Dushan-Wegner

31.01.2021

Gewissen und andere Optionen

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Tomoe Steineck
»Selber schuld, dass ihr arm seid«, sagen die Großen zu den Kleinen, »macht doch auch was an der Börse!« – Doch wenn die Kleinen mitzocken, und dann auch noch erfolgreich sind, dann ist der Spaß schon mal sehr schnell vorbei.
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»Ihr dürft reden, ich bin der Gefangene«, sagt Götzens Jugendfreund Adalbert von Weislingen bei Goethe, worauf der von Berlichingen antwortet: »Wenn Euer Gewissen rein ist, so seid Ihr frei.« (Akt 1, etwa bei zeno.org)

Dass der Mensch mit einem Gewissen ausgestattet ist (ob er’s nun als Last oder Talent empfindet – oder als beides), dass er nicht nur des Nachts einen bestirnten Himmel über sich weiß (ob er ihn durch’s Stadtlicht hindurch nun sieht oder nicht), sondern auch im Hellen wie im Dunklen ein moralisches Gesetz in sich spürt, das erfüllt, ganz wie es der Königsberger richtig sagt, auch mein Gemüt mit »Bewunderung und Ehrfurcht« (siehe dazu auch den Essay vom 28.1.2020, also ein Jahr vor diesem, auch damals zum Ende des Anfangsmonats).

Was mich jedoch, da will ich wie stets auch hier wieder ehrlich sein, mit gewissem Schrecken erfüllt, ist die Unterschiedlichkeit in der Ausprägung und Ausrichtung der verschiedenen Gewissensinstanzen.

Heute reden wir einmal von keiner Pandemie, nicht vom Mangel einer Liefergarantie, ja, überhaupt gar nicht über all diese unlustige Politikparodie, heute sprechen wir von einer Börsenanomalie!

Wettschulden wirklich reicher Leute

Hinweis: Diese Passage wurde nach dem Hinweis eines fachkundigen Leser umgearbeitet. Es geht im beschriebenen Fall nicht um Kaufoptionen, wie ich sie nannte (während ich tatsächlich die Mechanik der Leerverkäufe beschrieb), sondern um die verwandten und sogar noch gefährlicheren Leerverkäufe.

Zunächst, eine einfache Erklärung der Rahmenumstände eines aktuellen Geschehens!

An Börsen kann man nicht nur Aktien kaufen und verkaufen, die man hat oder haben will, man kann auch Aktien verkaufen, die man gar nicht hat, sogenannte »Leerverkäufe«, was de facto aggressive Wetten auf fallende Kurse sind.

Das geht etwa so: Person A verkauft Aktie X an Person Y, sie hat die Aktion in dem Moment aber gar nicht zur Hand, doch sie hofft, diese Aktie später zu einem niedrigeren Preis kaufen zu können, wenn es dran geht, sie liefern zu müssen.

Wenn die Kurse gegen seine Erwartung steigen sollten, wird es für den wettenden Leerverkäufer teuer, denn er muss die Aktie kaufen und liefern, was auch immer die Aktie ihn selbst kostet – und wenn von einer Aktie weniger Einheiten angeboten werden, als in Leerverkäufen versprochen wurden, könnte es die Leerverkäufer teuer zu stehen kommen – sehr, sehr teuer.

Als im Oktober 2015 etwa die Volkswagen-Aktie in die Höhe schnellte, wurde vermutet, dass genau diese Konstellation eine der Ursachen gewesen war (vergleiche welt.de, 9.10.2015).

In den Tagen um die Einsetzung des angeblich »gewählten« Grabschgreises Biden als »Präsident« der USA, ereignete sich dort etwas Ähnliches, doch diesmal waren einige Faktoren auf interessante Weise anders gelagert.

Mindestens ein Hedgefund (das sind diese monstergroßen Super-Fonds, teils mit mehr verwalteten Kapital als mancher kleinere Staat) hatte via Leerverkäufen auf fallende Kurse des Computerspiel-Verkäufers GameStop gewettet.

Die Logik war simpel: GameStop ist ein Betreiber von Ladengeschäften für Computerspiele, der laut Berichten schon seit Jahren etwas kriselt. Die Covid-19-Krise hat gezeigt, dass viele Ladengeschäfte es dauerhaft schwer haben werden, erst recht aber bei einem digitalen Produkt, welches die Käufer inzwischen als ebenso digitalen Download erwarten.

Dann aber erlaubten sich, so weit wir es heute verstehen, die Benutzer des Reddit-Subreddits /r/wallstreetbets/ einen »Scherz«, und kauften GameStop-Aktien, wobei einige der Käufer schon Wochen und Monate zuvor aus ganz »natürlichen« Gründen die Aktien gekauft hatten – während zugleich die Hedgefunds selbst versuchten, die Aktien zur Bedienung ihrer Leerverkäufe aufzutreiben. (Der inzwischen selbst zum Millionär gewordene »Ideengeber« dieser Aktion wurde von Konzernjournalisten gedoxxt und ging dann in die Gegenoffensive, um das Narrativ in eigener Sache nicht vollständig aus der Hand zu geben, siehe reddit.com.)

Je hektischer die Hedgefunds zu kaufen versuchten, umso steiler gingen die Kurse in die Höhe. Für einen frühen »Gegenzocker« soll innerhalb von Wochen eine Wette vom Wert einiger zehntausend US-Dollar auf mehrere Millionen hochgegangen sein. (Die genaue Informationslage ändert sich derzeit fast stündlich, für den aktuellen Stand der Dinge können Sie etwa den englischsprachigen Wikipedia-Eintrag eigens zu diesem Ereignis oder den knapperen deutschen Wikipedia-Eintrag studieren.)

In teuren Hinterzimmern

Normalerweise würden wir sagen: »So ist es halt, wer spielt, der kann verlieren, oder er kann gewinnen, so ist es eben.« – Dies aber ist kein Fall von »normalerweise«.

Jene Kapitalismuskritiker, die sagen, Recht, Verträge und Pflichten seien, wenn es drauf ankommt, selten auf der Seite des »kleinen Mannes«, denn die Großen könnten sich zuverlässig herausmogeln – nun, wie schon 2008 scheint sich hier wieder einmal exakt das zu bestätigen.

Diesmal waren es nicht die »kleinen Leute«, die eine Wette verloren hatten, sondern die Hedgefunds mit den extra guten Beziehungen in teuren Hinterzimmern.

Um weitere Verluste der reichen Eliten zu vermeiden, wurde von einigen großen Handelsplattformen der Kauf dieser Aktie unterbunden – und wie man es in den USA erwartet, wurden auch prompt Sammelklagen gegen die wohl meistgenutzten dieser Handelsplattformen eingereicht (ich nenne den Namen bald, gedulden Sie sich bitte noch etwas, falls Sie ihn noch nicht kennen!), wegen aktiver Verstöße gegen bestehende Regelungen und aktiver, bewusster finanzieller Schädigung ihrer Kunden (siehe etwa cnn.com, 21.1.2021).

Was für ein Name!

Im Internet gehen Gerüchte um (sie finden sich bei schillernden Quellen unklarer Zuverlässigkeit, etwa 9gag.com, 30.1.2021), wonach jene Internet-Handelsplattform, als »Kirsche auf dem Kuchen« quasi, in einigen Fällen ohne Zustimmung oder Veranlassung der Kleinanleger die GameStop-Aktien über Nacht zu vergleichsweise schlechten Kursen verkaufte (um $118) – während die »großen« Anleger augenscheinlich die Chance bekamen, ihre eigenen Aktienpositionen zum drei bis vierfachen Preis zu verkaufen – die Handelsplattform dementiert diese Gerüchte (theverge.com, 28.1.2021).

So oder so – zu den bestätigten Fakten scheint zu gehören, dass es auch Investoren gab, die nicht auf sinkende Kurse wetteten, sondern tatsächlich Aktien besaßen (auch weil GameStop in einem kleineren Index enthalten ist) – und die konnten dann handeln und verkaufen, wie sie wollten – und fuhren laut investors.com, 30.1.2021 charmante 19 Milliarden US-Dollar ein.

Ach ja, der Name jener Internet-Plattform könnte kaum sarkastischer, zynischer und orwellscher gewählt sein. Wie sollte in den heutigen »Fake-Zeiten« eine Firma heißen, die den (relativ) Armen nimmt und den (so richtig) Reichen gibt? Richtig: »Robinhood« (robinhood.com).

Die Sammelklagen werden wahrscheinlich nicht weit kommen – dies ist nicht die Welt der kleinen Leute, und das sage ich nicht »nur so daher«: Selbst wenn man US-Gerichten in dieser Angelegenheit traut, ist Robinhood laut aktuellen Analysen schlicht durch die Nutzervereinbarung geschützt (so reuters.com, 30.1.2021) – Sie wissen schon, das Zeug, dass Sie als regelmäßige Lüge mit »habe ich gelesen und stimme zu« wegklicken, das im Groben, und wohl auch hier, Ihnen alle Rechte nimmt und dem Konzern alle gibt (für eine detaillierte Erklärung der vorliegenden Lage, inklusive einer Erklärung, warum etwa die Kunden von Robinhood die Aktien nie wirklich besitzen, und was das eigentliche Geschäft der Investoren hinter Robinhood ist, siehe zerohedge.com, 30.1.2021).

Konzerne halten selbstredend zusammen. Laut aktuellen Berichten hat Google etwa 100.000 negative Kritiken der Robinhood-App im seinem Playstore gelöscht (so gizmodo.com, 29.1.2021). Es wird gemunkelt, dass der »umstrittene« Investor und New-York-Mets-Besitzer Steven Cohen hinter manchen dieser Entwicklungen steckt (vergleiche etwa barstoolsports.com, 30.1.2021), dessen Hedgefund selbst in dieser Angelegenheit viel Geld nachschoss. In Washington D.C. und New York wird gemunkelt, dass das Weiße Haus seine Finger im Spiel hatte (@fadde, 29.1.2021).

Diese Geschichte entwickelt sich aktuell noch weiter. Der Preis von GameStop steht trotz der Interventionen diverser Wallstreet-Akteure noch immer vergleichsweise sehr hoch (am 30.1.2021 auf $325, hoch von etwa $100 zu Beginn der Woche, längst nicht mehr auf den 17$ von Beginn des Jahres, aber immerhin nicht mehr auf $468 – für den aktuellen Kurs siehe Yahoo Finance). Angeblich soll der Handel wieder »erlaubt« werden – eine »Erlaubnis« wohlgemerkt, die eher wenig mit den Gesetzen zu tun hat, sondern vermutlich weit mehr mit gewissen Groß-Investoren im Hintergrund.

Auf sinkende Fleischpreise

Ich bin (und das ist gut für meine Nerven, aber vielleicht nicht so gut für mein Konto) kein Leerverkauf-Zocker, ich bin Essayist. Und alles, wirklich alles bestätigt mich (leider!!) in der Richtigkeit meiner Vorhersagen bezüglich des 20.1.2021 als symbolischem Datum, zu welchem die »alte Zeit« endgültig vorbei war und die Zeit der Konzerne (und konzernartigen Staaten) begann (siehe dazu natürlich den Essay vom 20.1.2021: »Die Welt, wie wir sie kannten, ist vorbei«).

Ich finde es eher amüsant denn hoffnungsgebend, wenn im US-Polit-Theater hinsichtlich dieser Angelegenheit ausgerechnet Ted Cruz und Alexandria Ocasio-Cortez wie ein Herz und eine Seele klingen (@tedcruz, 28.1.2021).

Ich betrachte die Angelegenheit einmal ganz menschlich, und ich erlaube mir eine Frage, die auf den ersten Blick »naiv« wirken könnte, bis man fragt, warum eigentlich diese Fragen »naiv« zu nennen und von daher uninteressant sei (und die Begründung möge bitte über »ist doch klar« und Schulterzucken nach der Art pubertierender Teenager hinausgehen).

Ich frage mich: Was geht im Gewissen eines Menschen vor, der beschließt, den kleinen Leuten das Geld wegzunehmen – legal, illegal, ganz egal – um es den Superreichen zu geben? Ich weiß es ehrlich nicht.

Es ist ein Fakt dieser Welt, dass bei einigen Leuten dort, wo bei Ihnen und mir das Gewissen arbeitet, etwas ganz anderes vor sich zu gehen scheint.

Bleiben wir also

Ja, die Verwunderung ob der vollständigen Abwesenheit eines für uns erkennbaren Gewissens bei gewissen Spekulanten (aber auch Parteisoldaten oder Staatsfunkern) mag »naiv« wirken – doch dass es so ist, hat auch dann Einfluss auf unser Leben, wenn wir die Feststellung nicht aussprechen wollen sollten.

Meine eigene Lehre aus dieser Geschichte ist denkbar simpel, sie geht zwei Schritte hinauf.

Der erste Schritt ist: Sprechen wir aus, dass es ist, wie es ist – gewisse Menschen empfinden nun einmal sehr andere Strukturen als relevant, als jene, die Sie und ich als relevant empfinden.

Der zweite Schritt ist: Bleiben wir stets schlau und vorsichtig – doch geben wir zugleich das eigene Gewissen nicht auf!

Wenn »der Andere« kein erkennbares Gewissen an den Tag legt, dann gilt es zweifellos extra vorsichtig zu sein – und doch will ich versuchen, im Angesicht der Gewissenlosigkeit nicht selbst gewissenlos zu werden.

Die grellen Lichter der Stadt haben uns bereits den Nachthimmel gestohlen – wir dürfen solchen Leuten nicht auch noch erlauben, unser Gewissen erkalten zu lassen. Dann wäre, so Immanuel Kant, ja bald gar nichts mehr, was unser Gemüt mit »Bewunderung und Ehrfurcht« betrachten kann.

»Wenn Euer Gewissen rein ist, so seid Ihr frei«, so heißt es bei Goethe, und daraus folgt: Wer wirklich frei sein will, der braucht zunächst ein funktionierendes Gewissen.

Weiterschreiben, Wegner!

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