Ich denke dieser Tage immer wieder an ein Gespräch zurück, das ich vor Jahren auf einer abendlichen Fahrt mit der Kölner Linie 18 führte, mit einem Studienkollegen.
Wir diskutierten die Möglichkeit von Wahrheit, und mir fiel, ich weiß nicht mehr warum, diese Frage ein: »Wenn du die Wahrheit wüsstest, was würdest du tun?«
Der Studienkollege sagte: »Ich würde es niemandem erzählen.«
»Hmm«, dachte ich damals, und dann wandte sich unsere Aufmerksamkeit wieder anderen Angelegenheiten zu.
Heute stelle ich mir diese Frage wieder. Immer wieder.
Was ein Zugfahrplan ist
Lasst mich schnell zusammenfassen, was die Wahrheit ist.
Die beste Antwort der Philosophie auf das Wesen der Wahrheit ist die Korrespondenztheorie: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit. Ein Satz ist wahr, wenn die Aussage darin mit der Realität korrespondiert.
Auf Lateinisch: »Veritas est adaequatio intellectus et rei.« – »Wahrheit ist die Übereinstimmung von Intellekt und Realität.«
Das ist aber natürlich die Antwort auf eine etwas andere Frage, nämlich: Von welcher Art ist die Wahrheit? (Also etwa wie wenn du im Bahnhof fragen würdest, wann der nächste Zug fährt, und jemand dir erklärt, was ein Zugfahrplan ist.)
»Was ist die Wahrheit?«, bezieht sich im Alltag üblicherweise auf die Inhalte, sprich: Welche Aussagen korrespondieren mit der tatsächlichen Wirklichkeit?
Bereits Aristoteles verhandelte, mit welcher Art von Wirklichkeiten eine Aussage korrespondieren kann. So ist ein logischer Schluss etwa eine logische Wahrheit. Es existiert also eine logische Wirklichkeit, mit welcher ein logischer Schluss korrespondiert.
Christen erweitern die Wirklichkeiten, welche eine Wahrheit beschreiben kann, um die unsichtbaren Dinge, um die Wirklichkeit einer göttlichen Welt, der Engel, der Seelen und so weiter. Für Jesus war das Reich Gottes stets eine bereits präsente Wirklichkeit.
(Übrigens: Wenn Jesus sich als »die Wahrheit« bezeichnet, meint das griechische ἀλήθεια die offenbarte, vollkommene Wirklichkeit. In Menschwerdung und Eucharistie ist diese Wahrheit gegenwärtig: Der Logos ist hier nicht Zeichen für etwas anderes – er ist die Wirklichkeit selbst.)
Und welche nicht
Wie viele Arten und Ebenen der Wirklichkeit man auch annimmt, stets ist jene Aussage die Wahrheit, die mit der Realität übereinstimmt.
Und eigentlich sollte jeder Mensch und jede Gesellschaft stets bemüht sein, mehr die Wahrheit zu sagen, oder? Nur so werden wir klüger, nur so haben wir eine Chance, unsere Ziele zu erreichen!
Tatsächlich stellen Gesellschaften wie auch Menschen sehr spezielle Regeln bezüglich der Wahrheit auf: was bei Androhung von Strafe für die Wahrheit gehalten werden muss, und welche Wahrheit nicht ausgesprochen werden darf.
Es gibt »Wahrheiten«, die für wahr zu halten vom Staat befohlen wird. Und es gibt Wahrheiten, die dürfen bei Androhung von Strafe nicht ausgesprochen werden.
Wir erleben heute aber immer wieder, dass die Propaganda Unwahrheiten verbreitet, die nicht mehr darauf abzielen, für Wahrheiten gehalten zu werden.
Derart krasse Weise
Aktuell werden in den sozialen Medien die Plakate der Jugendpflege Bürgen diskutiert, die grabschende Schwimmbadbesucher vom Grabschen abhalten sollen (nius.de, 02.07.2025). Die Aufregung dreht sich um die Illustration: Eine dickliche, bleiche und rothaarige Dame grapscht einem kleineren, braunhäutigen und beinamputierten Jungen an den Hintern. Das ist auf derart krasse Weise eine Umkehrung der täglichen Realität in Freibädern, dass es als extra dreiste Lüge bewertet wird.
Auf X zitiert Henning Rosenbusch dazu aktuell:
> Dieses ständige Lügen zielt nicht darauf ab, dass die Menschen eine Lüge glauben, sondern darauf, dass niemand mehr etwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, kann auch nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden. (Hannah Arendt, nach @rosenbusch_, 02.07.2025)
Wie ich in »Relevante Strukturen« aufzeige, setzt Moral auf das Bewusstsein für Strukturen, die als relevant empfunden werden, und zudem auf das Wissen, wie Veränderungen diese Strukturen stärken oder schwächen werden. Moral braucht Wissen und Wahrheit. Zerstöre den Begriff von Wahrheit, und du zerstörst bereits die Möglichkeit zur Moral.
Welche Wahrheit benötigen wir aber heute, um ganz persönlich eine valide Moral zu formen?
In der Bahn
Ich fühle mich heute immer wieder an jenes Gespräch mit dem Studienkollegen erinnert und an dessen Aussage, dass er die Wahrheit für sich behalten würde.
Damals deutete ich seine Antwort als Aufforderung zur Selbstkritik. Wer meint, »die Wahrheit« zu kennen, sollte bedenken, wie viele Menschen vor ihm Ähnliches meinten und doch, wie sich früher oder später herausstellte, darin irrten.
Eine solche Warnung ist noch immer richtig, doch heute komme ich zu einem weiteren Schluss einer weiteren Begründung fürs Schweigen.
Einige würden heute womöglich schweigen, weil sie Familie haben oder eine andere Verantwortung tragen, und weil sie es nicht darauf ankommen lassen wollen, von den Institutionen des »Unsere Demokratie«-Staates für das Aussprechen der Wahrheit verfolgt und vernichtet zu werden.
Es ist eine Form von Wahrheit, zu erkennen, dass eine bestimmte allgemein als wahr betrachtete Aussage grob unwahr ist. Ja, eigentlich ist die Widerlegung die sicherste aller Wahrheiten.
Ich würde heute womöglich aus einem weiteren Grund schweigen, und dieser Grund wäre die seelische Erschütterung.
Gegen das Abschütteln
Wenn ich heute die Wahrheit wüsste, würde ich wohl zunächst in Schock erstarrt schweigen, wenn und weil diese Wahrheit aus der Erkenntnis bestünde, in welchen Angelegenheiten du und ich schon als Kinder angelogen wurden.
Das Weltbild von Linken ist auf Lügen gebaut, so sagen wir hier, und das ist richtig. Leider gehört zur Wahrheit auch: Auch viele, die sich heute rechts nennen, wurden von linken Lehrern erzogen oder von Lehrern, die selbst linke Lehrer hatten, und so nahmen sie unschuldig Unwahrheiten in ihr Weltbild auf.
Das Abschütteln der Lügen, die uns von kleinauf beigebracht wurden, nennt man heute »rechts sein«. Je mehr Lügen du ablegst und je größer die Lügen sind, die du ablegst, desto mehr giltst du als »rechts«. Der Kampf des Propagandastaates gegen Rechts ist ein Kampf gegen das Abschütteln der neuen und alten Lügen.
Ja, so würde ich es heute womöglich wohl begründen, warum ich die Wahrheit doch nicht sagen würde, wenn ich sie wüsste. (Und es bliebe weiterhin ratsam, die Wahrheit nicht auszusprechen, wenn es möglich ist, dass man sich geirrt haben könnte und einer bösen Blamage entgehen will.)
Wenn ich die Wahrheit wüsste, oder wenn ich die Unwahrheit einiger »Wahrheiten« unserer Schulzeit erkannt hätte, würde ich es vermutlich nicht sofort laut sagen.
Aber es würde Anzeichen geben.