Dushan-Wegner

09.10.2021

Warum so träge, Ungeheuer?

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Angel Luciano
Eine neue Regierung »bildet« sich, und es fühlt sich mindestens für Zyniker nicht nach dem Sinne an, in welchem der Gebildete sich »bildet«, sondern mehr so nach dem Sinne, in welchem der saure Magen ein Problemchen »bildet«.
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Der Staat, so heißt es bei Nietzsche, er sei das kälteste aller kalten Ungeheuer, und dazu noch ein Lügner: »Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ›Ich, der Staat, bin das Volk.‹«

Eine Regierung bildet sich in Deutschland, und ich habe einen Zyniker fragen hören, ob das bedeutet, dass diese Regierung endlich gebildet sein wird, also im Sinne klassischer Bildung, mit Römern und Griechen und Alpha und Omega et cetera, oder ob es mehr eine Bildung ist in dem Sinne, wie sich ein Problemchen im Magen bildet, wenn die Magensäure zu viel und die Schutzschicht zu dünn ist.

Unsere Logik ergab, dass es besser werden müsste, wenn ein Ende der Merkelära abzusehen wäre. Jedoch, wir beginnen zu ahnen, was es bedeutet, dass Merkel »lediglich« unsere Schwächen nutzte – auch wenn die da geht, bleiben noch immer unsere Schwächen.

Wenn es denn doch wahr sein sollte, dass wir nicht nur das Volk sind, sondern eben auch der Staat, wenn Hobbes´ Sinnbild des Leviathans eben doch wahr wäre, dann stellen wir fest: Dieses »kälteste aller Ungeheuer«, es ist viel träger als wir hofften – und genauso träge, wie zu erwarten gewesen wäre.

Was soll denn auch das Programm der neuen Regierung sein? Das neue Gesicht unseres Staates, wohin wird es blicken, wie wird es dreinschauen? (Wird es wieder das böse »freundliche Gesicht« sein, dass den Fremden angrient und die eigenen Kinder verspottet?)

Wir würden gern den Staat fragen, doch Freund Friedrich warnt uns: »Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt, und was er auch hat, gestohlen hat er’s.«

Mit Kevin und Annalena

Familien sitzen am sprichwörtlichen Frühstückstisch zusammen, der selbstredend auch ein Couch-, Mittags- oder Kneipentisch sein kann, und sie fragen sich: Wie weiter? (Oder auch: Was jetzt?!)

Was haben wir vom Staat zu erwarten, was wird neu sein, was wird bleiben? – An Bauchweh werden jene leiden, die bei Nietzsche weiterlesen, denn er verspricht ihnen dies: »Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller-›das Leben‹ heisst.«

Vor vier Jahren noch pries ich Herrn L., dass er sich der »Jamaika-Koalition« unter Frau M. entzog, und damit dem, was ich den Suizidalismus nannte (siehe meinen Essay vom 20.11.2017: »Suizidalismus – ein Name für diese Epoche«). Nun will und wird wohl auch derselbe Herr eine Koalition mit SPD und Grünen eingehen (siehe bild.de, 9.10.2021). Mein Lob ist spätestens seit Thüringen verstummt. Ist der Suizidalismus des Westens, wie angeblich der Klimawandel, unausweichlich? (Notiz: Februar 2020, im Essay »Kann Merkel-Deutschland sich ›Demokratie‹ nennen?«, postulierte ich, die FDP sei »erledigt«. Zumindest machtpolitisch lag ich wohl falsch – ob die FDP aber noch gesellschaftliche Relevanz jenseits von »eine der Blockflöten, die doch alle austauschbar sind« besitzt, das überlasse ich Ihnen; wie gesagt: die verhandeln mit der Kevin-SPD und den Annalena-Grünen, und wollen mit diesen die wirtschaftlich wichtigste Nation Europas regieren – wie ernst kann man das alles noch nehmen?)

Wer war Argos?

Sieht der Prophet denn gar keine Hoffnung für uns, das Volk, den Staat? Waren da denn nicht die Aufpasser mit Presseausweis, die mit Argusaugen das Treiben der Durchtriebenen prüfen?

Ach nein, die wissen heutzutage nicht, wer Argos war. Die sind eingeschläfert zum Flötenspiel der sicheren Gehaltsschecks, so sie denn nur auf genau die Art »irren«, in welcher in ihrer Redaktion zu »irren« der Brauch ist.

Der Herr Nietzsche sagte über diese Figuren: »Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.« (Der Vergleich der Galle mit den Erzeugnissen des Journalismus scheint mir unpassend; die Galle dient der Fettverdauung, der moderne Journalismus ist selbst zugleich Symptom wie Treiber der Verfettung von Geist und Gesellschaft.)

Einen Wecker

Betrachtet man die Sache mit Nietzsche, so ist der Staat ein kaltes Ungeheuer, ein Lügner und ein Hort bitterer Säfte. Ich sehe diese Regierungsbildung, und ich möchte diagnostizieren: Dieser Staat wirkt bald wie ein träges Ungeheuer.

»Warum so träge, Ungeheuer?«, so frage ich, »wo ist die Lust? Ist dir denn auch die letzte Sprungkraft versiegt, du fußlahmes Ungeheuer? Wo bleibt deine Wut, wo dein Zorn, wo dein Hunger nach dem Besseren, dein Durst nach der praktischen Vernunft?

All ihr kleinen Ungeheuer, welche ihr gemeinsam dieses Volk und damit das Material dieses Staates bildet, wo ist euer entschlossener Wille, der aus Möglichkeit und Mut eine neue Realität schafft, mit Glück wohl auch eine bessere

Der Staat ist ein kaltes Ungeheuer, und heute, wie sich eure Regierung neu bildet, seid ihr ein reichlich müdes Ungeheuer dazu. Es könnte einem glatt bitter aufstoßen, ja die Galle könnte einem hochkommen.

Nein, ungeheuerlicher musst du wahrlich nicht sein, du Volk, du Staat, aber beweglicher wäre doch gut!

Lass dich nicht von der großen Müdigkeit überwältigen. Nicht dass du noch für immer entschläfst! Wenn du dich für eine Weile zum Schlummer des Gerechten legst, so stell dir doch einen Wecker.

Weiterschreiben, Wegner!

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