»Elaine, Schluss machen«, sagt Jerry Seinfeld, »das ist wie einen Cola-Automat umzuwerfen. Du kannst es nicht mit einem Schub schaffen, du musst die Maschine ein paar mal hin und her schaukeln, und dann fällt sie um.« (Staffel 9, Folge 2, siehe YouTube, im Original: »Elaine, breaking up is like knocking over a coke machine. You can’t do it in one push, you got to rock it back and forth a few times, and then it goes over.«)
Man könnte die seinfeldsche Regel von Beziehungsenden und Getränkeautomaten als Anweisung lesen: Manche Ziele lassen sich nicht im ersten Anlauf erreichen (etwa das Öffnen eines Gurkenglases).
Man kann die Regel allerdings auch zur Erklärung und Deutung von Verhaltensweisen und Ereignissen heranziehen – und auch zur Vorhersage wahrscheinlicher Ergebnisse, unabhängig von vermeintlicher Absicht. Wenn du einen Menschen siehst, der – metaphorisch gesprochen – an einem Getränkeautomaten zerrt, und doch nur ein kleines Wackeln erzielt, bedeutet sein aktuelles Scheitern nicht, dass er auch langfristig scheitern wird.
Nicht der Touristen wegen
Fast als hätten die Berliner sich eine sozialistische Regierung gewählt, erreichen uns von dort immer wieder Meldungen von jener Art, wie sie früher im Fernsehen von Korrespondenten in Schutzwesten und Schutzmasken berichtet wurden. Der Versuch, im Taliban-Stil die freizügige Abbildung von Frauen in der Öffentlichkeit zu verhindern, war ja noch harmlos (siehe auch Essay »Islamisierung« vom 6.6.2018). Staatlich organisierte Fußballspiele mit Drogendealern (Essay vom 13.9.2019) wirken wie eine merkwürdige Melange aus Bizarro-Welt (siehe hier Essay vom 13.2.2020) und Postapokalypse (siehe hierzu Berlin).
Aktuell hörte man aus Berlin nicht nur ein bezirksbürgermeisterliches Eingeständnis, wonach Kreuzberg nicht der Touristen wegen nach Müll stinkt (Essay vom 3.9.2020) – und der Gestank vom Müll her ist nicht der einzige, im übertragenen Sinne.
In Berlin wurde jüngst ein Gesetz erlassen, dass die Polizei im Kampf gegen Clans schwächt, und sarkastischerweise nennt man es »Anti-Diskriminierungsgesetz« (Essay vom 28.6.2020). Eben erst versuchte der Berliner Innensenator (heute SPD, früher SED), eine Anti-Regierungs-Demonstration zu verbieten (siehe Essay vom 26.8.2020: »Deutschland 2020: Demo gegen Merkel-Regierung wird verboten«).
»das Verfassungsgericht beschäftigen«
Aktuell will man ein neues Gesetz zum alten Thema »böse laute Abweichler« verabschieden, und worum es in diesem Gesetz wirklich geht, ahnt man schnell, wenn man den inzwischen gewohnt neu-orwellschen Titel hört: Das »Versammlungsgesetz« wird in »Versammlungsfreiheitgesetz« umbenannt – und einerseits soll das Vermummungsverbot gelockert werden (was es natürlich schwerer macht, einzelne Antifa-Terroristen zu verfolgen), andererseits soll es möglich werden, Demonstrationen zu verbieten, die der Regierung inhaltlich nicht passen, etwa weil sie angeblich »in erheblicher Weise gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen« verstoßen (welt.de, 18.9.2020).
Führen die Berliner Sozialisten einfach nur die Tradition des »gesunden Volksempfindens« fort? (siehe Wikipedia)
Das (buchstäbliche) SED-Parteiorgan »Neues Deutschland« jubelte bereits: »Neonazis weg von der Straße« (neues-deutschland.de, 4.6.2020) – im Text selbst wird aber ein Politiker der umbenannten SED zitiert, der bereits voraussagt, dass deren neues Gesetz »das Verfassungsgericht beschäftigen« wird. Wie groß muss die Missachtung von Demokratie und Verfassung sein, wenn man Gesetze gegen seine politischen Gegner erlässt, bereits wissend, dass das offen anti-demokratische Gesetz »das Verfassungsgericht beschäftigen« werde?
Die Hineinwollenden
Die Deutschen haben länger schon eine eher wechselhafte Beziehung zur Demokratie. Im Kaiserreich gab es immerhin Wahlen für Männer ab 25 Lebensjahren. In der Weimarer Republik wurde das Wahlrecht auf Frauen ausgeweitet und das Wahlalter auf 20 Lebensjahre gesenkt. 1932 entschieden sich 33,1 der Wähler für die NSDAP (zum Zahlenvergleich: Weinbrand enthält mindestens 36 Prozent und Merkels Beste bei der Bundestagswahl 2017 erhielten immerhin 32,9). Als Hindenburg dann einem österreichischen Kunstmaler an die Macht verhalf, wurde aus der Demokratie bald nationaler Sozialismus, und dann war da was anderes, und dann wurde es in einem Teil Deutschlands derart doll demokratisch, dass alle Leute in diese Demokratie dort hinein wollten und dass man einen antifaschistischen Schutzwall gegen all die aufstellen musste, die hinein wollten, und man musste die Hineinwollenden an der Grenze erschießen, wenn sie allzu frech hineinwollten (ich habe mir das ganz genau von einem SED-ler erklären lassen).
Heute, ein Jahrhundert nach Weimar, leben wir in einer merkwürdigen neuen Regierungsform, die sich Demokratie nennt, doch deren bezahlte Verteidiger an eben dieser zu wackeln scheinen.
Warum eigentlich?
Wenn ein etablierter Politiker oder ein Staatsfunker von Demokratie sprechen, ergeben die Worte nicht selten weit mehr Sinn, wenn man »meine Macht« einsetzt, wo jenes Wort »Demokratie« missbräuchlich verwendet wurde.
Ein Wort, das man nur oft genug ausspricht, kann seine gefühlte Bedeutungskraft verlieren, wie ein Kaugummi, der seinen Geschmack verliert. Das Wort Demokratie gehört leider zu diesen Worten. Spätestens wenn sich Angela »2015« Merkel oder Heiko »NetzDG« auf die Werte der Demokratie berufen, klingt das Wort leer und schal, missbraucht und ausgenutzt.
Im Essay »Warum Demokratie?« (23.6.2019) skizzierte ich, warum für mich Demokratie weit mehr ist, als ein Schlagwort, das man dem politischen Gegner um die Rübe haut.
Können Sie spontan begründen, warum ihrer Meinung nach eine Demokratie anderen Herrschaftsformen vorzuziehen ist?
Ich will meine eigene Demokratie-Begründung aus dem Stegreif neu skizzieren.
- Nur in der Demokratie und durch demokratische Debatte kann die Gesellschaft klüger und sogar weiser sein und handeln, als die Weisheit eines Einzelnen oder eines Machtzirkels es hergibt. (Was natürlich voraussetzt, dass die demokratische Debatte nicht wie in Deutschland durch Staatsfunk und Propaganda aktiv dumm und faktenfern gehalten wird.)
- Nur in der Demokratie ist es gesetzlich gesichert, dass auch kleine Gruppen und Andersdenkende eine Stimme und eine Vertretung gegenüber der Macht finden, ohne um diese betteln oder sogar tatsächlich kämpfen zu müssen – und ohne Angst, für die abweichende Meinung »fertiggemacht« zu werden. (Deshalb ist die heutige Dämonisierung von Abweichlern durch Staatsfunk und von steuerfinanzierten, aber kaum demokratisch überwachten »NGOs« praktisch offen anti-demokratisch.)
- Nur die Demokratie baut den Widerspruch von vornherein ein; man könnte sogar sagen: Die Demokratie ist jenes politische System, in welchem jeder Entscheidung prinzipiell von allen und wirksam (!) widersprochen werden kann. (Deshalb sind jede Art von Gleichschaltung, eine auf eine einzige »erlaubte und offiziell richtige Meinung« zielende Propaganda oder Bestrebungen zur Einrichtung eines »Wahrheitsministeriums« so gefährlich und de facto offen anti-demokratisch.)
- Nur die Demokratie plant und sichert einen regelmäßigen, freien und friedlichen Machtwechsel (wodurch auch verhindert werden kann, dass sich eine schlechte Idee allzu lange hinzieht). (Deshalb ist die mangelnde Begrenzung von Amtszeiten in Deutschland so verheerend für die Demokratie. Eine Politikerin, die durch geschickte Personalpolitik und Medienbeziehungen sich ausreichend große Teile der Politik und Medienlandschaft gefügig machen würde, könnte praktisch herrschen, solange sie will, so einen wichtigen Zweck der Demokratie aushebelnd.)
Man könnte wahrscheinlich mehr und nicht minder gewichtige Gründe für die Demokratie anführen (etwa, dass Demokratien oft friedlicher und rechtsstaatlicher sind), und man könnte auch Gegenbeispiele wie auch Gegenargumente finden (etwa dass, wie in Deutschland, eine Demokratie besonders für Propaganda und emotionale Steuerung anfällig ist, wenn das Niveau der »emotionalen Bildung« niedrig ist).
Von allen Argumenten für Demokratie bleibt aber für mich dieses das erste: Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die es am ehesten der Gemeinschaft ermöglicht, gemeinsam klüger und weiser zu sein und zu handeln, als es die Klugheit selbst des klügsten und weisesten Einzelnen hergeben kann – das alles aber natürlich nur, wenn das Volk nicht von Propaganda und Staatsfunk unklug und unweise gehalten wird.
Ein Stachel im Fleisch
Seinfelds Metapher vom Getränkeautomaten, den man nicht mit einem einzigen Schubsen umwirft, sondern durch beharrliches Wackeln, passt auch erschreckend präzise als Metapher auch für die Beziehung mancher deutschen Machthaber zur Demokratie.
Eine echte Demokratie beschränkt die Macht der Mächtigen, in mehreren Dimensionen. Wer sich also nicht wirklich als Diener einer gemeinsamen Sache sieht (etwa weil er im politischen System einer Diktatur sozialisiert wurde), wessen Ziel zuerst und zuletzt seine Macht ist, wer die Demokratie etwa als einen Zug betrachtet, auf den er aufspringt, bis er an seinem »Ziel« ist, dem sind natürlich all die der Demokratie wesentlichen Beschränkungen und dauernden Widerspruchsmöglichkeiten ein Stachel im Fleisch, dessen er sich gern lieber heute als morgen entledigen würde.
»Berlin will bestimmen, für welche Inhalte man demonstrieren darf«, so lesen wir heute lapidar (welt.de, 19.9.2020), und es ist nicht nur ein sarkastischer Scherz, eher ein resignierter Seufzer, wenn man fragt: Wenn der Verfassungsschutz die Verfassung schützt, warum beobachtet er nicht zuerst die regierenden Politiker in Berlin extra scharf? Kann denn ein Politiker in Berlin nicht millionenmal mehr Schaden an der Demokratie anrichten als irgendwelche Männlein mit komischen Fahnen?
Die und nichts anderes
Der »Getränkeautomat Demokratie« wackelt. Die, die dafür bezahlt werden, ihn zu pflegen und aufzufüllen, wackeln an ihm.
Das orwellsch-gegenteilig benannte »Versammlungsfreiheitgesetz« wird wahrscheinlich vorm Verfassungsgericht scheitern. Die Politiker wissen, dass es verfassungsrechtlich problematisch ist. Es ist kein Versehen, es ist ein offener Angriff auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – es ist exakt das, was man in einem Land erwarten würde, wo die Partei der Mauermorde und Foltergefängnisse weiterhin stark ist und ihre Ex-Leute erschreckend viele Strippen ziehen.
Einst, in der Schule, im Geschichtsunterricht, da wurde uns erzählt, wie Staaten in totalitäre Diktaturen abgleiten, und wir hielten es immer für etwas Fernes, zeitlich wie geographisch.
In jüngerer Zeit erlebten wir gleich in europäischer Nachbarschaft, wie Staaten innerhalb weniger Jahre die Züge von Diktaturen annehmen.
Wir erleben heute in und an Deutschland, wie es sich anfühlt, wenn demokratische Werte sterben. Wir erleben, wie es ist, wenn eine Kanzlerin mal eben Wahlergebnisse für »unverzeihlich« erklären kann (siehe Essay vom 6.2.2020), auf dass wieder ein Mann von der umbenannten SED an die Macht eingesetzt wird. Wir erleben, wie es ist, in einem Land zu leben, wo einmal mit Vertretern der Opposition zu Mittag zu essen dich deine Arbeitsstelle kosten kann (welt.de, 25.9.2019). Wir erleben, dass ein Politiker kleine Bürger finanziell ruinieren kann, »wenn diese wahrheitsgemäß den Kaufpreis und die Darlehenshöhe seiner Villa« (Zitat @steinhoefel, 18.9.2020) berichten. Wir erleben, wie ein ehemaliges SED-Mitglied und seine Kollegen beharrlich zu versuchen scheinen, missliebige Demonstrationen verhindern zu lassen.
Natürlich kann ein Land seine Richtung wechseln, doch wenn es demokratisch und bedacht vorgehen soll, wird so ein Richtungswechsel im besten Fall mit der Trägheit eines Tankers auf hoher See geschehen. (»Deutschland steuert auf die Klippen zu und der Bremsweg ist enorm. Höchste Zeit für einen besseren Kapitän!« schrieb ich im Essay vom 10.10.2018 – Kurs und Kapitän sind weiterhin dieselben wie 2018 – das Tempo aber nicht langsamer.)
Deutschland wird sich entscheiden müssen, als Gesellschaft und Land. Wenn dieser Kurs beibehalten wird – und der Staatsfunk wird jeden Gedanken an einen Richtungswechsel mit seiner ganzen Macht angreifen und im Ansatz zu vernichten suchen – dann sollten wir uns damit abfinden, dass Deutschland bald einer Türkei oder einem Weißrussland mehr ähnelt als etwa einer Schweiz – oder sich selbst vor der unseligen Merkel-Zeit.
Länger werdende Liste
Wer ist wirklich der Adressat von Appellen an Land und Gesellschaft? Wäre es nicht zielführender, zum Individuum zu sprechen? – Nun, mein Aufruf an den Einzelnen, also auch an mich, ist ein etwas anderer als der an jene nur schwer zu greifende Gesamtheit.
Der Einzelne trägt zuerst Verantwortung für seine relevantesten Strukturen. Ich halte wenig vom Märtyrertum, und noch weniger von der Selbstopferung des Einzelnen für eine »größere Sache«, wenn nicht zuvor mindestens die »kleinen Sachen« wie natürlich zuerst die Familie in Sicherheit sind.
Der Einzelne ist verpflichtet, zuerst seine Familie und sich selbst in Sicherheit zu bringen – und zwar unabhängig von der Staatsform.
Mein Aufruf heute ist denkbar schlicht: Erwäge sehr genau, was deine Rolle in einem neuen Deutschen Sozialismus wäre. Und dann: Sprich dich für die Demokratie aus, so weit es dir ohne Gefahr möglich ist, und setze dich gegen den Zeitgeist für die Demokratie ein, für den Rechtsstaat, für neue Vernunft und für alte Gerechtigkeit. Sei ein Teil, und sei es der kleinste, wenn es darum geht, eine bessere Welt für die zu schaffen, die nach uns kommen.
Doch, zugleich, atme durch und schätze deine Lage und deine Möglichkeiten realistisch ein!
Du sollst, wenn du mutig bist, gern versuchen, jene Gestalten daran zu hindern, den »Getränkeautomat Demokratie« endgültig umzuwerfen – doch für den Plan, dass es denen eben doch endgültig gelingt und Deutschland sich einreiht in die aktuell wieder länger werdende Liste der in die Diktatur abgeglittenen Demokratien, für jenen Fall plane besser schon jetzt, wohin du springen wirst, damit es dich nicht erschlägt.
Deine erste Verantwortung ist die für deine Familie und dich, denn deine Familie und du – und nichts anderes – sind deine relevantesten Strukturen.