Dushan-Wegner

01.04.2018

Wovon reden Menschen, wenn sie von Gott reden?

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Billy Huynh
Mit dem Zuzug gläubiger Menschen nach Europa werden sich auch westliche Spaß-Atheisten fragen müssen: Wovon reden Menschen, wenn sie von Gott reden? (Und nein, »Nichts« genügt nicht als Antwort.)
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Heute muss sich im Westen oft derjenige verteidigen, der annimmt, dass es Gott gibt. Doch das ist praktisch gesehen nicht unbedingt fair! – Wenn ich im Alltag sage, dass bei mir daheim ein Herd steht und ein Bett, dann werden Sie es mir glauben, ohne es gleich prüfen zu müssen. Selbst wenn ich sagte, ich hätte Hunger oder mein Zeh wäre gebrochen, dann würden Sie mir beides glauben, ohne gleich Untersuchungen darüber anstellen zu wollen, was mich zu solchem Irrtum verleitet.

Stellen Sie sich vor, jemand würde auf eine solche Feststellung antworten: »Aber kannst du auch erklären, was ein Herd ist? Kannst du sagen, wie ein Kühlschrank funktioniert? Belege mir, dass du Hunger hast! Beweise mir, dass dein Zeh gebrochen ist! Du kannst es nicht? Ha, dann besitzt du keinen Herd und dein Zeh ist ebenso gesund wie meiner!«

Keinen Zeh gefunden

Ein Zeh ist nun nicht wirklich mit einer in Mythen überlieferten Schöpfergestalt vergleichbar, da können wir uns schnell einig werden. In der Vergangenheit wurden viele andere Zehen tatsächlich von Orthopäden, Schuhverkäufern und anderen Fußfreunden untersucht, und manchmal waren diese Zehen eben gebrochen. Es scheint vernünftig, anzunehmen, dass wer von einem schmerzenden Zeh spricht, die Existenz dieses Zehs nicht nur halluziniert, sondern sich auf einen realen, physikalisch existierenden Zeh bezieht.

Mit einer Schöpfergestalt ist es schwieriger. Ein Gott lässt sich nicht neutral begutachten, und selbst die, die uns versichern, mit Ihm gesprochen zu haben, liefern dann doch sehr unterschiedliche Berichte über die Worte, die Er ihnen mit auf den Weg gegeben haben soll.

Ich will an dieser Stelle eine nützliche Parabel wiederholen: Ein Betrunkener kriecht auf allen Vieren um eine Straßenlampe. Ein Polizist fragt ihn, was er da tue. »Ich suche meinen Schlüssel!«, sagt der. »Wo haben Sie den Schlüssel denn verloren?«, fragt der Polizist. »In dem Gebüsch da hinten«, sagt der Kriechende. »Und warum suchen Sie dann hier?«, wundert sich der Polizist. »Ist doch klar«, ruft der Betrunkene, »dort ist es dunkel und hier unter der Lampe ist Licht!«

Wenn heutige Wissenschaftler und Bezahldenker über Gott zu reden ansetzen, erinnern sie ein wenig an den Betrunkenen in der Parabel. Da, wo sie suchen wollen, ist er nicht, also brechen sie ihre Suche ab – mit wechselnden Begründungen. Die einen sagen, es gäbe Ihn nicht. Die anderen sagen, Er wäre nur ein chemisch-elektrischer Vorgang des Gehirns oder nur ein Mem, also eine Informationseinheit des kollektiven Bewusstseins, und so fort. – Mir ist das zu dünn.

Buchstäblich Milliarden von Menschen waren und sind der festen Überzeugung, dass wenn sie in ihrer jeweiligen Sprache »Gott« sagen, dass wenn sie sich auf die Knie werfen oder ihre Arme in Richtung des Himmels strecken, wenn die einen ihren Kopf aus Respekt vor dem Allmächtigen bedecken und die anderen aus selbem Grund ihre Kopfbedeckung abnehmen, sie glauben alle, dass es etwas gibt, worauf sie sich beziehen mit dem Wort »Gott«.

Kein Zweifel, ich kenne auch eine Zahl von Leuten, die überlegen grinsend abwinken und mit lockerer Zunge verkünden, dass die Gläubigen sich eben alle kollektiv irren. Die Selbsteinschätzung mancher westlicher Städter, klüger zu sein als »all die Weisen aller der Zeiten«, diese Tastaturhelden, die sich in ihrer Überlegenheit doch nur deshalb so stark fühlen, weil sie die beschützte Plastikwelt ihrer Cafés, Seminare und Redaktionsstuben einigermaßen souverän zu navigieren wissen und sich auf wenig mehr basierend in der Illusion wiegen können, die echte Welt da draußen und die wirklichen Abgründe menschlicher Existenz seien ebenso kaugummifarben und legoblockig wie ihre geordnete Miniwelt, solche Selbsteinschätzung ist kurios und niedlich, aber wenig interessant und noch weniger erkenntnisfördernd.

Was manche Städter für »Atheismus« halten, scheint mir mehr eine Ablenkung auf hohem Niveau zu sein. Zeigen Sie mir doch einen glücklichen Atheisten, der seinen Atheismus nicht durch Unterhaltung, Konsum, diverse Abhängigkeiten (heute z.B. Smartphones) und Dauer-Kultur-Berieselung täglich neu am Leben halten muss! Der Glaube ist dem Menschen angeboren, wie auch die Liebe und das Atmen. Dem Menschen muss es erst antrainiert werden, nicht zu glauben.

Neue Situation

Ich habe ja gar nichts gegen einen durch Spaß und Ablenkung am Leben erhaltenen Atheismus. Aus der aufgerissenen Spannung zwischen Sehnsucht und Entsagung entsteht interessante Kunst. Wir lernen im schmerzlichen Mangel oft mehr über uns als in der Erfüllung. Es sind nicht die glücklich Verheirateten, sondern die mit dem gebrochenen Herzen, welche die schönsten Oden an die Liebe singen. Es sind nicht die lebenszufriedenen Gläubigen, sondern die an ihrer großen Einsamkeit zerbrechenden Grübelseelen, die menschliches Verlorensein am eindringlichsten beschreiben.

Wegen mir hätte es noch lange so weitergehen können, gern auf immer. Er war ja durchaus unterhaltsam, unser Atheismus des schillernden Abgelenktseins.

Doch, die Situation ist neu, also müssen wir aufs Neue abwägen.

Die deutsche Regierung und diverse Stiftungen motivieren einen neuen Import von Religiosität, welche das menschliche Bedürfnis nach einem Gott sehr bereitwillig füllt – und sie wird dabei von der Politik unterstützt.

In NRW etwa plant die CDU-FDP-Regierung, eventuell mit Erdogans Türkisch-Islamischer Union zu kooperieren, und den Gott und die Moralität des Islam in den Schulen zu unterrichten.

NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) legt dabei eine erfrischende Naivität an den Tag:

»Die Ditib muss sich entscheiden, ob sie eine politische Organisation sein möchte oder eine Religionsgemeinschaft.«
Joachim Stamp, via welt.de vom 06.07.2017

(Ich bin nicht sicher, ob es das ist, was der Zen mit »Beginner’s Mind« meint.)

»Ich bin der Herr, dein Gott«, lautet das erste Gebot des Dekalogs, und wird dann spezifiert durch »der dich aus Ägypten geführt hat«. Nicht der träumerische PR-Talking-Point »Liebe deinen Nächsten« sondern »In Hoc Signo Vinces« war der Satz, mit dem das Christentum zu sich selbst wurde, und dieses Signum war das Kreuz Christi. »Es gibt keinen Gott außer Gott« ist der Beginn des muslimischen Glaubensbekenntnisses, und wird dann fortgeführt in der Angabe des Propheten. Macht beginnt noch immer mit Religion, und die Religion westlicher Macht beginnt mit Gott.

Von Blaise Pascal stammt der Gedanke, dass der Mensch in sich eine Lücke in der Form Gottes habe und nichts außer Gott sie wirklich füllen könne.

Aus der Aufklärung stammt die Feststellung, dass Religion zwar ihren sozialen Nutzen haben mag, die Annahme eines (katholisch-christlichen) Gottes (der aufpasst, dass wir nicht fremdknutschen und Freitags keinen Fisch essen) doch etwas Albernes hat.

Ich möchte folgende Thesen in den Raum stellen:

  1. Der Westen hat sich spätestens seit der Industrialisierung durch Konsum und Kultur zunehmend von der zutiefst menschlichen Sehnsucht nach Gott abgelenkt. Da ist gar nichts Schlechtes dabei, es ist auch durchaus charmant, den Besuch der güldenen Rituale auf Wintersonnenwende, Geburt und Begräbnis zu beschränken – es wird aber nicht mehr funktionieren.
  2. Europa wird durch den steigenden Anteil aktiv Gläubiger in Deutschland und Europa neu in die Frage gestoßen, wer sein Gott sei. (Vielleicht schwingt hinter »Gehört der Islam zu Deutschland« eine andere, viel komplizierte Frage: Wer ist dein Gott?)
  3. Christliche Kirchen in Deutschland (die sowieso immer mehr wirken wie an die jeweiligen Wohlfahrtskonzerne angeschlossene PR-Abteilungen denn wie theologisch und rituell firme Bewahrer und Verteidiger eines Glaubens) haben ein vollständig beliebiges und damit unbrauchbares Gotteskonzept.
  4. Wenn Menschen von Gott reden, reden sie nicht von nichts.
  5. Es wäre absurd, aus Angst vor dem Mittelalter sich zurück ins Mittelalter zu begeben. Dass Menschen wieder von einem Gott reden wollen (werden) heißt nicht, dass sie zurück ins Mittelalter wollen.

Aus diesen Thesen ergibt sich der Auftrag, tiefer nachzudenken, wovon Menschen reden, wenn sie von Gott reden. Wir müssen darüber nachdenken, wir müssen offener sein und zugleich den Verstand niemals dem Wunschdenken opfern.

Man kann und sollte es diskutieren. Wir sollten dringend zu Antworten kommen, die mehr als schwärmerisches Handwedeln sind. Wenn Menschen von Gott reden, reden sie nicht von nichts. Wovon aber reden sie? Das gilt es herauszufinden.

Nachtrag: Sie, meine Leser, haben viele wertvolle Antworten zu diesen Fragen und Thesen geschrieben. Eine kommentierte Auswahl habe ich im Text Was Sie, meine Leser, geschrieben haben zur Frage nach »Gott« zusammengestellt.

Weiterschreiben, Wegner!

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