Dushan-Wegner

18.03.2022

Luxus und Düsternis

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Roman Melnychuk
Der Streit zu politischen Themen – aktuell also etwa zur Ukraine – entbrennt oft nicht um die Sache selbst, sondern um die Frage, wie positiv man die Zukunft sehen darf. – Darf man die Zukunft denn positiv sehen? Oder muss man sie heute düster zeichnen?
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Es ist möglich, in materieller Hinsicht bescheiden zu sein und sich dennoch eines großen Luxus zu erfreuen; diese Kunst besteht darin, für sich gefunden zu haben, was einem selbst die Idee des »Luxus« wirklich bedeutet.

Ich selbst würde mich als materiell bescheiden betrachten, und dennoch gönne ich mir eine Art von Luxus, von dem mir sogar Menschen von weit höherem sozialen Status als ich versicherten, dass sie mich darum beneiden.

Ich gönne mir einen bestimmten Luxus, der sich beinahe dekandent anfühlt, wenn man von ihm einmal gekostet hat – und dann, sollte man diesem Luxus durch besondere Lebensumstände eine Zeit lang entsagen müssen, fühlt man sich geradezu leer, auf jeden Fall aber mit jedem Tag des Luxusmangels unzufriedener.

Nun werden Sie (hoffentlich) fragen, was dieser Luxus denn nun sei? Ich will Ihnen aber diesen meinen Luxus nicht nur beschreiben – ich will Sie daran teilhaben lassen!

Ich schrieb jüngst:

Ich sehe heute eine Reihe von Denkfehlern in Debatten, deren erster und grundlegendster wohl lautet: »Was ich als Realität wahrnehme, ist die Realität, denn ich habe es ja so wahrgenommen.« (Essay vom 13.3.2022)

Und im fünftletzten Absatz desselben Essays dann:

Ich halte unsere Denkfehler, als Individuen wie auch als Kollektiv, für ein echtes Überlebensrisiko, ärger als Klimaveränderung oder Pandemien. (Essay vom 13.3.2022)

Mein Luxus besteht nun darin, dass ich es mir hier und jetzt gönne, genau diesen Gedanken weiter zu denken. Einen Gedanken neu aufgreifen und weiterdenken zu dürfen, vor der willigen Öffentlichkeit, das ist ein Luxus, den ich mir über Jahr und Jahrzehnte erarbeitet habe (indem ich mein echtes, eigenes Weiterdenken derart lesenswert formuliere, dass Sie sich gelegentlich zu einem Leserbeitrag motiviert fühlen).

Heute darf ich Sie also einladen, den Gedanken von den gefährlichen Denkfehlern gemeinsam mit mir weiterzudenken. Vielleicht finden wir ja einen neuen, interessanten Denkfehler!

»Vorsicht in der Ukraine«

Zum Zwecke des zielführenden Weiterdenkens, will ich zunächst auf einen Gedanken vom 7.3.2022 zurückgreifen. Wenn Sie jeden Essay gelesen haben, gehören Sie vielleicht zu der Gruppe von Lesern, welche der »Traum von der Taube mit dem gebrochenen Flügel« traumatisiert hinterließ (wenn nicht, holen Sie das Traum-Trauma gern schnell nach).

Um an diesem Text deutlich genug zu kennzeichnen, dass er nur eine von vielen Möglichkeiten beschreibt, erfand ich eine surreale Story um die eigentliche Aussage. Die Kennzeichnung funktioniert nicht bei allen Lesern – hui, was für wütende Mails ich erhielt!

Die Kernaussage aber war eine warnende Frage: Ist uns eigentlich bewusst, dass der Westen in der Ukraine gerade auch waschechte rechtsextreme Neonazis mit Waffen ausstattet? Was wird mit denen nach dem Krieg sein, wie auch immer dieser Krieg ausgeht? Meine These war, dass der Westen diese Gruppen womöglich dann zur neuen Supergefahr erklärt, welche weitere totalitären Maßnahmen von Gestalten wie der Brüsseler »Zensursula« rechtfertigen werden.

Im Essay vom 15.3.2022 dann notierte ich, dass der Westen zwar Waffen in die Ukraine liefert, diese aber eher die Art von Waffen darstellen, die man Aufständischen in die Hand gibt – siehe Afghanistan – damit sie einen Besatzer jahrelang piesacken – und nicht die Art von Waffen, Systemen oder gar Spezialkräften, die es braucht, einen bewaffneten Konflikt auch wirklich zeitnah und eindeutig zu gewinnen. – Auch da waren nicht alle Reaktionen nur positiv (um es höflich zu sagen).

Heute nun lese ich ganz aktuell einen analytischen Essay mit dem Titel: »The False Promise of Arming Insurgents – America’s Spotty Record Warrants Caution in Ukraine« (foreignaffairs.com, 18.3.2022) – zu Deutsch etwa: »Das falsche Versprechen der Bewaffnung von Aufständischen – Amerikas wechselhafte Erfolgsgeschichte rechtfertigt Vorsicht in der Ukraine«.

Der Text enthält eine Auflistung von gescheiterten, vom Westen unterstützten Dauer-Aufständen. Im letzten Absatz heißt es dann (meine Übersetzung): »Wenn man sieht, wie mutige Ukrainer die Waffen erheben, um ihr Vaterland zu verteidigen, gegen alle Wahrscheinlichkeit kämpfend, dann fällt es schwer, dem Helferdrang zu widerstehen. Die Straße zur Hölle ist aber mit guten Absichten gepflastert.«

Die Publikation »Foreign Affairs« ist das wohl wichtigste Magazin für Außenpolitik weltweit (siehe Wikipedia), und die Autorin, Lindsey O’Rourke, ist Professorin für Politikwissenschaft in Boston und Verfasserin eines Sachbuchs zum »Covert Regime Change« (etwa: »Verdeckte Regimewechsel«).

Es ist mehr als verständlich, wenn angesichts von leidenden Kindern und zerbombten Wohnhäusern die Emotionen hochgehen, aber eine kurze Frage aus nur zwei kurzen Wörtern könnte uns überraschend ratlos dastehen lassen, und diese Frage lautet: »Und dann?«

Erwartet man, dass Putin sich schmollend zurückzieht – ja sogar Reparationen zahlt? Erwartet man, dass die Waffen brav eingesammelt werden (können)? Erwartet man, dass sich ukrainische Nationalisten einer Lösung unterwerfen, die in irgendeiner Form den Moskauer Kriegsherrn als Sieger erscheinen lässt?

»je früher Washington das akzeptiert«

Ja, wer sich heute den besonderen Luxus gönnt, weiterzudenken, der könnte feststellen, dass es schwerfällt, für aktuelle Entwicklungen ein realistisch positives finales Szenario zu entwerfen.

Bei carnegieendowment.org, 3.3.2022 veröffentlichte Außenpolitik-Experte und Uni-Dozent Christopher S. Chivvis aktuell einen Essay zum Ukraine-Krieg, und der Titel lautet: »How Does This End?« – »Wie wird dies enden?«

Der Autor entwirft verschiedene Szenarien, er bezieht natürlich die Rolle von China ein, aber auch den möglichen Einsatz von Spezialkräften wie der russischen Söldner-Truppe »Wagner Group«, der berüchtigten Quasi-Privat-Armee des Kremls.

Der Essay endet so (meine Übersetzung): »Die Chancen, dass Putin strategisch geschwächt hervorgeht, sind real. Das bedeutet aber nicht, dass die Vereinigten Staaten gewinnen können. Man wird sich mit einem Gesamtbild abfinden müssen, das viel hässlicher ist, als es vor dem Krieg war, und je früher Washington das akzeptiert, umso besser.«

Ich gönne mir heute den Luxus, die aktuellen Entwicklungen mit den uns vorliegenden Informationen abzugleichen, und dann beides weiterzudenken. Und ich merke, wie das Abzusehende mit einem bestimmten Denkfehler kollidiert.

Viele von uns, liebe Leser, gehen davon aus, dass die Dinge sich zum Schluss immer irgendwie »einrenken«. »Kopf hoch«, sagen wir, und: »Das wird schon!« – Merkels »Wir schaffen das« stieß auf Gegenwehr, das ist wahr, ich wage jedoch die These, dass sie mit solcher billigen Mutmacherei durchgekommen wäre, wenn sie es nicht wie eine calvinistische Pflicht hätte klingen lassen.

Den festen Glauben, dass die Dinge sich schon noch einrenken, ist in etwa das, was die Philosophen eine »pragmatisch begründete Wahrheit« nennen – es bleibt, wenn die Realität solche Annahmen nicht hergibt, ein Denkfehler. Wenn ich zur Matheprüfung antrete, dann ist es pragmatisch nützlicher, davon auszugehen, dass ich sie bestehen werde. So ähnlich ist eigentlich der Glaube, dass die Dinge, die wir nicht kontrollieren, von höherer Hand zum Guten gewendet werden – es ist ein nützlicher Denkfehler.

Auf absehbare Zeit

Ja, es ist ein Luxus, die aktuellen großen Handlungsstränge zu betrachten, und sie weiterzudenken. Aus diesem Luxus heraus aber stellen wir fest: Die Dinge werden wahrscheinlich nicht wieder gut werden. Es wird wahrscheinlich gefährlich, beängstigend und instabil bleiben, auf absehbare Zeit.

Im Interview bei »Jung & Naiv« zitiert der Osteuropa-Experte Wolfgang Eichwede den Protestbrief einer Gruppe russischer Wissenschaftler: »Wir gehen einen Weg in das Nirgendwo« (via YouTube, ab 2:05:43) – Es fällt schwer, ihnen faktenbasiert zu widersprechen.

Ich glaube an die Hoffnung, die aus dem eigenen Handeln kommt, und insofern ist eine Hoffnung für ein friedliches Osteuropa zwar wünschenswert, aber auf absehbare Zeit eher unrealistisch: Welche unserer eigenen Handlungen, sei es als Staat oder als einzelne Deutsche, soll das größere Europa denn mit guter Wahrscheinlichkeit friedlicher machen?

Je früher wir akzeptieren, dass die Dinge auf absehbare Zeit nicht entspannter werden, umso besser für uns. Glück hat immer einen Kontext, braucht Ordnung der relevanten Strukturen. Um unser eigenes Leben wirklich zu ordnen, auch und besonders das innere Seelenleben, müssen wir realistisch ob des größeren Kontextes sein. Auch der düstere Blick in die Zukunft ist auf seine Art ein Luxus – und dieser Luxus ist glücks- oder sogar lebenserhaltend.

Gönnen wir uns doch, über die hektischen Nachrichten des Tages weiterzudenken, und ich zumindest ziehe diese Lehre: Es gilt, einen Weg zu finden, auch wenn die Dinge im größeren Kontext übel bleiben, das Leben lebenswert zu machen, den Tagen einen Sinn zu geben.

Weiterschreiben, Wegner!

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