Dushan-Wegner

04.10.2022

Die Hühnerverschwörung

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Parker Hilton
In jeder Familie und jeder Firma finden sich private Interessen, Kungeleien und Vorteilnahmen — Verschwörungsleugner aber glauben, dass ausgerechnet da, wo viel zu profitieren wäre, all das seit heute Morgen magischerweise nicht existiert.
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Nach den Morgenritualen und der Runde mit dem Hund, bei einer Schüssel Haferbrei mit Bananen, las ich, was Aggregatoren mir so an den Nachrichten des Tages vorlegten.

Ich mag Haferbrei durchaus, und ich dachte heute beim Essen meines Breis an die Frühstück-Szene im Film »Matrix« (siehe YouTube). Der Protagonist Neo sitzt mit seiner neuen Mannschaft beim Frühstück zusammen. Sein Sitznachbar »Mouse« philosophiert darüber, dass der Brei, den sie gerade essen, digital simuliert ist, und der »Geschmacke« ihn doch an eine bestimmte Breimarke erinnert.

Ich schmunzelte über diesen Vergleich. Ich war mir ja sicher, dass dieser Haferbrei »echt« ist, denn ich hatte ihn mit meinen eigenen Händen gekocht, und dass meine Hände echt sind, das weiß ich doch (siehe auch »Here is one hand« in der englischen Wikipedia).

Leugner und Zentralisten

Meinen Brei essend, las ich anschließend sorgfältig, was bewährte Freunde mir zur Deutung und weiteren Lektüre empfohlen hatten.

Und ich las natürlich auch Meinungen und Nachrichten auch von (und für!) Menschen, die eher anders ticken als ich, die Wahrheit und Logik eher »fühlen«. Das gehört zum Überblick als professioneller Essayist nun mal dazu.

Eine Zahl von Meldungen, Meinungen und Menschen dieser Tage aber beschäftigt sich mit sogenannten »Verschwörungstheorien«.

Hier aber lassen sich die Menschen in zwei Gruppen teilen!

Die zwei Gruppen

Zum einen wären da die buchstäblichen »Verschwörungsleugner«.

In jeder Freundesgruppe, jeder Familie und jeder Firma finden sich private Interessen, kungelnde Machtzirkel und diskrete Vorteilnahmen — Verschwörungsleugner aber glauben, dass ausgerechnet da, wo wirklich viel zu profitieren wäre, all das seit heute Morgen magischerweise nicht existiert.

Gegenüber den Verschwörungsleugnern lagert jene Gruppe, welche ich die »zentralistischen Verschwörungstheoretiker« nenne.

Wer kein »Verschwörungstheoretiker« ist, ist kein Realist. (Und: Ein Journalist, der kein Verschwörungstheoretiker ist, ist kein Journalist, sondern womöglich Verschwörungspraktiker.)

»Zentralistische Verschwörungstheoretiker« aber nenne ich jene Leute, welche die Zahl der Strippenzieher viel zu gering ansetzen.

Die »zentralistischen Verschwörungstheoretiker« sind meinem Herzen natürlich näher als Verschwörungsleugner, denn immerhin versuchen sie sich einen Reim auf alles zu machen.

Doch wer hinter allem »WEF«, »Soros«, »Putin« oder »Gates« sieht, hat natürlich ein viel zu einfaches Bild.

So einfach sind die Dinge leider nicht. Dass sich zum Beispiel erstaunlich oft »Six Degress of George Soros« spielen lässt (also die Verbindung einer anti-westlichen Propaganda-Maßnahme mit dem Geld des Herrn Soros), bedeutet noch nicht, dass sich alle großen Ereignisse auf diese oder jene zentralen Akteure zurückführen ließen.

Die Hopper

Wenn man nun versucht, weder das eine noch das andere zu sein, weder Verschwörungsleugner noch zentralistischer Verschwörungstheoretiker, dann läuft man in Gefahr, in eine dritte Kategorie zu rutschen, nämlich die Kategorie der »Verschwörung-Hopper«.

Einen »Verschwörung-Hopper« nenne ich einen Menschen, der alle paar Tage die Anzeichen einer neuen großen Verschwörung sieht. (Oder sollen wir sie »Hüpfer« nennen?)

Ein oder zwei der intelligentesten und sympathischsten Menschen, die ich kenne, könnte man in der Kategorie »Verschwörung-Hopper« einordnen.

Ich möchte heute zu genau dieser kleinen Gruppe von Menschen reden – und ich ahne, dass etwas »Verschwörung-Hopper« in so manchem von uns steckt!

Zweifache Attraktion

Verschwörungstheorien sind attraktiv, sprich: sie »ziehen uns an«.

Erstens bietet eine Theorie eine Erklärung an, indem sie uns die Unsicherheit nimmt, vor den Phänomenen der Welt ohne Erklärung dazustehen.

Zweitens könnte die Verschwörungstheorie auch Angst wecken, nämlich die Befürchtung, dass höhere Mächte mit uns wie mit billigen Spielfiguren umgehen, dass wir »menschliches Material« und Teil von »Experimenten« sein könnten. Angst jedoch fokussiert unsere Aufmerksamkeit, und wir können gar nicht anders, als immerzu hinsehen.

»attitude or behavior«

Die Welt ähnelt manchmal einem Horrorfilm, auch darin, dass die Erwartung des Unbekannten gruseliger wirkt, als das Ereignis selbst schrecklich ist. Jedoch, bis das Ereignis eintritt, fesselt uns die Spannung – und auch die Frage: Wie richtig lagen die Verschwörungstheorien diesmal?

Verschwörungstheorien liefern mögliche Erklärungen, aber auch Vorhersagen, und also lassen sie sich prüfen!

In den letzten Jahren lagen sogenannte Verschwörungstheorien erstaunlich oft richtig. Würden die UN und EU persönlich gegen sogenannte Verschwörungstheorien agitieren, wenn diese nicht unangenehm häufig richtig lägen? (Siehe unesco.org oder ec.europa.info. Man versucht auch immer wieder, de facto »Wahrheitsministerien« nach 1984-Vorbild einzurichten, mit dem expliziten Ziel, die Meinung oder das Verhalten der Menschen zu steuern. Zitat shareverified.com: »to change their attitude or behavior«.)

Erschreckend präzise

Keine Theorie erklärt aber wirklich alles vollständig – und schon gar nicht eine mit zu wenigen postulierten Akteuren – und immer neue Krisen scheinen immer wieder neue Theorien notwendig werden zu lassen.

Und so hangeln sich einige Menschen heute von einer Theorie zur anderen.

Allein aus der Tatsache, dass ein Mensch eine Verschwörungstheorie nach der anderen zur Erklärung der Welt heranzieht, eine Aussage über deren jeweiligen Wahrheitsgehalt getroffen werden kann.

Ich kenne Menschen, die von einer Verschwörungstheorie zur anderen zu springen scheinen, fast als ginge es ihnen mehr um den Reiz des Neuen als um die Inhalte – doch im Nachhinein stellt sich seit Jahren heraus, dass ein erschreckend hoher Teil ihrer Theorien erschreckend präzise war.

Ja, mancher Verschwörung-Hopper kann in diesen Jahren regelmäßig sagen: »Ha, ich lag richtig! Wieder einmal!«

Doch ist er glücklich?

Dafür aber wahr

Spätestens seit Platon und Descartes sind wir mit der Idee der »Simulation« vertraut: Woher wissen wir, dass wir uns just jetzt in der »richtigen« Welt befinden und nicht in einer Simulation?

Der erwähnte Film »Matrix« baut ja auf diesem Grundgedanken: Die Welt, wie du sie kennst, war nur eine Simulation – lass mich dir die wahre Welt zeigen (die leider nicht ganz so rosig ist, dafür aber wahr).

Filme wie »Inception« (engl. Trailer auf YouTube) oder »Bliss« (engl. Trailer auf YouTube), oder auch die Folge »M. Night Shaym-Aliens!« aus der Serie Rick and Morty (1. Staffel, 4. Folge; engl. Zusammenfassung auf YouTube) gehen einen theoretischen Schritt weiter: Es ist denkmöglich, dass selbst wenn du meinst, »aufgewacht« zu sein, du tatsächlich bloß die Ebene der Simulation gewechselt hast.

Wie kann aber ein Mensch, der zwischen Simulationen wechselt, wirklich wissen, wenn und dass die aktuelle Welt wirklich real ist?

Es sind ja zwei Irrtümer denkbar: Man hält eine Welt für real, die nicht real ist. Und das ist mit einiger seelischer Stabilität möglich – wir kennen genug solche Leute. Doch auch das umgekehrte Problem ist denkbar, und das kann weit tragischer enden: Welche innere Stabilität kann ein Mensch besitzen, der die aktuelle Welt nicht für real hält?

Die Figur »Mal« aus dem Film »Inception« nimmt sich das Leben, nach mancher Deutung auch aus Verzweiflung ob der Frage, ob die aktuelle Realität wirklich real ist (Szene auf YouTube).

Mal sehen

Ich weiß, dass viele deutsche Bürger sich erfolgreich von der Frage ablenken (lassen), was wirklich passiert. (Denen gilt diese grundlegende Frage sogar als »rechts«, et cetera. Man gähnt heute nur noch über solche Vorwürfe.)

Und ich weiß, dass viele Menschen sich von der Frage ablenken (lassen), was eigentlich dieses mythische »Glück« ist. (Nicht wenige unserer Zeitgenossen finden solche Fragen »peinlich« oder »platt«. Es bleibt abzuwarten, ob die das kurz vor Schluss auch so sehen.)

Wer aber beide Fragen ernst nimmt, der kann leicht in Spiralen in Richtung seelischer Abgründe geraten.

Ich werde von Politik und Presse angelogen, und das macht das Leben gewissermaßen zur »Simulation«. Aufzuwachen bedeutet in Wahrheit und Praxis, sich immer wieder in einer jeweils anderen Simulation wiederzufinden.

Hühnerschnitzel

Zwischenzeitlich war ich ein weiteres Mal mit dem Hund draußen. Ich habe bei der Hühnchenbraterei ein Hühnerschnitzel und einen Salat gekauft.

Ich aß das panierte Schnitzel, und ich dachte an die Steak-Szene aus Matrix (auch auf YouTube).

Der Charakter Cypher isst genüsslich ein Steak, und er sagt, dass er weiß, dass dieses Steak nicht »echt« ist – und dass er es doch sehr genießt.

Cyphers Konsequenz aus diesem bewussten Wissen und Genießen ist aber, ganz in der Simulation aufgehen zu wollen – er will das simulierte Steak genießen, doch er will zusätzlich auch glauben, dass es »echt« ist.

Ich aß mein Hühnerschnitzel, und insofern ich das beurteilen kann, war es »echt«; sprich: Es befand sich zwischen meinen Zähnen. 

Als ob

Wir lesen die Nachrichten, und mit dem Stichwort »Nachrichten« meine ich hier natürlich »die aktuelle Version der offiziellen Simulation«.

Wir versuchen unser Bestes, aufgrund der vorliegenden Informationslage zu handeln, so dass wir auch morgen und in einem Jahr – und vielleicht sogar in zehn oder zwanzig Jahren – ein Schnitzel auf dem Tisch haben.

Wir werden wahrscheinlich nie herausfinden, was »die Realität« ist. Wahrscheinlich nicht im philosophischen Sinn, und ganz gewiss nicht im politischen.

Wir leben in einer Simulation, in so mancher Hinsicht. Und doch schmeckt der Brei gut, und das Schnitzel schmeckt gut. Ich nehme Nachrichten nur bedingt ernst, denn spätestens wenn etwas am Abend in der Tagesschau läuft, ahne ich, dass es nicht die eigentliche Nachricht ist.

Ich freue mich, wenn sich politisch etwas zum Besseren wendet, obwohl ich weiß, dass auch das vermutlich nur eine Simulation ist.

Das soll heute mein Lebensmotto sein: Lächle und sei froh, als ob es alles nur Simulation wäre.

Genieße das Schöne und Leckere, als ob es alles echt und nur für dich da wäre.

Und arbeite mutig, als ob du an der Welt etwas zum Besseren ändern könntest!

Weiterschreiben, Wegner!

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