Dushan-Wegner

13.07.2021

Sahne und Plünderungen

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Diana Akhmetianova
In Südafrika wird geplündert, Chaos greift um sich. In Afghanistan wächst die Macht der Taliban. Pfft, interessiert alles hier nicht. Es ist ja nicht so, dass dortige Probleme sich bei uns fortsetzen könnten, oder?
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

»Sie treffen sich täglich um viertel nach drei«, so sang Udo Jürgens, »oh oh oh – oh yeah! Am Stammtisch im Eck in der Konditorei, oh oh oh – oh yeah!«

Das Lied heißt »Aber bitte mit Sahne«, es erschien im Jahr 1976 (und es ist bei YouTube). Es war eine sehr andere Zeit. Helmut Schmidt war Bundeskanzler.

In China starb Mao Zedong und mit ihm die »Kulturrevolution« (je nach Schätzung zwischen Hunderttausenden und zwanzig Millionen Tote). In Stammheim erhängte sich die Journalistin und Terroristin Ulrike Meinhof (angeklagt des vierfachen Mordes). In Ost-Berlin eröffnete der Palast der Republik (2008 war er dann auch wieder abgerissen), und als Wolf Biermann in Köln auftritt, wird er aus der DDR ausgebürgert.

In Kalifornien wurde am 1. April 1976 eine kleine Computerfirma mit dem niedlichen Namen »Apple« gegründet. Und in Südafrika entflammte am 16. Juni 1976 das »Soweto Uprising«, brutale und blutiger Proteste gegen Bildungspolitik und Apartheid. Bis heute ist der 16. Juni in Südafrika ein Gedenk- und Feiertag, der »Youth Day« – »Tag der Jugend«.

Im selben Jahr 1976 trat die »Konvention zur Bekämpfung und Ahndung des Verbrechens der Apartheid« in Kraft. Apartheid wurde als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« eingestuft.

Es war ein dramatisches Jahr für die Welt – und ist nicht ein jedes Jahr auf seine Weise dramatisch? – und in Deutschland sang man derweil Lieder wie »Aber bitte mit Sahne«.

Der Titel dieses Liedes, »aber bitte mit Sahne!«, wurde zum geflügelten Wort, zum Teil des deutschen Lexikons. (Und doch schaffte es das Lied »nur« auf Platz 5 der Charts. Der deutsche Superhit jenes Jahres war »Die kleine Kneipe« von Peter Alexander; es ist auf YouTube. Es ist ein weiteres Lied, dass die »kleinen Freuden« der Geselligkeit besingt, aber ohne jede Ironie.)

Wo wir aber von Geselligkeit reden, und dazu noch von Ironie, genehmigen wir uns von letzterer eine mutige Portion extra, machen mental ein Eselsohr bei »Sahnetorte« – und schon wären wir bei den Nachrichten … heute aus Südafrika.

»… versinkt im Chaos«

In Südafrika herrscht keine Apartheid mehr, in Südafrika herrscht Cyril Ramaphosa (geschätztes Vermögen etwa 450 Millionen US-Dollar). Er ist Nachfolger von Jacob Zuma (sechs Ehefrauen, 23 Kinder, von Kritikern ein »Kleptokrat« genannt). Beide sind Politiker des berüchtigten African National Congress, kurz »ANC«.

Zu den vielen Vorwürfen gegen Zuma gehört es, Geld von Muammar al-Gaddafi angenommen und versteckt zu haben (sabcnews.com, 8.4.2019). Zuma weigerte sich, vor einer Kommission zu diesen Vorwürfen auszusagen – und das oberste Gerichts Südafrikas verurteilte ihn deswegen (und wegen wiederholter Verachtung des Gerichts) zu 15 Monaten Haft (faz.net, 29.6.2021).

Zuma trat die Haft tatsächlich an (spiegel.de, 8.7.2021), wenn auch »unter Protest«. Dass Zuma aber die Haft »unter Protest« antrat, das blieb nicht ohne Konsequenz.

welt.de, 12.07.2021(€) titelt »Unruhen in Südafrika: Ein Land versinkt im Chaos«. Die klischeehafte Formulierung fällt mir auf. »Ein Land versinkt im Chaos« ist eine derart abgegriffene, abgenutzte Floskel. Es klingt für mich, als hätte jener Journalist auch schon aufgegeben. Was soll man noch sagen, was nicht gesagt wurde?

Zumas Anhänger haben dessen Verhaftung zum Anlass für »Proteste« und Plünderungen genommen. In Durban brennen Einkaufszentren und LKWs (siehe SABC via YouTube). Die Polizei ist überfordert, laut Gerüchten soll sie sogar stellenweise mit geplündert haben (@insightfactor, 12.7.2021). Die aktuelle Regierung des aktuellen Staatschefs versucht, die plündernden Anhänger des Vorgängers zu bremsen (für Video siehe etwa africanews.com, 12.7.2021). In den sozialen Medien sieht man, wie sogar kleine LKWs und Gabelstapler zum Plündern eingesetzt werden (@als2010, 12.7.2021). Einige Bürger beginnen sich zu wehren (@SunflowerSrina, 12.7.2021). Angeblich soll die Armee bald für Ruhe sorgen.

Die Bilder ähneln erschreckend den angeblichen »Protesten« unter dem Schlagwort »Black Lives Matter« in den USA, wenn auch nochmal brutaler. Auch aus Südafrika sehen wir die Bilder demolierter und ausgeraubten Geschäfte kleiner Ladenbesitzer (9gag.com, 13.7.2021). Wie bei »Black Lives Matter« enthalten auch die Unruhen von Südafrika neben der reinen Lust an Zerstörung, Aneignung und primitivem Machtbeweis rassistische Elemente: Zuma gehört ethnisch zu den Zulus, seine Vorgänger Mbeki und Mandela gehörten zu den Xhosa.

Des einen »Vetternwirtschaft«

Wir könnten beliebig tief in die Thematik hinabsteigen. Die vergeblichen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte und absurde Milliardensummen an Entwicklungshilfe sind aber ein Hinweis darauf, dass wir uns verlaufen würden. Werden wir Afrika gerecht, indem wir in europäischen Denkmustern über den Kontinent nachdenken?

Die weiße südafrikanische Politikerin Hellen Zille ist bekannt (und gefürchtet) für ihren extra harten Realismus (2020 sorgte sie etwa für Empörung, als sie tweetete, dass es aktuell mehr rassistische Gesetze in Südafrika gäbe als während der Apartheid; siehe sowetanlive.co.za, 24.6.2020).

Dieser Tage hat Zille einen Essay veröffentlicht, in welchem sie ihre persönlichen Erlebnisse mit Zuma schildert (news24.com, 10.6.2020, via welt.de, 12.07.2021(€)). Sie scheint dafür zu plädieren, Jacob Zuma und damit doch eigentlich Afrika nach afrikanischen Werten und Tradition zu deuten. Was etwa im Westen als »Korruption« und »Vetternwirtschaft« gilt, das ist für Zuma ganz selbstverständliche Versorgung seiner – in unserer Sprache – relevanten Strukturen. Sich nicht zuerst um die zu kümmern, die einem nahe sind, das ist es, was für ihn unmoralisch wäre.

Zilla geht nicht den nächsten Schritt, auch die Plünderungen und die rohe Gewalt kulturell zu begründen. Wenn sie es täte, läge sie zu hundert Prozent falsch?

Alle Sorgen weit weg

Ich denke heute das Lied von der Sahnetorte und die Berichte von der Gewalt in Afrika zusammen. (Man könnte leider viele Seiten füllen mit Berichten von Gewalt. Aktuell hören wir etwa vom Vordringen der Taliban in Afghanistan, was nach aller Erfahrung wieder zu neuen Migrationswellen nach Deutschland führen wird – mit Menschen, die obwohl sie vor den Taliban fliehen, diesen womöglich kulturell ähnlicher sind als dem durchschnittlichen Wohlstands-Sahnetorten-Genießer in Deutschland.)

Es gibt einen konkreten Grund, warum ich die Sahne und die Gewalt zusammen denke, und weil es sich um eine reale und aktuelle Szene handelt, will ich die Stadt in Deutschland nicht nennen und die Personen nur andeuten. Es sind Menschen, deren erste Schuld ihre Unschuld ist.

Stellen wir uns eine von romantischen mittelalterlichen Gebäuden geprägte deutsche Stadt vor. Corona ist dort längst vorbei – wo kein Kläger, da kein Richter, besonders wenn Polizei, Richter und Bürgermeister auch keinen Bock auf Coronatheater haben. Es ist ein sonniger Tag im Juli 2021. Menschen sitzen auf dem öffentlichen Platz zusammen, essen Apfel- oder Rhabarberkuchen. Dazu trinkt man teuren Milchkaffee. Die Kinder spielen in ihrer Öko-Kleidung auf dem blitzblanken Kopfsteinpflaster. Man redet über Urlaubspläne und das nächste Auto. Man überlegt, ob man nachher noch ins Fitnessstudio geht. Alle Sorgen sind weit weg, und die Bio-Sahne auf dem Bio-Kuchen zum Bio-Kaffee schmeckt wirklich lecker!

Diese Menschen haben in ihrem Leben bislang alles richtig gemacht, so müssen sie doch meinen. Wie will man ihnen erklären, dass sie auf einer Insel der Seligen leben? Wie will man ihnen erklären, dass die Probleme Afrikas auch zu ihnen kommen könnten? (Ein Zyniker könnte jene Leute verteidigen: »Warum soll man denn nicht eine Sahnetorte genießen? Die jungen Männer in Afrika tun es doch auch, während sie plündern: reddit.com, 12.7.2021«)

Ich sehe die Ethikbürger ihre Apfelkuchen fressen, ich sehe sie die Sahne (gereicht im getöpferten Schälchen) auf ihren Teller schaufeln. Ich sehe die blankstarrende Selbstzufriedenheit, wenn sie den Milchschaum schlürfen. Ich denke an Udo Jürgens, und ich singe mit: »Und das Ende vom Lied hat wohl jeder geahnt, oh oh oh – oh yeah! Der Tod hat reihum sie dort abgesahnt, oh oh oh – oh yeah! Die Hinterbliebenen fanden vor Schmerz keine Worte…«

»Noch emmer joot…«

Emotional kann ich ja die Menschen verstehen, die nicht wahrhaben wollen, was anderswo passiert. Auf den ersten Blick könnte es sogar scheinen, dass diese Leute doch nur meinen Rat befolgen, sich in einen »Innenhof« zurück zu ziehen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ich mich und meine Lieben schütze – oder ob ich schlicht die Gefahren und Entwicklungen ignoriere. Wohin gehen die Menschen aus Afrika, wenn ihr Leben dort unmöglich wurde?

Ich erwarte kein Verständnis von der neuen Aber-bitte-mit-Biosahne-Fraktion, doch ich selbst kann diese Leute gut verstehen. Ich kann diese Leute sowohl emotional als auch erkenntnistheoretisch verstehen: Erstens ist das Leben angenehmer, wenn man sich lieber mit Bio-Apfelkuchen und dem »Leben im Moment« beschäftigt, statt mit den Konsequenzen der Entwicklung in Afrika für Deutschland in 1 bis 10 Jahren. Und zweitens scheint deren bisheriges Leben ihnen doch Recht zu geben – es ist ja bisher alles gut gegangen, warum also jetzt sich Sorgen machen?! (In §3 des rheinischen Grundgesetzes heißt es ja wörtlich: »Et hätt noch emmer joot jejange«, siehe Wikipedia.)

Was interessieren mich die Plünderungen in Übersee, wenn vor mir ein leckerer Apfelplunder steht? Es ist fürwahr verständlich – tragisch falsch womöglich, aber sehr verständlich. Ich gabele den feinen Schokokuchen mit Kirschbelag in meinen Verdauungstrakt, mich interessiert nicht, dass zur gleichen Zeit in Hamburg ein Afghane vier Menschen mit dem Messer behandelt (und wie in »toleranten« Irrenhäuser üblich gleich wieder freigelassen wird, bild.de, 12.7.2021) oder in Greven ein Afghane, »Allahu Akbar« rufend, einen Menschen tötet und einen weiteren schwer verwundet (welt.de, 6.7.2021). Meine Freundin hat den leckeren Zitronenkuchen mit Zuckergelee bestellt, und der sieht auch sehr lecker aus, und jetzt bin ich neidisch, und das sind die mir relevanten Strukturen!

Man wäre heute gut beraten damit, die eigenen Pläne so aufzustellen, dass sie auch dann funktionieren, wenn die Mannschaft »Aber bitte mit Biosahne!« vollständig und verheerend falsch liegt.

Dann aber, wenn alle Krisen bedacht und kluge Pläne gemacht sind, dann können wir uns ja mal denen anschließen. Nachdem wir hier so häufig Apfelkuchen und Sahne mit Milchkaffee erwähnten, haben Sie denn nicht Lust auf einen eben solchen?

Gönnen Sie es sich, Sie haben es sich verdient… und jetzt alle: »Aber bitte mit Sahne!«

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,028 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Sahne und Plünderungen

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)