Ich habe das Interview gesehen, das der Axel-Springer-Mann Paul Ronzheimer mit Viktor Orbán führte, auf Englisch, im Detail. (Es ist sowohl im englischen Original als auch mit Übersetzung online.)
Paul Ronzheimer tritt wie Ankläger und Advokat im Namen der EU-Bürokratie auf, aber auch der US-Interessen. Viktor Orbán muss verteidigen, warum er sowohl mit Selenskyj als auch mit Putin spricht und warum er versucht, durch die Kommunikation der Staaten endlich wieder Frieden in die Ukraine und damit nach Europa zu bringen.
Ich komme gleich zu Details aus dem gesamten Interview, doch lasst mich zunächst eine spezielle Stelle anreißen!
Pathos vs. Realität
Im Video bei Minute 11:36 sagt Orbán etwas, da musste ich laut lachen.
Ronzheimer macht sich vorher ein klein wenig lächerlich, indem er pathetisch fragt, wie es sei, Putin die Hand zu schütteln, der doch laut Ronzheimers Meinung ein Kriegsverbrecher sei.
Orbán aber antwortet (meine Übersetzung aus dem Englischen): »Also, erst müssen wir verstehen, dass das, was im Krieg entschieden wird, nicht die Frage ist, wer richtig liegt und wer böse ist. Es geht nicht darum, wer recht hat und wer nicht recht hat, denn jede Seite wird Gründe angeben, warum es vernünftig ist, Krieg zu führen. Was vom Krieg entschieden wird, ist, wer sterben wird und wer am Leben bleibt.«
So weit, so beeindruckend. Orbán entgegnet Ronzheimers Propaganda-Pathos mit Realität und auch philosophischer Präzision.
»Also bitte, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt Orbán noch, und dann kommt jener Satz, der mich tatsächlich lachen ließ: »In Brüssel sitzend, in Paris oder nah am Atlantischen Ozean, lässt sich eine angemessene Distanz einnehmen, um den Krieg eher theoretisch zu untersuchen.«
Und etwas später, über die Realität des Krieges: »Menschen sterben jeden Tag, Tausende nun, auf beiden Seiten.«
Dämonisierung des Rationalen
Habt ihr aber mitbekommen, warum ich bei aller Bitterkeit des Themas laut lachen musste?
Es kann sehr gut sein, dass ich jenes Detail überinterpretiere. Es kann sein, dass ich etwas hineinlese, was nicht darin ist. Ich komme gleich dazu.
Der Rest des Interviews scheint meine These zu bestätigen. Ronzheimer wirkt, als wollte er den Ungarn Orbán darüber belehren, wie es ist, wenn Russland in dein Land einmarschiert. Orbán weist das deutlich und wohlbegründet zurück.
Tatsächlich erfahren wir teils naheliegende, aber doch aufs Neue spannende Informationen. Etwa: Sowohl Putin als auch Selenskyj gehen davon aus, dass sie gewinnen werden. Beide sprechen lieber über die Verluste der anderen Seite als über die eigenen.
Ronzheimer in seiner Rolle als Springer-Journalist macht sich meiner Meinung nach immer wieder etwas lächerlich. Etwa wenn er zunächst Putin dämonisiert, als sei es ein Tabubruch, dass Orbán mit ihm persönlich sprach. Und dann quetscht er Orbán darüber aus, wie sein Gespräch mit Putin verlief.
Orbán korrigiert das von Ronzheimer präsentierte Putin-Bild. Russland, so betont er, sei radikal rational. Kiew anzugreifen sei eine Fehlkalkulation gewesen, aber nicht irrational.
(In aller Bescheidenheit: Orbáns Betonung der Rationalität Putins erinnert mich an meinen eigenen Essay aus zeitlicher Nähe zum Anfang des Ukraine-Krieges vom 9.3.2022: »Brutal, nicht irrational«. Da schrieb ich schon in der Einleitung: »Putins Handeln ist brutal und blutig – aber es ist nicht irrational.« – Und ich bleibe definitiv bei meiner These, dass es auch in diesem Krieg zuerst um Naturschätze im Boden geht und alles Weitere wie Nato oder Donbass eher eine »Begründungs-Mitnahme« darstellt.)
Bis zum letzten Ukrainer
Ronzheimer scheint für jene US-Interessen zu argumentieren, die bereit sind, gegen Russland zu kämpfen bis zum letzten Ukrainer. Es sind wahrlich bemerkenswerte Zeiten, wenn Politiker für Frieden kämpfen und die Journalisten für Krieg argumentieren. (Und mit »Politiker« meine ich gerade nicht Leute wie Frau Baerbock, aber das ist ein anderes Thema.)
Als Orbán nach seiner Prognose für den Ausgang der Wahlen 2024 in den USA gefragt wird und ob er Trump als nächsten US-Präsidenten sieht, antwortet er mit einem Doppelschlag – da will ich ehrlich sein – ganz nach meinem Herzen.
Erstens führt er geradezu poetisch aus, dass es ein großes Rätsel ist, wie das Ergebnis einer Wahl aus der inneren Absicht von Millionen von Menschen entsteht (eine kognitive und ontologische Betrachtung von Wahlergebnissen zugleich). Und dann, nebenbei, erwähnt er »Barabbas in der Bibel«.
Wir finden den Fall des Barabbas in Matthäus 27, ab Vers 15. Bevor Jesus verurteilt wird, befragt Pilatus das Volk, wen er freilassen soll: Barabbas oder Jesus. Barabbas war laut dem Johannesevangelium ein »Räuber«, doch das Volk entschied sich, dass er freigelassen werden soll und nicht Jesus. So ist sie eben, die Unberechenbarkeit von Volkes Stimme. (Ja, ich bin beeindruckt ob dieses Querverweises.)
Orbáns Ohrfeige
Orbán betont auf jeden Fall, dass Trump der Mann des Friedens ist. Nicht sein wird, sondern ist. Orbán ist denkbar vorsichtig, doch er macht unmissverständlich klar, dass eine Veränderung in den USA gut für die Welt sein wird.
Sehr interessant ist auch, dass Orbán sich sicher ist, dass Putin während Merkels Ägide nie nach Kiew einmarschiert wäre. (Was sagt das über Scholz aus? Es muss nicht ausgesprochen werden, es ist auch so klar.)
Zurück aber endlich zu dem Satz, der mich auflachen ließ: »in Brüssel sitzend« und »in Paris« bezieht sich natürlich auf die Machtzentren der EU. Einmal EU-Bürokratie, einmal Paris als Beispiel tatsächlicher politischer Macht.
Doch Orbán schob noch nach: »oder nah am Atlantischen Ozean«.
Ich deute »oder nah am Atlantischen Ozean« als eine verdeckte Ohrfeige an den Interviewer. Ich deute es so: »Du arbeitest für ein Medienhaus mit massiver US-Beteiligung. Du bist ›Trans-Atlantiker‹, was ein höflicher Ausdruck für Marionette des US-Deep-States ist. Alles, was wir ab hier sagen werden, hat zur Prämisse: Meine relevante Struktur ist Ungarn und der Frieden in Europa, weil Ungarn ihn braucht. Deine relevantesten Strukturen sind andere als meine – und diese sind womöglich weder Frieden noch Europa.«
Nicht wie ein Journalist
In kritischen Kreisen wurde Paul Ronzheimer viel für sein Interview kritisiert. Und ich wage eben die These, dass Orbán sehr klar machte, warum er kritisiert werden kann: Weil er bisweilen nicht wie ein »Journalist« wirkt, sondern wie … siehe oben (oder schreibt es in die Kommentare).
Doch wir müssen Ronzheimer auch dankbar sein. Es scheint mir recht offensichtlich, dass er ohne diese Einstellung gar nicht in die Position gekommen wäre, dieses Interview für Springer zu führen.
Eines ist in diesem Interview klar geworden: Wer die relevanten Strukturen der Akteure zu lesen versteht, kann den weiteren Verlauf der Veranstaltung vorhersagen, sei diese Veranstaltung ein Interview, sei sie Weltpolitik … oder dein persönliches Leben.