Dushan-Wegner

15.04.2018

Wer Gefahr nicht sieht, bringt sich in Gefahr – und seine Mitmenschen auch

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Mike Wilson
Kinder, die weder klettern noch raufen dürfen, die beschützt und abgepolstert aufwachsen, lernen nicht, was Gefahr ist – und bringen sich (und andere!) später genau dadurch in Gefahr.
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Früh am Morgen kamen die Männer von der Stadt und sägten die unteren Äste des einen Baumes, der noch auf dem Schulhof stand, ab. Die Lehrer wurden verpflichtet, den Kindern das Klettern zu verbieten. Klettern sei zu gefährlich, hieß es. Unter dem Baum hatten sie bereits weiche Gummi-Matten installiert, doch auch auf denen kann man sich einen Knochen brechen, wenn man aus ausreichender Höhe herunterfällt. In ihren Büchern lesen Kinder (noch) die Geschichten von mutigen Kindern. Auf dem Schulhof aber werden die unteren Äste am Baum abgesägt, damit die Kinder nicht hinaufklettern.

Diese Begebenheit hat mir eine Leserin berichtet, die an einer deutschen Schule arbeitet. Es tat ihr um den Baum weh, sicher, doch noch mehr machte sie sich Sorgen um die Kinder. Kann es gut gehen, so fragt sie, wenn Kinder in einer gefahrenfreien Weiche-Watte-Welt aufgezogen werden?

Smiley, Heuli, Neutrali

Satire ist heute ein doppelt schweres Geschäft.

Zum einen hat man die staatsnahe Konkurrenz beim ZDF und gewissen Vereinen, die einfach nur die Opposition und ihre Wähler verhöhnen und es als Satire verkaufen. (Siehe dazu auch: Dürfte Satire einen Menschen töten?) Von diesen Satirikern allzu alter Schule müssen sich Satiriker, welche noch die Widersprüche menschlichen Strebens und Fehlens aufspießen, abgrenzen.

Zum anderen überholt die Realität immer wieder die Satire in ihrer Absurdität.

In November 2015 titelte etwa die Satire-Website Der Postillon: »Bremen ersetzt als erstes Bundesland Schulnoten durch Emojis« – ein netter Scherz, kein Zweifel. Doch, in diesem Fall sind die Satiriker nicht einmal ihrer Zeit voraus.

In der Klassenpflegschaftssitzung meiner eigenen Tochter wurde, ein Jahr vor diesem Witz, darüber abgestimmt, ob es ab der 3. Klasse endlich Noten geben sollte. Die Eltern, entsprechend motiviert und bearbeitet von der Klassenlehrerin, stimmten gegen die Noten.

Noten, so heißt es, könnten ungebührenden Druck auf die Kinder ausüben. Statt einer Bewertung in Zahlen oder Prädikaten, erhalten die Kinder einen »Smiley« für sehr gut oder gut, einen »Neutrali« für ginge besser und einen »Heuli« für nicht so super.

Es wäre nicht Linksgrün-Land, wenn nicht selbst dagegen noch einige Eltern protestiert hätten. Ein Heuli würde ja die Kinder demotivieren! Warum überhaupt noch Bewertung? Kinder sollten doch lernen, wenn sie motiviert sind, und wenn sie nicht motiviert sind, dann hat eben das Schulsystem oder die Lehrerin versagt, nie aber das Kind – oder gar die Eltern!

Vorsichtiges Raufen

Es ist ein offenes Geheimnis, dass deutsche Pädagogik noch immer viele für Jungen typische Verhaltensweisen als auszumerzende Fehler ansieht. Jungen wollen sich tendenziell häufiger messen, auch an Kraft und Geschwindigkeit, Mädchen kooperieren eher und blicken in sich. Jungen, die in eine von 68-er-Pädagogik geprägte Schule kommen, erfahren jeden Tag den ganzen Tag: »Du bist falsch, so wie du bist. Deine angeborenen Bedürfnisse sind falsch, deine Instinkte sind falsch, deine Intuition ist falsch. Werde wie ein Mädchen, sonst wirst du bestraft.« (Vergleiche dazu etwa das Interview mit der Schulleiterin Birgit Steiner in der FAZ, online am 9.11.2015.)

Selbst unter linken Pädagogen fand in den letzten Jahren vereinzelt vorsichtiges Umdenken statt. Spätestens, wenn Jungen mit Hilfe von Ritalin ruhiggestellt werden müssen, um mehr wie Mädchen zu sein, beginnen die weniger stark ideologisierten unter den Lehrkräften, sich zu fragen, ob sie noch zum Wohl der Kinder handeln oder ob sie nicht bereits das Kindeswohl einer weltfremden Ideologie opfern. Es ist ja nicht nur der natürliche Drang der Jungen, der früh-kriminalisiert wird. In vielen deutschen Schulen wird jeder Körperkontakt ungern gesehen, auch zwischen Kindern untereinander und zwischen Lehrer und Schüler sowieso. Für ein kleines Kind aber grenzt es an seelische Misshandlung, nie geknuddelt zu werden, nie einen körperlichen Kontakt zu einem anderen Menschen zu haben – erst recht, wenn Lufthoheit-über-Kinderbetten-Politiker (Formulierung von Olaf Scholz, SPD) darauf zielen, den Eltern die Kinder so früh wie möglich fortzunehmen und sie täglich so lange wie möglich in der ideologisch reinen Schule zu halten – während beide Eltern arbeiten und Steuern produzieren.

Man sieht ja durchaus hier und da die Notwendigkeit, ein wenig Normalität in die Schulen zurück zu bringen. Wenn Sie kein Pädagoge sind, suchen Sie doch einmal den Terminus »Raufen und Ringen« bei Google. Pädagogisch gefestigte Lehrkräfte mögen an dieser Stelle empört sein, doch ich als Außenstehender musste laut lachen über die Bürokratisierung einer Sache, die über Jahrtausende als normal und selbstverständlich galt. (»Wir kämpfen miteinander, nicht gegeneinander.«) Da werden in Kooperation mit der Polizei »wilde Pausen« organisiert – was sind dann alle anderen Pausen? »Brave« Pausen?), Arbeitsgemeinschaften »Ringen und Raufen« aufgestellt und Lehrkräfte können sich zum Thema »Pädagogisches Raufen« fortbilden lassen.

Meine Kinder berichteten mir von der »Stopp-Hand«, was ungefähr dem Safeword bei Sado-Maso-Spielen entspricht. Wenn ein Kind »Stopp, hör auf, ich will das nicht!« sagt, dann hat das andere Kind unverzüglich mit dem Ringen-und-Raufen aufzuhören.

Das führte für sich schon zu niedlichen Variationen (»Stopp, hör auf, ich hau dir eine rein!«), doch als 2015 kam, änderte sich noch einmal etwas. Ich hörte von Schulen, wo die neuen Schüler den Part mit den »Regeln« beim »Ringen und Raufen mit Regeln« partout nicht verstehen konnten – und so mussten diese Schulen zurück zur Null-Körperkontakt-Linie. (Ob und inwieweit es gelingt, das ist eine ganz andere Frage.)

Die echte Welt

Lassen Sie uns ein weiteres Mal googlen! Diesmal: »Wanderer müssen gerettet werden«

Ich zitiere gleich aus der ersten Meldung, die bei mir auftaucht: »Mit Jeans und Turnschuhen bekleidet ist ein Paar am Mittwochnachmittag auf dem Weg Richtung Brocken unterwegs gewesen – und hat sich dank der Führung einer Handy-App verirrt, sie blieben im Tiefschnee stecken.«

Nein, wie auch den Raufen-und-Ringen-Pädagogen mache ich diesen Herrschaften keinen Vorwurf; ich schmunzele sogar fast gar nicht. Zumal: solches Schicksal und Verhalten ist keineswegs einmalig! Rettungskräfte aus vielen Urlaubsregionen klagen seit Jahren über riskantes Verhalten von Urlaubern.

Menschen, denen die unteren Äste am Baum abgesägt wurden, die sich nie wirklich prügelten und in einer Welt mit gepolsterten Möbelecken und Knien aufwuchsen, haben keine Vorstellung mehr von Gefahr. Wer ohne Gefahr aufwuchs, wer sich immer darauf verließ, dass Eltern oder Lehrer sein Leben risikofrei halten, für den bedeutet das Wort »Gefahr« nichts – oder etwas anderes. Er versteht nicht, dass Handlungen schmerzhafte Konsequenzen haben können, für die niemand außer ihm selbst verantwortlich ist. Er wächst auf im Glauben, dass alles, was er tut, immer gut gehen wird. Beim Wettbewerb in der Schule wird ihm immer ein Preis verliehen, selbst wenn er nicht einmal im Ziel ankommt. In Mathe wird er nie (oder viel zu spät) eine Sechs erhalten und sitzen bleiben, schon deshalb, weil es keine Noten gibt. Er meint, beim Wandern in den Bergen weder einen Bergführer noch eine Karte konsultieren zu müssen, nicht einmal die Wettervorhersage – das Konzept »Gefahr« kennt er nicht.

Im T-Shirt ins Wahllokal

Diese Urlauber, die ohne jedes Bewusstsein für Gefahr oder Vorbereitung in die Berge hinauf ziehen oder aufs Meer hinaus schwimmen, sie gefährden ja nicht nur sich selbst! Sie gefährden auch die Menschen, die sich ihnen anvertrauen, etwa ihre eigenen Kinder. Sie bringen auch jene unnötig in Lebensgefahr, deren Job es ist, überforderte Bergsteiger selbst bei Sturm via Hubschrauber aus der Felswand zu holen oder aus der aufgepeitschten Brandung zu fischen.

Mangelndes Gefahrenbewusstsein ist noch an einer ganz andere Stelle ein Problem: im Wahllokal.

Die deutsche Kulturlinke lebt ein merkwürdiges Absurdum: Man hat Angst vor Dingen, deren Gefährlichkeit wenig mehr als hypothetisch und vermutet ist – tatsächlich gefährliche Phänomene aber werden ausgeblendet.

Man hat Angst vor Elektrosmog und Gentechnologie; man hat aber keine Angst vor Terror, importierter Gewalt und tatsächlich anti-demokratischen Ideologien. Man kämpft gegen längst als Fake-Statistik entlarvte Lohndifferenzen – aber verschließt die Augen vor tatsächlicher Frauenunterdrückung. Man pflegt die Angst vor den Dingen, die man sich ausdenkt; wer aber darauf hinweist, dass es auch reale Dinge gibt, die töten können und Angst machen sollten, der wird als »Populist« beschimpft. Sie haben solche Angst vor der Angst, dass sie sich lieber Fake-Ängste ausdenken und ansonsten sterben, als sich den realen Gefahren zu stellen.

In einer Demokratie wird nicht immer nur die Klugheit der Masse gebündelt, sondern manchmal auch die Dummheit. Menschen wählen gern Politiker nicht nur nach Argumenten und Notwendigkeit, sondern (zu) oft nach Lebensgefühl. Wenn das Lebensgefühl beinhaltet, dass es keine Gefahr gibt, werden sie eben auch Politiker wählen, die sie in diesem Irrtum bestätigen – und jene verteufeln, die auf die Gefahr hinweisen.

Der typische linksgrüne CDU-Wähler ist wie ein Wanderer, der sich zur Bergtour aufmacht und jenen, der ihm vorschlägt, eine Jacke gegen mögliche Kälte mitzunehmen, als »Angstmacher« beschimpft. Früher hat die Mama einem die Jacke in die Schule hinterhergebracht; heute wird einen die Bergwacht schon abholen, wenn einem kalt ist.

Klettern lernen

Weil Wähler ohne Gefahrenbewusstsein eine Kanzlerin ohne Plan und Verantwortungsgefühl wählten, wird Europa in diesen Jahren wieder gefährlich(er). Während einige Meinungsmacher vom staatsnahen deutschen Fernsehen die neuen Gefahren zu verharmlosen suchen (etwa der stramm linke »Faktenfinder« der Tagesschau), erleben wir in einigen Medien eine interessante Wandlung vom Paulus zurück zum Saulus. Man findet noch immer die »Populisten« doof (sonst würde man wohl auch ganz schnell von vielen Informationsquellen der Regierung abgeschnitten), aber bestätigt in der Sache manche Kritik jener Leute, mit denen man nicht spielen darf und/oder will.

Die Welt ist weit gefährlicher, als die Opfer der Wattezellen-Pädagogik es wahrhaben wollen. Das angewandte Gutmenschentum holt einen nicht zu vernachlässigenden Teil der weltweiten Gefahr nach Deutschland, schlicht weil es nur über einen völlig verkümmerten Begriff von realer Gefahr verfügt. Wer heute noch immer über »Populisten« und »Rechte« schimpft, der meint oft damit vielleicht nur Realisten, die auf reale Gefahren hinweisen. Deutschland erlebt heute eine Umstellungsphase; es braucht immer mehr geistigen Aufwand, offensichtliche Gefahren zu leugnen – und immer mehr Leute sind nicht mehr bereit, der verordneten Gefahrenblindheit zu folgen. (Die über 135.000 Unterzeichner der »Erklärung 2018« sind 135.000 Gründe, die Hoffnung nicht zu verlieren.) Wer über Gefahr redet und wer sie als Teil der Realität akzeptiert, der kann auch Gegenmaßnahmen entwickeln.

Die sinnvolle Art, mit Gefahr umzugehen, ist nicht, sie zu leugnen, sondern sie zu benennen und abzuwehren. Wer mit verstümmelten Bäumen aufwuchs, muss erst noch lernen, dass man vom Baum auch herunterfallen kann – und dann sollte er seine Klettertechnik verfeinern.

Weiterschreiben, Wegner!

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