Dushan-Wegner

17.01.2021

Zwang und die Kunst der Entscheidung

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Joshua Gresham
Zwangsimpfung, Zwangseinweisung, Zwangs-Ladepausen (und weiterhin: Zwangsgebühr). Wir denken geradezu wehmütig an die Zeit zurück, als wir uns über »Verbote« aufregten – das neue Wort des Tages ist »Zwang«.
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»Vor allem aber achtet scharf«, so klingt es im Leitspruch des Brechtschen Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, »dass man hier alles dürfen darf (wenn man Geld hat)«.

Neben all den übrigen brechttypischen Erkenntnissen über den Menschen, sein Schicksal und die Brüche seines Strebens lese (und höre!) ich das Stück als Warnung vor der naiven Zügellosigkeit, vor der unbedachten Entgrenzung, die ja nie eine echte Entgrenzung ist – oder sein kann, weil sie die einen Fesseln gegen andere Fesseln tauscht, wie schon die Einschränkung in der Klammer jenes Leitspruchs mehr als nur andeutet.

Es fühlt sich ja schon länger so an, als ob jene Gruppe, die sich politisch im selben Lager wie Brecht wähnt, die Lehren aus Mahagonny etwas zu gründlich lernte (wir müssen ja nicht einmal dazusagen, welche Partei wir meinen, wenn wir von der »Verbotspartei« reden).

Jedoch, wer hätte gedacht, dass wir noch nostalgisch zurückblicken werden auf die Zeit, als »nur« die Verbote im Raum standen. Verbote sind ein Thema von gestern, heute sind wir weiter, heute reden wir von Zwang.

Nein, wir meinen hier nicht einmal nur die »Zwangsgebühr«, was der im Volk übliche Name für die deutsche Propagandasteuer ist – inzwischen lesen wir auch in politiknahen Zeitungen immer häufiger das böse Z-Wort.

Ein großes Thema sind heute Zwangsimpfung und Impfzwang. Politiker bestreiten, dass es zu Zwang kommen wird, doch ihre Worte klingen ähnlich schal wie die von der Zensur, die es angeblich nicht gibt (siehe auch Essay vom 18.12.2020: »Vater macht das Licht aus«) – man bestreitet schlicht das Offensichtliche, wie das Kind, das mit dem Keks in der Hand erklärt, es habe sich keine Kekse genommen, nur um glatt nochmal in den Keks zu beißen.

Als erste Bedeutung des Wortes »Zwang« gibt der Duden an: »Einwirkung von außen auf jemanden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt«, wobei natürlich auch wirtschaftliche Schäden oder soziale Isolation eine Form von Gewalt darstellen können.

Wenn Politiker bestreiten, es würde Zwang ausgeübt, weil der Gezwungene doch stets eine weitere Möglichkeit habe, so erfinden sie implizit und ad hoc eine für sie hilfreiche Neudefinition von Zwang, wonach eine Situation erst dann »Zwang« zu nennen sei, wenn es physikalisch, metaphysisch und logisch keine andere Handlungsmöglichkeit gibt. Es erinnert an jenen Diktaturen-Witz, wonach jeder frei sei, seine Meinung zu äußern, er müsse dann nur mit den »Konsequenzen« leben.

Wird es also »Impfzwang« in Deutschland geben?

Konkret(er) gefragt: Wird man von der Polizei körperlich festgehalten, während einem die Spritze in den Arm gerammt wird, wie sehr man sich auch wehrt? Nun, es fällt einem täglich schwerer,  »selbstverständlich nicht!« und »unvorstellbar!« zu antworten.

Deutschlands peinlichster Minister, ein Herr Heiko M., erklärt: »Geimpfte sollten wieder ihre Grundrechte ausüben dürfen« (welt.de, 17.1.2021). Es wird eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geben, die Geimpften und die Ungeimpften. Die Geimpften erhalten volle Bürgerrechte wie Besuch öffentlicher Orte – die anderen eben nicht. Ich bin ehrlich gespannt, wie man die zwei Menschenklassen praktisch voneinander unterscheidet (und ich verweise einfach mal auf meinen Essay vom 9.5.2020: »Das Malzeichen des Tieres« sowie den Essay vom 15.10.2020: »Das Malzeichen der App« (URL: dushanwegner.com/666/)).

Ja, im Namen des Virus hat die Politik sich selbst die »Grundlage zur Ermächtigung« (Essay vom 17.11.2020) gegeben, ganz offen von diesem oder jenen Zwang zu reden. Erste Länder planen bereits, »Quarantänebrecher« via Zwangseinweisung wegzusperren (welt.de, 17.1.2021).

Im Essay »Gegen Links, für die Menschlichkeit« vom 18.1.2020 schrieb ich: »Jedes Jahr zeichnet eine stramm linke Jury ein ›Unwort des Jahres‹ aus, und es ist recht offen ein Indikator dafür, wobei ›die da oben‹ sich ertappt fühlen«. Es gilt heute wieder und so klarer wie selten: Dieses Jahr fühlten sich »die da oben« offensichtlich durch gleich zwei Begriffe ertappt, und eines davon war »Corona-Diktatur« (siehe etwa dw.com, 12.1.2021).

Mancher Zwang hat nichts mit dem chinesischen Virus zu tun (welches Genossin Merkel, nachdem jenes Virus angeblich mutiert ist, dankbar als das »britische Virus« etikettiert; siehe etwa faz.net, 15.1.2021). Mancher Zwang hat mit dem Versagen der regierenden Ideologen zu tun. Auch bei der Strom- und Autopolitik wird wieder einmal wahr, was jene vorhersagten, die (auch) dafür als »Rechtsnazipopulistenfaschisten« verunglimpft wurden. Endlich begreift auch die Regierung, dass ein Anstieg des Anteils von Elektroautos beim aktuellen Stand des Netzausbaus die Netze überlasten wird, und also plant sie »Zwangs-Ladepausen für Elektroautos« (welt.de, 17.1.2021 (€)) (in der Propagandasprache der Regierung heißt die zwangsweise Unterbrechung des Ladevorgangs »Spitzenglättung« – viel Spaß dabei, dem Kunden oder dem Chef zu erklären, dass Sie wegen »Spitzenglättung« drei Stunden zu spät ankommen).

»Die Merkel-Ära ist wiederholtes Politikversagen mit Ansage«, so schrieb ich im Essay »Hoffnungsloser Optimist« vom 2.1.2021, und natürlich meinte ich die »Ansage« im polemischen und übertragenen Sinne, also etwa: »Es hat sich angekündigt.« – Nun, die Strom- und Autopolitik ist ein Versagen mit buchstäblicher Ansage: Man kündigt an, dass man versagen wird – und welche Zwangsmaßnahmen man plant, um das absehbare eigene Politikversagen wieder abzufedern.

Wie aber sollen die Bürger mit dem Zwang umgehen?

Nun, nach einigen Jahrzehnten der relativen Sorglosigkeit sind dies Zeiten, die uns zwingen, zu »Philosophen in eigener Sache« zu werden. (Ja, zwingen – denn wenn wir es nicht tun, drohen wir am Irrsinn selbst irre zu werden.)

Unter Menschen, die in (West-) Deutschland sozialisiert wurden, ist die Verdrängung dieser und anderer Realitäten eine nicht seltene Reaktion. Man verdrängt, dass der Zwang eben ein solcher ist, man nimmt es als »alternativlos« hin (es ist ja auch nicht ein »Zwang«, dass wir atmen oder essen müssen, es ist »alternativlos«).

Als Gegenstück zur Verdrängung sehen manche Bürger den Protest in Worten. Einst schimpfte man am Stammtisch, heute schimpft man in Internet-Kommentarspalten und auf Social-Media-Plattformen (bis man zu frech und/oder erfolgreich wird und sie einen wegzensieren). Es ist verständlich, und ich beteilige mich ja selbst daran, wenn es mich in den Fingern juckt, doch es ist – seien wir stets ehrlich! – erstens fruchtlos, und zweitens könnte es »die« sogar stärken statt zu schwächen, denn wenn man »Dampf ablässt« ist die zwangsläufige (und beabsichtigte!) Folge, dass anschließend weniger »Druck auf dem Kessel« ist.

Ich weiß nicht, ob ich zur Verdrängung unfähig oder schlicht nicht gewillt bin, doch ob es nun »nature« oder »nurture« ist (eine ewige Debatte darüber, ob und inwieweit die Eigenschaften des Menschen ihm angeboren oder anerzogen sind), ich empfände wenig Freude am Versuch, mit viel Mühe zu leugnen, was zu leugnen doch einen täglich weiteren (und für sich selbst immer schmerzhafteren) Spagat erfordert.

Als Brechts »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« uraufgeführt wurde, spielten sich Szenen ab, wie wir sie auch heute wieder in Deutschlands Vorlesungssälen erleben oder bei Bücherlesungen von Nicht-Linken erleben können. »Aktivisten« (damals: NSDAP) sorgten für Tumulte, und sie wollten das Stück verhindern, weil es gegen das ging, was sie als ihre Moral empfanden.

Das Mahagonny des Stückes endet im Chaos. Wichtige Charaktere werden vor Gericht angeklagt, unter anderem wegen indirekten Mordes, und natürlich wegen Verstoßes gegen das wichtigste der Verbote, nämlich jenes, wonach es verboten sei, kein Geld zu haben.

Dies ist nicht Mahagonny, dies ist auf gewisse Weise ein »Anti-Mahagonny«, doch wir wissen (wie etwa auch von den Schlägerbanden der sogenannten »Anti-Faschisten«), dass im »Anti« auch stets etwas Spiegelbildliches enthalten ist. Ich glaube nicht, dass diese Zeiten in Chaos enden werden – sie werden ja bereits heute in eine ganz neue Ordnung überführt (siehe auch Essay vom 11.7.2020: »Chinas Kolonie«).

Wenn ich mich aber der Verdrängung verweigere, und wenn ich zugleich alle meine Hoffnung und Energie aufs Wüten und Faust-gen-Himmel-Schütteln beschränken will, was bleibt übrig?

Erkennen wir den Zwang als Zwang an, und »Zwang« bedeutet, dass es mehr als eine Entscheidungsmöglichkeit gibt – und in der Regel, dass sie alle unangenehme Konsequenzen haben.

Sind wir noch freie Bürger zu nennen? Dort und darin, wo Zwang ausgeübt wird, sind wir natürlich nicht frei. Im Essay vom 1.11.2017 gebe ich an: »Ich fühle mich »frei«, wenn ich zwischen mehreren (potentiell) »befriedigenden« Möglichkeiten wählen kann.« – Nein, der Gezwungene ist natürlich mindestens im Gegenstand des Zwangs nicht frei zu nennen.

Wenn wir also unter Zwang entscheiden müssen, was sollen wir tun?

Ich lege Ihnen meine provisorische Antwort (sind nicht alle ernstzunehmenden Antworten provisorisch) auf diese heute so wichtige Frage vor, und wie Sie es erwarten würden, hat sie mit (hoffentlich) kühler Logik und Relevanten Strukturen zu tun.

In einer Zwangslage entscheiden wir zwischen mehreren Möglichkeiten, und jede dieser Möglichkeiten schwächt eine uns relevante Struktur. Da aber das Stärken  relevanter Strukturen unsere deskriptive Definition von gut ist, wollen wir auch in der Zwangslage eine Entscheidung treffen, die möglichst gut ist.

Eine entsprechende Regel könnte also lauten: Wenn du unter Zwang handelst, wenn du also zwischen Möglichkeiten entscheidest, von denen eine jede absehbar und kurzfristig dir relevante Strukturen beschädigen wird, dann wähle den Weg, der nach deinem besten Wissen später, also langfristig besser das schützen wird, was dir wirklich wichtig ist.

Oder, kürzer: Wenn du schon heute nicht frei bist, dann handle zumindest so, dass du morgen frei sein wirst – und so, dass deine Kinder übermorgen frei sein werden.

Weiterschreiben, Wegner!

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