerechtfertigt nach Russland schießen (die USA haben es ja genehmigt). Aber der Russe ist es, der »eskaliert«.
Als Beispiel für Russlands schlimme »Eskalation«, so der Eindruck des Lesers, dient der Absturz des DHL-Frachtflugzeugs. Man hat zwar noch keine Ahnung, warum es abstürzte, aber irgendwie war es doch bestimmt der Russe.
Denn – das weiß doch eigentlich jeder – der Russe eskaliert. Für den braven Deutschen ist noch nicht einmal das Problem, dass der Russe eskaliert, sondern dass er dafür keine Genehmigung hat.
Eskalieren allein ist schon schlimm genug, doch es gäbe unter Umständen mildernde ebensolche.
Doch irgendwas zu tun, sei es eine Gartenhütte zu bauen, Stühle vorm Café aufzustellen oder den Krieg zu eskalieren, ohne dafür eine Genehmigung zu haben, geht für den braven Deutschen gar nicht.
Das rechtfertigt den Einsatz der NATO – mindestens!