Freunde, ich lese eine Schlagzeile über Herrn Orbán. Ich lese sie beim geschätzten Kollegen, dessen Name auf Tschechisch »der Leise« bedeutet und der doch ganz und gar nicht leise ist, der also eher »Hlasity« heißen sollte, und nicht »Tichy«.
Die Schlagzeile tichyseinblick.de, 01.07.2024 lautet: »EU-Parteienfamilie ›Patriots for Europe‹ – Schafft Orbán seinen größten Coup?«
Eine neue konservative Parteienfamilie soll »aus dem Hut gezaubert« werden, so heißt es.
Nun bin ich, wie treue Leser gewiss merken, nicht der enthusiastischste EU-Kommentator. Das liegt schlicht daran, dass ich bisweilen am Gefühl leide, von Madeira bis Zypern und von Juncker bis von der Leyen so gründlich belogen zu werden. Wozu also Aufregung verschwenden? Wir sollen Energie sparen, so höre ich, also will ich mich daran halten. EU-Politik ist eine Kombination aus dem Zauberer von Oz und Inception: Wenn es gelingt, einen Vorhang zu heben, auf der Suche nach der eigentlichen Macht, stößt man doch nur wieder auf einen weiteren Vorhang.
Hurra, eine Familie!
Aber gut, diesen Sonntag kündigten Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der österreichische FPÖ-Chef Herbert Kickl und dazu auch der Vorsitzende der tschechischen ANO-Partei, Ex-Ministerpräsident Andrej Babis, in Wien die Bildung einer neuen europäischen Parteienfamilie an.
»Patriots for Europe« soll diese Familie heißen.
Wir als Freunde alles Klugen und Menschlichen freuen uns ja über jeden positiven Vaterlandsgedanken. Wir sollten uns also freuen, wenn sich derart freundliche Nachbarschaften der Nationen zusammenfinden.
Mein Bauch grummelt hier und stellt Fragen. Eine Frage ist eine Aussage mit einer inhaltlichen Leerstelle, deren Vervollständigung verlangt wird. Und diese Wiener Ankündigung hat Leerstellen.
Kleine und größere Leerstellen
Da wären zunächst die kleineren Fragen, die kulturellen und beiläufigen, die wir notieren, aber unbeantwortet lassen können. Etwa die scherzhafte Frage, ob da eine neue Österreich-Ungarn-Achse begründet werden soll. Oder das kulturkritische Seufzen über die englische Namensgebung »Patriots for Europe«. Jaja, ist eine »Weltsprache«, aber in der EU spricht derzeit nur Irland englisch. Nun ja.
Aktuell befinden sich die »Patriots for Europe« im Stadium der Ankündigung. Wie man hört, will die neue Fraktion im EU-Parlament vor allem Mitglieder von der »ID« abwerben. Dort ist die französische Rassemblement National die stärkste Kraft, sprich: Marine Le Pen. Die ID ist ohnehin personell geschwächt, seit die deutsche AfD diese Fraktion verlassen musste. Mit einem Überlaufen der Rassemblement National wäre sie quasi bedeutungslos – und die »Patriots for Europe« würden sich als neue rechtskonservative Kraft in der EU darstellen.
Doch warum will man die AfD überhaupt draußen halten? Angeblich, so lese ich, wegen der »Skandale« der AfD. Le Pen etwa soll angeblich den erlogenen Deportations-Skandal geglaubt haben. Doch ist das wirklich der Grund?
Ich frage mich, was die AfD von anderen als »Rechte« und »Populisten« etikettierten Parteien unterscheidet. Da ist eine größere Leerstelle in der Begründung. Ich grüble vor mich hin – und plötzlich bietet sich eine Lösung an, gewissermaßen eine »Verschwörungstheorie gegen Rechts«.
Finanzorientierter Patriotismus?
Da ist ja dieser Unterschied: Ungarn und Tschechien sind EU-Nettoempfänger (de.statista.com). Deutschland ist der mit gruseligem Abstand größte Nettozahler. Weder Orbán noch der Unternehmer Babiš wollen ihr Land wirklich vom deutschen Geld abschneiden. Genau das will aber die AfD – was sie bei den »Patrioten« der übrigen Länder potenziell unbeliebt macht. Den hehren Worten konkrete Verantwortung für die eigene Wirtschaft folgen zu lassen, so weit geht der Patriotismus mancher europäischen »Patrioten« nicht.
Le Pen aber könnte demnächst tatsächlich in französische Regierungsverantwortung gelangen, und Frankreich ist der zweitgrößte Nettozahler der EU (wenn auch in absoluten Zahlen nicht mal halb so geschröpft). Was also motiviert Le Pen zu ihrer Ausschließeritis? Ich hätte ja eine Verschwörungstheorie parat, doch sie wäre wenig mehr als nur geraten.
Wird wirklich eine EU-Brandmauer von »Rechten gegen Rechts« hochgezogen werden? Wer ist es, der hinter den Kulissen tatsächlich den Bau betreibt? Oder ist auch die Brandmauer nur Kulisse und Fassade, hinter der längst stillschweigende Übereinkünfte vereinbart wurden? Ich lade euch ein, eure Theorie zu diesen und allen verwandten Themen als Kommentar bei YouTube ins digitale Wachstäfelchen zu kratzen.
Hinter dem Vorhang ist vor dem Vorhang
Kinder, es ist die große Politik. Wenn sich ein Vorhang hebt, hängt dahinter gleich der nächste in der Kulisse. Politik als postmodernes Kasperletheater, und wir fühlen uns wie Kinder – wieder.
Die Klugen kümmern sich, so will man uns versichern. Und den Konservativen und, ja, »Rechten« in Europa will man ebenfalls versichern, dass »die Klugen« sich kümmern – die »Klugen« in Form der »Patriots of Europe«, solange die Konservativen, um die man sich kümmern will, eben nicht Deutsche sind.
Freunde, die Nachrichten verwirren mich gerade ein wenig. Zu viele Lücken und Fragen. Sagt mir, habt ihr noch Kraft zum Protest?
Wer es verdient
Ich will ja lieber nicht für jemanden protestieren, wie die blöden Schafe es tun, die scheinbar gegen die Opposition aufmarschieren, aber in Wahrheit nur für die Absicherung der Pfründe des Regierungspersonals laut werden. Aber ich weiß heute nicht einmal sicher, gegen wen ich protestieren soll – sprich: wer es verdient, dass ich gegen ihn laut werde.
Sollte ich als Patriot nun gegen Patrioten sein? Die neue Moral ist bald zu komplex für den kleinen Mann.
Dies ist das beste Deutschland aller Zeiten, mindestens seit der Revolution. Das beste Europa aller möglichen Welten. Man weiß halt nur nicht, welche Wahrheit wahr ist, welche Werte noch gelten.
Große Politik, gute Unterhaltung
Mancher Wert klingt wie Hohn, manche Wahrheit klingt nach allem Möglichen – nur nicht wahr. Doch solange wir gut unterhalten sind, was macht das schon?
Ich seufze und versichere dem inneren Kasperletheater in mir: Du musst es nicht verstehen, Kind – es ist die große Politik.