Dushan-Wegner

30.03.2022

Metall in der Nase

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Surya Prakash
Wenn Leute sich die Trennwand der Nase durchstechen lassen, um Metall darin zu befestigen, so dass es aussieht, als würde immerzu etwas herausfließen – was ist die Motivation?
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Jetzt wo die Masken allmählich wieder herunterkommen und das Coronatheater weniger wird, sehen wir in gewissen sozialen Kreisen wieder etwas, für das ich bis vor kurzem noch nicht einmal das richtige Wort kannte: Septum-Piercings.

Das Septum (siehe Duden) ist die Scheidewand, die das Innere Ihrer Nase in die linke und rechte Hälfte teilt. Beim Septum-Piercing wird ein Loch in das Septum gestochen und ein Schmuckstück durchgezogen, das dann aus den Nasenlöchern und in den Bereich des Philtrum reicht.

Sollten Sie Ihr Leben bislang gelebt haben, ohne gewusst zu haben, wie die Rinne zwischen Nase und Oberlippe heißt, jetzt wissen Sie es: Philtrum. Vor allem aber, wenn Sie in den letzten Jahren einen modischen Menschen gesehen haben sollten, dem etwas Metall aus der Nase ragt, jetzt wissen Sie auch, wie das heißt: Septum-Piercing.

Da muss mehr sein!

Septum-Piercings sind eine beliebte Form der Körpermodifikation. Global und kulturhistorisch betrachtet sind Septum-Piercings die zweithäufigste Art des Piercings nach den bekannten Ohrringen. Bei Wikipedia finden sich Fotos von Septum-Piercings aus verschiedenen Kulturen, sowie weitere Erklärungen.

Ich weiß, dass Piercer und Gepiercte auf Nachfrage von der langen und kulturübergreifenden Tradition der Nasenringe erzählen können, Tausende Jahre zurück, von Afrika bis Asien.

Jedoch, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis sagen uns, dass all diese Traditionen wahrscheinlich nicht der eigentliche Grund sind, warum Menschen sich ein Loch in das Bindegewebe im Inneren der Nase stechen lassen. Niemand sagt: »Oh, das hat eine so reiche Tradition, also will ich mir auch ein schmerzhaftes Loch in die Nase tun, dabei Entzündungen riskierend und immerzu als ›der mit dem Piercing in der Nase‹ betrachtet werden.« – Da muss mehr sein!

Für eine Stunde

Ich sehe Menschen mit Metall in der Nase – einige an Jahren jung, andere nur noch »im Herzen« jung – und meine Neugier springt: Was motiviert Menschen dazu, ihr Septum zu durchbohren und Metall darin zu befestigen, damit es aussieht, als würde immer etwas herausfließen?

Ach, was würde ich darum geben, für eine Stunde die Welt aus dem Kopf und mit dem Herzen eines ganz anderen Menschen zu sehen. Ich kann zum Beispiel logisch nachmodellieren, wie ein Linksgrüner denkt (er will »Teil sein« und »akzeptiert werden«, aber gleichzeitig die Widersprüche der Welt leugnen, selbst wenn er sich noch so sehr dafür verbiegen muss, und gerechtfertigt durch dieses »Teilsein« erhebt er sich über die, die nicht »Teil« seiner Gruppe sind), doch alles logische Nachmodellieren lässt mich nicht erfahren, wie es sich ›von innen‹ anfühlt.

Ähnlich frage ich mich, wie es sich von ihnen anfühlt, sich die Nase durchstechen lassen zu wollen, um einen (aus westlicher Sicht) ästhetisch fragwürdigen Nasenring zu tragen (ich frage nach der Motivation, nicht nach dem Schmerzerlebnis).

Was mich treibt, ist die Neugier gerade auf jene Motivationen, die ich überhaupt nicht verstehen kann – ja, deren Ergebnis ich vielleicht sogar irritierend finde (und »irritierend« ist ein freundliches Wort).

Überraschend düster

Eine der wunderbarsten Eigenschaften unserer via Internet verbundenen Zeit, ist die Möglichkeit, jede Frage ans Internet zu stellen, und Hunderte oder Tausende von Antworten zu finden, von betroffenen Menschen geschrieben.

Ich stellte die Frage: »Why did you get your septum pierced?« (Sie können es ja selbst etwa via Google versuchen), und ich arbeitete mich durch die Antworten durch.

Nicht wenig Antworten auf die Frage nach der Motivation zum Septum-Piercing waren überraschend düster.

Einige schrieben (teils wörtlich), dass es ein »Fuck You« an ihre Eltern war, die das verboten. Die Selbstverletzung wird zur selbst gewählten Symbolik des Übergangs zum Erwachsenenalter. (Es erinnert mich erschreckend präzise an die polnische Redensart, dass einer sich der Mutter zum Trotz die Ohren abfrieren lässt (siehe pl.wiktionary.org). Es liegt nicht wenig Ironie darin, dass dieses Symbol angeblichen »Erwachsenwerdens« dem Gepiercten einige Optionen des beruflichen Erwachsenseins verschließt.)

Andere Gepiercte schrieben von »self harm«, also dem psychischen Verlangen danach, dem eigenen Körper zerstörerischen Schaden zuzufügen (siehe Wikipedia). Schmerzhafte, sichtbare Piercings können eine Möglichkeit sein, diesen manchmal auch bei Borderline-Patienten oder nach persönlichen Traumata auftretenden Drang umzusetzen, und zwar auf eine Art, die immerhin innerhalb der eigenen Peergroup akzeptiert wird.

Einige schrieben von einer »Mutprobe«, doch das überzeugt mich nicht. Nach dem Durchstechen muss das Septum zunächst einen Monat lang heilen und in dieser Zeit muss das Loch offengehalten werden, damit der Körper sich an der Stelle nicht wieder repariert. Das ist zu viel und ein zu langwieriger Aufwand, um als »spontane Mutprobe« glaubwürdig zu sein.

Ich selbst wage die küchenpsychologische These, dass sichtbare Piercings, von denen man weiß, dass Teile der Gesellschaft sie abstoßend finden werden, eine gewisse seelische »Erleichterung« versprechen könnten. Es ist eine These, die mir zuerst im Zusammenhang mit Leuten begegnete, die vulgäre, beleidigende Sprüche auf T-Shirts tragen. Die These lautet: Menschen, die aus verschiedenen Gründen auf Ablehnung stoßen, können sich bewusst extra-abstoßend geben, und dann können sie die »Schuld« an den negativen Reaktionen, die sie erfahren, auf das vulgäre T-Shirt oder das irritierende Piercing schieben. (Eine Variante davon ist es wohl, wenn Menschen sich körperlich unattraktiv finden, etwa ihre Nase zu groß, et cetera, und dann bewusst die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf den Gegenstand lenken, um von sich abzulenken.)

(Übrigens: Zu allen diesen Motivationen sei gesagt, dass solange das Loch im Septum sich nicht schwer entzündet, der Gepiercte sein Gepierctsein auch einfach verstecken kann, anders etwa als einer mit Tattoos im Gesicht, etwa indem er den Schmuck nach oben dreht, in die Nase hinein. Insofern zählten Septum-Piercings wohl zu den Körpermodifikationen, in denen sich die Person theoretisch »einen Ausweg lässt«, wieder voll am sozialen Leben teilzunehmen.)

Mehr Besonderheit

Die hier gelisteten möglichen Gründe liegen ja bislang im Rahmen des Erwartbaren. So etwas hätten wir uns auch nach unserer Lebenserfahrung denken können.

Ich habe aber von einer gepiercten Dame noch eine Motivation zum Septum-Piercing gelesen, welche ich so nicht erwartet hätte. – Ihre Begründung war, dass sie an Prosopagnosie leidet, zu Deutsch: Gesichtsblindheit (siehe Wikipedia).

Diese Dame tat sich nach eigenem Bericht sehr schwer damit, die Gesichter von Menschen zu unterscheiden und einer Person zuzuordnen. Das führte dazu, dass sogar ihr eigenes Gesicht ihr als unbekannt und nicht-besonders erschien, wenn sie sich selbst im Spiegel sah. Im Nasenring sah sie eine Möglichkeit, so sagte sie, ihr Gesicht auch wirklich als das ihre zu markieren.

(Metaphorisch könnte dies ja als Motivation für andere sichtbar Gepiercte gelten, auch wenn sie nicht an Prosopagnosie leiden: Via Piercing verleiht man sich selbst »Besonderheit«, und zahlt dafür mit einem Schmerz, der insgesamt dann doch um Dimensionen geringer ist als der Schmerz der Selbstüberwindung, wenn ein Mensch sich seine Besonderheit etwa durch jahrelanges Studium eines Musikinstruments oder den Aufbau eines Unternehmens erarbeitet.)

Ich weiß nicht, ob ich nachfühlen kann, was diese Dame sagt, doch es ergibt mir durchaus Sinn – wie auch die meisten anderen Begründungen.

Ob etwas in der inneren Welt des Anderen einen Sinn ergibt, ist unabhängig von der Frage, ob ich es nachfühlen kann.

Aber verstehen

Nein, ich hatte in der Schule nicht von Septum-Piercings gelernt (das mag bei heutigen Kindern anders sein).

Mir genügt es aber auch nicht, von dieser Körpermodifikation irritiert zu sein. Ich ahne, warum ich irritiert bin – was ist ästhetisch daran, auf den ersten Blick ständig so auszusehen, als liefe einem Rotz aus der Nase?! – ich will aber auch verstehen, warum Menschen es tun!

Ich kann es auch nicht emotional nachvollziehen, warum Menschen sich die Nasenscheidewand durchlöchern lassen, warum sie Infektionen, Nekrosen, Perichondritis, Septalhämatome und allergische Reaktionen riskieren. Es könnte daran liegen, dass ich keinen Drang verspüre, mich zu verletzen. Oder daran, dass ich (schon lange) nicht gegen meine Eltern rebellieren will (und wenn doch, dann eher nicht durch Verletzung meines Körpers…). Es könnte daran liegen, dass ich Gesichter sehr wohl unterscheiden kann (wenn ich auch gelegentlich die Namen durcheinanderbringe – in meiner näheren Umgebung sind viele Namen sehr »L«-lastig, inklusive des Hundes, da kommt man in der Hektik des Alltags schon mal durcheinander).

Dass ich keinen Drang zu provokativen Nasenringen (oder auch nur vulgären T-Shirts) verspüre, könnte auch daran liegen, dass es mir schlicht zu simpel ist, mit einem Nasenring zu provozieren.

Wenn ich auf einen solchen Nasenringträger treffe, dann beschränke ich meine Kommunikation oft aufs Notwendigste (etwa: »einen großen Kaffee, bitte«) – wie redet man mit einem, der es drauf anlegt, dass ich ihm unter die Nase gucke?! Da hatten die Masken echte Vorteile!

Ich verhehle nicht, dass es mich irritiert, doch gerade weil es mich irritiert – und auch weil ich davon ausgehe, dass der- oder diejenige es weiß, dass es mich irritiert, will ich es verstehen, so gut und so ehrlich ich kann.

Nach meiner Lebenserfahrung sind Nasengepiercte eher seltener in meiner Lesergruppe, also spreche ich sie hier symbolisch an, in Abwesenheit. Liebe Mitmenschen mit durchlöcherter Nasenscheidewand, ich verstehe Sie nicht ganz – doch ich glaube Ihnen, dass Sie ihre Gründe haben.

Nicht vollständig

Mein eigener Schluss dieser (und aus diesen) Erörterungen soll sein: Ich kenne und verstehe die Gründe des Anderen nicht immer, doch ich will mich daran erinnern, dass er Gründe hat – und dass sie ihm gewiss so wichtig und dringend sind, wie meine Gründe mir erscheinen.

Habe ich in diesem Text wirklich verstanden, was Menschen bewegt, sich Metall ins Gesicht zu hauen? Wahrscheinlich nicht. – Menschen zu verstehen, die so sind wie ich, das ist oft schwer genug, doch es ist noch nicht die hohe Kunst. Ich glaube, dass ich daran wachse, wenn ich Menschen zu verstehen suche, die von anderen Motivationen getrieben sind als ich.

Ja, ich liege wahrscheinlich ein ordentliches Stück weit falsch bei meinen Thesen dazu, warum Menschen tun, was sie tun, doch ich arbeite daran, täglich weniger falsch zu liegen.

Weiterschreiben, Wegner!

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